Im Labyrinth von Schriftstellernamen und einem zuckersüßen Salon
Als ich vor einiger Zeit in den kleinen Literaturkalendern des Reclam Verlages blätterte, die seit 1955 erscheinen und damit ein Jahr jünger sind als ich selbst, stieß ich im Kalendarium auch auf Schriftstellernamen, die ich noch nicht kannte. V.S. Pritchett war ein solcher, der mich aber an V.S. Naipaul denken ließ und dann überhaupt an diese Besonderheit der doppelten englischen Vornamen, die sich beliebig erweitern lassen, man denke nur an D.H. Lawrence. Wir bevorzugen andere Namenskonventionen in Deutschland, bei denen höchstens Doppelvornamen ähnlich klingen. Ich denke gerade an Hans Werner Richter oder Rainer Maria Rilke, aber kennen sie etwa H.W. Richter oder R.M. Rilke? Keine Regel ohne Ausnahme, gerade erinnere ich E.A. Richter. Nun zog ich also den Brockhaus Literatur aus dem Regal und schlug Pritchett nach, um sogleich bei J.B. Priestley zu landen. Irgendetwas ließ mich noch eine Seite weiter blättern, und schon war ich wieder mal beim altbekannten Proust gelandet. Ich entdeckte das obige Foto, das mir nicht nur wegen des Interieurs eines Bibliothekszimmers gefiel, sondern auch im Anblick dieser beiden gut gekleideten Damen begründet lag, die fragend unter ihren wie selbstverständlich in Innenräumen getragenen Hüten ein unbekanntes Gegenüber anschauten. Endlich einmal Gesichter anstatt Rücken, Rücken und wieder Rücken und nicht nur geheimnisvolle Blicke ins Leere. Das Brockhaus-Foto stellt eine Freundin Prousts mit ihrer Tochter dar, die Schauspielerin Louisa de Mornand, laut Proust-Biograph Tadié ein Vorbild für die Rachel in der Recherche.
Bei Tadié las ich dann über die Dreiecksbeziehungen Prousts zu heterosexuellen Paaren, in denen er die Eifersucht und damit die Gefühle des begehrten Mannes für sich selbst wecken wollte, indem er sich freundschaftlich und platonisch dessen Geliebter näherte. Plötzlich kam mir eine merkwürdige Parallele in den Sinn. Sie hatte ihren Ursprung in dem Begriff “Salon”, in denen Proust zu seinen gesellschaftlichen Glanzzeiten mehr als häufig verkehrte. Vor einem Jahr schrieb ich etwas über das mittlere, fünfzehnte Kapitel aus “Das Geräusch des Werdens” von Aléa Torik (Claus Heck). Ich las meinen damaligen Beitrag noch einmal, den ich parallel zu der Lektüre verfasst hatte und noch ohne Wissen davon, dass es sich bei der Autorin um einen Mann handelte, der nur seine erfundene Romanfigur als sein Alter Ego zum Verfasser stilisierte. Wie verwundert man doch ist, wenn man dann das Buch erneut aufschlägt und das Kapitel noch einmal zu lesen beginnt. Ich will hier keine Rechnung begleichen, was den Blog der Kunstfigur angeht, das ist für mich eine andere Ebene, auf der der Autor selbst sich leider allzu oft mit seiner Romanfigur verwechselt. Nein, ich las ihn wie damals als sprachliches Experiment und machte mir wieder Gedanken über die Perspektive des geheimen Erzählers, über die Sprache und die Erzählstruktur. Zunächst konstatierte ich, dass der Regen als Symbol der Melancholie, den Anfang und den Schluss bildet, das Kapitel sozusagen einschließt. Dann bemerkte ich, wie der wasserfallartig hervorsprudelnde Erzählfluss der endlosen Aufzählungen Cluster bildet, die bestimmte Teile der Stadt Berlin zu Gruppen ordnen, die durch assoziative und den Sprachklang bevorzugende Aneinanderreihungen ihren Erzählzusammenhang behaupten. Immer wieder einmal unterbrochen werden diese Wortkaskaden durch die Einblendung einer Filmszene, wo gerade ein Liebespaar im Regen abgedreht wird. Es treffen also die Elemente der realen Stadt auf das Filmschauspiel als Simulation. Natürlich war die Filmszene, wie schon früher konstatiert, ein wenig vom Cover des Romans “Eine Liebesgeschichte oder so was” von Raymond Federman inspiriert.
