Sechs Steine, sechs Wörter und eine Postkarte

Hoelderlin_0003Der Frühling ließ auf sich warten, stattdessen fielen die Temperaturen und es gab bitteren Frost. Der eisige Ostwind wehte eine Woche vor Ostern die aufgehängten farbenfrohen Ostereier in klirrender Kälte wieder von den Sträuchern. In einer Zeitschrift, die von Gartenfestivals handelte, stieß er durch Zufall auf ein Preisausschreiben, das ein Wellness-Wochenende ausgerechnet an dem Ort zum Gewinn hatte, wo er vor Jahren für mehr als zehn Wochen eine Rehabilitationsmaßnahme durchgeführt hatte. Man sollte einen kurzen Text schreiben, der begründete, warum man glaubte, den Preis unbedingt gewinnen zu müssen. Das konnten sie haben, dachte er plötzlich unerwartet von sich selbst überzeugt und schrieb seinen Text in nicht einmal fünf Minuten auf den erstbesten, herumliegenden Zettel:

Es ist schon etwas Besonderes, ein zweites Leben geschenkt zu bekommen. Vor vier Jahren erhielt ich eine neue Leber. Das wichtigste nach einer von Komplikationen begleiteten OP aber ist die anschließende Reha, die ich in Bad D. verbringen durfte. Nach ausgezeichneter Betreuung und unermüdlichem Mobilitätstraining konnte ich auch wieder Gartenfreuden genießen. Mein erster, etwas weiterer Spaziergang führte mich in den Park und an den Hölderlinsteinen vorbei, die ich abschritt. “Was bleibet aber, stiften die Dichter” stand dort in Stein gemeißelt. Seit damals sind Gärten mit ihren Blumen, Wiesen und Bäumen nicht nur Natur, in ihnen verbirgt sich für mich auch der neue Atem des Lebens. Den möchte ich dort gern wieder spüren.

Er schrieb seine Adresse in dem Bewusstsein auf die Postkarte, dass damit eigentlich nur noch er gewinnen konnte. Doch ein leichter Zweifel blieb, als er sie in den Briefkasten warf, ob diese Selbstsicherheit nicht gleichzeitig auch einen kleinen Frevel behielt.

Nun aber sind zu Indiern
Die Männer gegangen.
Dort an der luftigen Spitz
An Traubenbergen, wo herab
Die Dordogne kommt,
Und zusammen mit der prächtigen
Garonne meerbreit
Ausgehet der Strom. Es nehmet aber
Und gibt Gedächtnis die See,
Und die Lieb auch heftet fleißig die Augen,
Was bleibet aber, stiften die Dichter.

(Hölderlin: Andenken)

Später sah er überraschenderweise in einer Talkshow den Schriftsteller Dieter Wellershoff, der mit 87 Jahren von seinen Kriegserlebnissen in der Panzerdivision Hermann Göring berichtete und von der Ambivalenz Hölderlins sprach, von seinem auch vorhandenen patriotischen Pathos. Dass normale Menschen, die Gedichte lasen, durchaus in der Lage waren, die Kriegsgräuel des Zweiten Weltkriegs zu begehen. Da dachte er an das schmale Reclamheftchen von 1943, das mit seinen nicht einmal zwanzig Seiten vergilbt und schon ziemlich zerfleddert in einer Hölderlin-Werkausgabe steckte. Welcher Offizier damals möglicherweise Reclams Reihenbändchen Nr. 1 mit seiner Schuld zusammen in der Tasche getragen haben mochte. Dann dachte er aber lieber an die Bücher, die er von Wellershoff gelesen hatte, Die Schönheit des Schimpansen, Der Körper und die Träume, Der Liebeswunsch und zuletzt Der Himmel ist kein Ort.

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