“Clara” oder das Zittern der Stille
Jeder kennt die Situation: auf den Fußboden hat man sich gesetzt, die alte Blechdose vom Dachboden steht vor den Knien. Ein Stapel zerknitterter Fotos gleitet einem farbig lädiert oder schwarzweiß verblichen durch die Hände. Damals heißt das Zauberwort. Auch dieses Weblog hatte einmal einen sehr bescheidenen Anfang auf einer Blogplattform, die nicht lange existierte. Nur noch eine PDF-Datei zeugt von meinen Kurzkritiken 2009, als ich weiterlebend glaubte, die Welt mit meinen Literaturempfehlungen beglücken zu müssen. Zu drei Kurzgeschichten aus Telefongespräche von Roberto Bolaño schrieb ich solche Kurzkritiken. Manchmal ist es so, wenn über die eigene Schulter ein Blick in die Vergangenheit geworfen wird, findet man immer noch Gefallen am einmal Geschriebenen. Auch wenn manches so ganz aus der Illusion und noch ohne Verwundbarkeiten daher kam. So also heute der Blick zurück ohne Zorn auf die Clara-Interpretation. Dabei erscheint mir im Rückblick Bolaño wie eine Art männlich erzählerischer Gegenpart zur Erzählperspektive Alice Munros. Der Gesamttitel dieser Erzählanthologie, Telefongespräche, kennzeichnet eigentlich schon eine korrumpierte, eingeschränkte Kommunikationssituation, wie sie sich in den Kommentarsträngen der Weblogs heute fortsetzt. Allerdings hören wir dort nicht einmal mehr eine Stimme, alles verstummt vor dem Zeichen und übrig bleibt am Ende nur das Zittern der Stille:
Der mittellose Erzähler verliebt sich als junger Mann in eine hübsche, 18jährige, spanische Studentin der Musik und Malerei, die in Barcelona Urlaub macht, „die Frau seines Lebens” (S. 169). Nach ihrem Urlaub reist sie in ihre südspanische Heimatstadt zurück, und da ihr Interesse an ihren Studien nicht allzu groß ist, nimmt sie an einem Schönheitswettbewerb teil, in dem sie nur einen für sie enttäuschenden zweiten Platz erringt. Um ihr in ihrer Depression zu helfen, aber auch um seine eigenen Gefühle zu klären, reist er ihr nach. Einen Monat lang führen sie eine recht glückliche Beziehung, die er mit ihr in Barcelona fortsetzen möchte, sie aber lehnt ab, weil der Vorschlag, in Barcelona zusammen zu leben, sie unter Druck setzt. Die Beziehung geht mit zunächst emotionalen, später vernünftigeren Telefongesprächen zu Ende.
Clara hat psychische Probleme, träumt von Ratten und heiratet kurz nach der Trennung vom Erzähler einen gewalttätigen Mann, von dem sie sich nach ein- oder zweijähriger Ehe wieder scheiden lässt. Sie probiert sich in unterschiedlichen Berufsausbildungen, ohne Beziehung aber kommen die psychosomatischen Krankheiten zurück. Sie lernt einen gebildeten Angestellten kennen, wird seine Geliebte, erlernt einen bürgerlichen Beruf. Die Beziehung bleibt kinderlos. Sie begeht einen Seitensprung, Luis verlässt sie und ihre Depressionen muss sie psychiatrisch behandeln lassen. Während dieser Zeit schläft sie mit einigen Männern, auch wieder mit dem Erzähler, der sie als stark suizidgefährdet empfindet. Er verlässt sie jedoch und erfährt nur in Telefongesprächen etwas über Claras weiteren Lebensweg. Ihre psychische Erkrankung stabilisiert sich, sie verändert sich beruflich und heiratet in zweiter Ehe einen ihrer neugewonnenen Freunde.
Mit inzwischen 35 bekommt sie ein Kind von Paco. Der Erzähler hat ein letztes desillusionierendes Treffen mit ihr. Sie ist dick geworden, ihr Lächeln verhärtet. Sie trinken kurz einen Kaffee zusammen und sehen sich nie wieder. Bei den noch gelegentlich stattfindenden Telefongesprächen gesteht Clara dem Erzähler, dass sie Krebs hat. Vor einer Operation verschwindet sie spurlos und begeht Selbstmord. Die letzten Gespräche waren eisig, beim Erzähler beginnt ein unaufhaltsamer Prozess des Vergessens.
