Bücherrotation
Dieser beängstigende Bücherbau zu Babel taumelt derzeit auf meinem Nachttisch wie ein zu schnell in die Höhe wachsender schiefer Turm von Pisa. Manchmal frage ich mich schon, wer da rotiert, der im Bett lesende Besitzer oder die Bücher. Vollkommen merkwürdig finde ich auch die Tendenz, die er gleichsam den Schuldenbergen Europas abgeguckt hat, immer größer zu werden. Das lässt auf ein System schließen, dass sich der Gier, der Maßlosigkeit und des Überflusses verschrieben hat. Und in der unmittelbaren Nähe dazu soll ich ruhig schlafen? Ja, bin vielleicht ich selbst die Ursache? Ist es nicht egal, ob man Bücher oder Geld oder Schulden aufeinander türmt. Wer ist nun schuld, ich, der Banker, der Zocker, der Spekulant, der Profitgeier oder das System, dass wir alle immer mehr wollen, als wir bereits haben? Muss dann nicht das System selbst geändert werden? Oder sind wir etwa alle das System? Ich glaube, ich stelle soviel Fragen, weil ich keine Antwort weiß.
Oder doch? Wer mehr als tausend Bücher hat, muss erst selbst eines schreiben, sonst darf er nicht mehr weiter lesen. Die Bücher müssen ab einer bestimmten Grenze einfach kostenlos rotieren. In Bibliotheken geht das, in der Wirtschaft leider nicht. Warum muss überhaupt jemand daran verdienen, dass der eine weniger Geld hat als der andere, Entschuldigung, meine Naivität, ich verstehe ja nicht viel davon, das nennt man Finanzwirtschaft, da gibt es Zinsen und die sind auf keinen Fall für alle gleich. Apropos Gleichheit, Pustekuchen, Gleichheit steht auf dem Papier, aber dieses Postulat ist dasselbe nicht wert. Da muss ich Ihnen noch eine kleine Geschichte erzählen. Also, wir sind am Tresen einer Arztpraxis, ich brauchte einen neuen Termin für eine Sonographie als Verlaufskontrolle in einem halben Jahr. Ich hatte schon einen anderen ärztlichen Gesprächstermin am frühen Morgen des geplanten Tages.
“Wäre Ihnen mittags um 1 Uhr recht, Herr H.?”
“Ginge es auch etwas früher, ich habe schon einen Termin um acht Uhr früh?”
“Ich kann Ihnen ausnahmsweise noch 11 Uhr anbieten.”
“Na gut, warte ich eben ein bisschen…”
“Ach, ich sehe gerade, Sie sind ja Privatpatient, dann geht es auch gleich um neun.”
Wo kämen wir denn hin, wenn wir alle gleich wären? Haben das nicht die Franzosen schon vor mehr als zweihundert Jahren gefordert. Na, zugegeben, unser System mag ein bisschen freier, ein bisschen gleicher geworden sein, brüderlicher ist es auf keinen Fall. Das Rotieren oder Zirkulieren von Büchern mit dem Geldkreislauf zu vergleichen, kapitaler(!) Unsinn. Auch für Bücher braucht man erst mal Geld, das Bezahlungsmittel ist also die Grundlage unserer Gesellschaft und nicht etwa das, was in Büchern stehen könnte, außer dem Saldo selbstverständlich.
Natürlich kann ich an Deinem Stapel nicht vorübergehen ohne genauer hinzusehen, was sich da im Bücherturm verbirgt, lieber Dietmar.
Drei Bücher stachen mir fast zeitgleich ins Auge.
Zu allererst Rayuela:
Nanu, hast Du das nicht längstens ausgelesen!? Dereinst… unvorstellbar… bald schon wieder zwei Jahre her, als wir das „gemeinsam“ gelesen. Liegt es also immer noch oder wieder da?
Dann Borges` 25. August 1983.
Enthält es nicht jenes berühmte Gedankenmodell Borges „über die Bibliothek von Babel“? Falls ja, dann wäre es vielleicht angemessen, vor allem an diesen verregneten, kalten Juli-Nachmittagen damit das Lesen zu beginnen oder fortzusetzen!?
Schließlich die leichte Sommerlektüre schlechthin, für den August, schlage ich vor:
„So zärtlich war Suleyken“ –
einfach herrlich auf der Sommerterrasse, im Liegestuhl unter Schatten spendenden Bäumen oder im kühlen Grund des sommerlichen Gartens zu lesen. Es vermittelt einen wunderbaren Einblick in die „masurische Seele“, der trotz Siegfried Lenz` Leichtigkeit der Schreibe tiefsinnig gründet.
Auch der dicke blaue Buchrücken zog meinen Blick an,
doch trotz 200-facher Vergrößerung gelang es mir nicht, Titel und Autor zu entziffern, dafür spiegelte der durchsichtige Schutzumschlag zu sehr.
Tja, manchmal sollte der Tag eben 40 und nicht 24 Stunden haben, dann kämst Du gewiss auch durch Deine Bücher. Mir kippte kürzlich ein ganzer Stapel [der allerdings dreimal so hoch gestapelt war] um; dabei kamen Bücher zum Vorschein, von denen ich gar nicht wußte, dass ich sie habe ;-)
Insofern könntest Du Deinem Bücher-Turm ja auch einen sanften Stoß verpassen,
abwartend, in welcher Folge er sich neu sortiert und das zu oberst oder vorderst liegende Buch als nächste Lektüre aus[er]wählen.