Mit meinem neuen Wissen über den Autor hinter der erfundenen Autorin aber öffneten sich mir jetzt Einblicke in die grundsätzliche Erzählhaltung und ich sah Parallelen zu Prousts Blick. Der Erzähler sieht ein heterosexuelles Liebespaar in der Szene und er betrachtet es von außen mit dem traurigen Blick dessen, der sich, so kitschig es auch sein mag, wünscht, er könnte das gleiche Glück genießen wie dieses Paar, aber ihn trennt vielleicht seine sexuelle Präferenz und so verschiebt er seine unterbewussten Wünsche in ein simulatives Geschehen, wie Proust seine real männlichen Figuren Gilbert zu Gilberte und Albert zu Albertine transponierte. Er bildet ein zwar kitschiges Ideal ab, dass man auch in homosexuellen Beziehungen oft aufrecht zu erhalten sucht, aber die Sehnsucht nach dem Glück macht keinen Unterschied bei der Art des geschlechtlichen Begehrens. Die Psychologie der Liebe benötigt die Eindeutigkeit der Geschlechtszuschreibung solange nicht, bis sie glaubt, sich im körperlichen Akt wiederfinden zu müssen. Hier versucht jemand ein Glück zu beschreiben, dass er selbst noch nicht gefunden, aber vielleicht zu finden hofft oder einmal verloren hat. Nicht umsonst trägt dieses Kapitel den Titel “Der Salon Sucre”. Dass es tatsächlich auch eine “Zuckerbäckerei” mit diesem Namen und dem passenden französischen Konditor in Berlin gibt, spielt insofern keine Rolle, weil die Titelbezeichnung hier einen anderen Sinn evoziert. Nämlich den der Zuckersüße von Liebe überhaupt. In diesem grundsätzlichen Begehren sind wir alle kitschig, wir müssen es sogar sein, sonst käme dabei “so was” wie eine rationale Liebe heraus, die sich ihren Erfolg oder Misserfolg bereits im Voraus berechnen will. Das ist eine Bedingung, die der romantischen Liebe diametral entgegensteht und nur in früheren Epochen als Zweckehe historisch gesellschaftlich verbreitet war. Das Wort “Salon”, dieser spezifische Treffpunkt einer gehobenen Gesellschaft, in der man sich am Ende der Belle Epoque kulturell austauschte, genügte allein als Auslöser für meine Gedankengänge. Auch die kleine Fotografie von Louisa de Mornand mag schuld sein, dass sich bei mir diese Schlussfolgerungen ergaben. Sie war mit Marcel eng befreundet, er verehrte die Schauspielerin sogar, wirklich begehrt hat er jedoch ihren Geliebten. Das mittlere Kapitel fällt insofern aus dem Roman “Das Geräusch des Werdens” heraus, als hier kein personalisiertes Erzählen aus der Point-of- view-Perspektive vorliegt. Es ist ein wenig so, als wäre der Autor hinter der fiktiven Autorin in Versuchung geraten, seine Maske für einen kurzen Moment, aber wiederum möglichst unbemerkt, abzunehmen. Er versteckt das Paar, um das es ihm eigentlich geht, das Glück, das wir alle suchen und oft nur in der simulierten Welt des Films mit vollgeweinten Taschentüchern nachempfinden oder überhaupt nur noch dort finden, in den disparaten Bestandteilen der Stadt Berlin. Die hat in ihrer Fülle vielleicht oft alles, um uns von dem eigentlichen Wunsch unserer Existenz abzuhalten: den der Liebe, zwischen wem auch immer. Nun ist der Autor Claus Heck mit seiner unsichtbaren schriftstellernden Begleiterin Aléa Torik selbst in einem kurzen Film zu sehen und ich frage mich, ob es wirklich nötig war, sich die ganze Zeit nur wegen der wenigen Haare auf dem Kopf zu verstecken. Vielleicht hätten wir ihn auch von Anfang an besser verstanden, wären sie doch beide sichtbar gewesen, wie das gefilmte Paar im fünfzehnten Kapitel.