INTERPRETATION
Der Erzähler in „Clara” fühlt sich schuldig gegenüber der früheren Geliebten. Am Anfang war es die große Liebe, am Ende ist man zu sprachlosen Fremden geworden, deren Kälte man spürt. Auch was einst sexuell reizvoll erschien, hat sich geändert. Clara hatte große Brüste, jetzt träumt der Erzähler von schlanken Frauen mit kleinen Brüsten. Auf zwölf Seiten gelingt es Bolaño eine Atmosphäre der Vergeblichkeit und des Scheiterns zu erzeugen. Aus dem freien, künstlerisch begabten Mädchen wird eine normale, bürgerliche Frau mit Kind und Scheidung, die auch noch an Brustkrebs erkrankt. Die Distanz zwischen Autor und Ich-Erzähler ist hier noch bei weitem nicht so groß wie in „2666”, wo sich das Alter Ego des Autors auf mehrere, wenn nicht auf alle Figuren verteilt. Hier ist Bolaño hinter Belano, wie sich der Ich-Erzähler des Öfteren nennt, noch klar zu erkennen.
Autobiographisches findet sich nicht nur in dem Ort des Geschehens: Barcelona. Der Ich-Erzähler hat wie Clara und Bolaño einen Sohn. Die wirkliche Clara aus der Biographie Bolaños ist literarisch gesehen uninteressant, ich bin für eine werkimmanente Interpretation, gerade weil Journalismus, bisweilen auch die Literaturkritik, gern mal in „schmutziger Wäsche” badet.
Menschen vergessen ihre früheren Geliebten, sie sind Menschen, sie müssen vergessen. Ständig löscht das Leben ganze Bereiche unseres Gedächtnisses, um Platz für Neues zu schaffen. Aber wir träumen von einer Zeit, in der unsere Sehnsucht das Glück hatte, den fehlenden, zweiten Teil von uns in einer anderen Person zu finden. Aber dann macht uns das Leben wieder zu Fremden und es bleibt nur ein dunkles Gefühl, uns in irgendeiner Weise schuldig gemacht zu haben.
Die Bemerkung über die „Hämorrhoidenoperation” vor der Hochzeitsnacht nimmt wohl ein bisschen die „Feuchtgebiete” von Charlotte Roche (nicht gelesen) vorweg und enthüllt die sexuell analen Phantasien des Erzählers. In den lateinamerikanischen Ländern herrscht der männlich, katholische Blick auf die Frauen: Jungfrau oder Hure, Mutter oder Lesbe. Die Aggressivität kriecht aus den Winkeln der eigenen Seele.
Die „Telefongespräche” (S. 177) sind eine Metapher für die Unfähigkeit der Menschen, wirklich miteinander kommunizieren zu können. Wir sind zwar „alle” (S. 180) durch Röhren miteinander verbunden, wirkliches Verständnis aber ist unmöglich und bleibt Utopie. Das Individuum ist als einsames Ich in sich selbst gefangen. Der Ausweg ist eine Empathie, die uns überfordern und verrückt werden ließe, die wir aber ahnen, nach der wir suchen und von der wir träumen dürfen. Doch das Leben wird uns immer schuldig zurücklassen. Aus dem Jahr „2666” gesehen sind wir alle schuldig Zurückgelassene, und wie Clara oder die weiblichen Opfer von Santa Teresa tot.
Eines kann man Bolaño nicht vorwerfen, „die Unbeteiligtheit eines schlechten Erzählers” (S. 178). Die Erzählung ist eher das Resultat einer Kapitulation vor der eigenen Schuld, der hilflose, aber literarisch gelungene Versuch einer Wiedergutmachung. Der Film „Babel” handelt auch von der Sprachverwirrung, der Hilflosigkeit, dem Missverstehen und der Schuld des Menschen. Ich schreibe diesen Beitrag in der Hoffnung, am anderen Ende des Telefons verstanden zu werden. Bolaño dagegen beschreibt den Moment des Schweigens, in dem wir uns nichts mehr zu sagen haben und doch hören wir selbst in diesem lautlosen Nichts etwas wie das Zittern der Stille.
ZITATE
„Wir verabschiedeten uns schon am Bahnhofseingang, und ich sah sie nie wieder ― (S. 177)
„ (ich war letztlich nur ein Fremder) ― (S. 172)
„Vor ihrem Tod führten wir allerdings eine Reihe von Telefongesprächen.”
„eine Familie, so abstrakt wie ein kubistisches Gedicht,―” (S. 177)
„Eines Nachts träumte ich von einem Engel.
… und sein Blick, ein feuriger Blick, schleuderte mich quer über den Tresen.― “(S. 169)
„sie als eine arme, verängstigte Frau von vierzig Jahren zurückließ.― (S. 181)
Ein Tchechow-Zitat ist dem Erzählband vorangestellt:
“Wer könnte mein Entsetzen besser verstehen als Sie!”