HERZlich Teresa :-)
Hallo liebe Teresa,
mit leichtem Erstaunen blicke ich auf deinen netten Kommentar, kommt er doch aus einem gewissermaßen zwischen uns entstandenen Funkloch, dass seinen Ursprung wohl mehr meinen Vorbehalten gegenüber sich nicht zu erkennen gebenden pseudonymen Anonymitäten hat. Aber so ganz ernst nehme ich es mit meinem mir selbst auferlegten Kunstfigurenschweigegelübde nun doch nicht. Also auch wenn Teresa vielleicht der Weihnachtsmann ist oder die Göttin Aphrodite persönlich, eine Antwort hat sie verdient. So habe ich mich eben gerade drei Meter in meinem Zimmer zu dem Bücherstapel aufgemacht, (bin also nicht einmal wie ein Xavier um mein ganzes Zimmer gereist), habe ihn in seiner Gänze neben mir auf den Schreibtisch gelegt und versuche mir jetzt also selbst noch einmal den Bücherrückendurchblick zu verschaffen. Einiges hast du schon genannt und völlig richtig eingeordnet. Im grunde könnten auf dem Nachttisch auch beliebige andere 14 Bände liegen, denn fertig bin ich mit meinen Büchern, ob durchgelesen, angelesen, angeknabbert oder den Würmern hinterher gekrochen nie. Also zur Identifikation kurz alle Titel mit der entsprechenden aufrichtigen Prozentzahl des Lesefortschrittes:
Ganz oben liegt das Etui meines randlosen Nasenokulars, ohne das mein Erkenntnisstand bereits an der Sehschärfe scheitern würde. Darunter hat sich ein kleines Bibliotheksexemplar von Ingeborg Bachmann: Frankfurter Vorlesungen versteckt, 50 %, bin bei „Das schreibende Ich“, alles sehr zu empfehlen, wenn mann/frau selber schreibt. Darunter kommt das große romantische Blau des ANH mit seinem Wolpertinger, 10 %, gerade nur angelesen, aber Goldemar Marduk kenne ich bereits. Eine Etage darunter der schon erwähnte Borges, in dem tatsächlich die erste Erzählung „Die Bibliothek von Babel“ ist, selbstverständlich gelesen, stecke im Interview-Teil, also 80 %. Die Titelgeschichte ist übrigens auch sehr zu empfehlen, eigentlich alles. Darunter verbirgt sich Umberto Eco mit „Die Kunst des Bücherliebens“, konnte ich bereits vorher ohne ihn, etwas trocken, deshalb bisher nur 50 %. Charles Dickens „Große Erwartungen“ war ein Büchergilde-Kauf, Pim hat sich schon vorgestellt, aber leider auch erst mit 20 %. Mircea Cartarescu, das sieht man unschwer an heraushängenden Zetteln habe ich auch erst 50 % erklommen, beziehungsweise bin dem Schmetterling seiner Mutter hinterhergeflogen. Vögel sind wir ja alle, meinte Bolaño, schräg oder auch nicht. Darunter kommt konventioneller Erzählstoff, Daphne du Maurier, vor allem wegen zweier Erzählungen darin, „Die Vögel“ und „Dreh dich nicht um“, s. a. Spielfilm von Nicolas Roeg . Dann der Lenz, auch ein Erzählungsband, den ich noch nicht ganz durch habe, 40 %. Dann kommt Christa Wolfs „Kassandra“, quergelesen und als ziemlich anspruchsvoll empfunden. Dann gibt es die kleinen Bändchen „Les Fleurs du mal“ deutsch und französisch, viele Gedichte immer wieder gelesen, aber sicher auch noch nicht alle. Dann kommt der „gemeinsame Rayuela-Julio“, ja ein bißchen verschämt gestehe ich, immer noch in der Mitte zu stecken, man steckt ja immer irgenwie mittendrin und so ist das auch bei meinen Büchern. Dann liegt da ein altes Wagenbach-Taschenbuch von 1992 von Horst Günther „Das Bücherlesebuch“. Schon damals konnte man sich damit einen Überblick verschaffen, was man so lierarisch verkosten sollte und wußte gleichzeitig, dass ein Leben dafür wahrscheinlich nicht ausreicht. Dann kommt ein Roman von Alain de Botton, auf den ich neugierig wurde durch die Lektüre von „Wie Proust ihr Leben verändern kann“, das ich begeistert ganz las, auch wenn der Link auf meinen kurzen Beitrag dazu gerade nicht funktioniert, ich arbeite dran, der Roman aber, also Isabel, was für ein wohlklingender Name, verharrt bisher auch im Angelesensein. So nun bin ich durch, zumindest durch diese Aufzählung.
Was das blaue dicke angeht, denke ich gerade, dass sich nicht nur Bücher manchmal mit blendenden Schutzumschlägen vor ihrer Entdeckung schützen. Es sei ihnen vergönnt, denn auch Verstecke haben ihre notwendige Ursache.
Salut, chère Teresa
Dietmar (real name)
Dacht` ich mir schon, dass im Innern des blauen Einbands ein interessantes Buch wie der „Wolpertinger“ steckt. Manchmal wäre es ohnehin besser, man würde den Titel eines Buches nicht kennen, sondern lese es. Einfach, weil einen der Umschlag, die Aufmachung oder eine Seite darin anspricht. Gewiss würden viele Leser „ihrem“ Buch einen ganz anderen Titel wie sein Autor geben.
Was das „Funkloch“ anbelangt, entsteht solches ja nur, wenn der Sender den Empfänger nicht erreicht. Mangelndes Sendebewusstsein liegt bei uns Beiden gewiss nicht vor ;-)
A bientôt Teresa :-)