“Enrique Martin” oder Der Dichter, seine Konkurrenz und sein Leiden
“Last evenings on earth” nach der gleichnamigen Erzählung war der Gesamttitel eines amerikanischen Erzählbandes, der 2006 mit insgesamt 19 übersetzten Kurzgeschichten aus den spanischen Bänden “Llamadas telefonicas” und “Putas asesinas” erschien. Der englische Wikipedia-Eintrag einer Bolaño-Bibliographie listet über 50 Erzählungen auf, von denen mir ca. die Hälfte noch nicht ins Deutsche übersetzt scheinen. Die Erzählung “Enrique Martin” aus “Llamadas telefonicas” war auch in dieser englischsprachigen Ausgabe enthalten. Englischsprachige Übersetzungen findet man dagegen vereinzelt frei zugänglich im “The New Yorker”, wie etwa diese oder auch hier. Der Titel schien mir irgendwie zum Versuch des fiktiven Schriftstellers Enrique Martin zu passen, ein Science-Fiction-Magazin herauszugeben, nachdem das literarische kläglich scheiterte. Allerdings wird es auch für ihn einen letzten Abend auf der Erde geben, denn er scheitert nicht nur mit seinen literarischen Bemühungen und Gedichten, sondern mit dem Leben selbst, das mit seinem Selbstmord endet. “Enrique Martin” war die dritte und letzte Erzählung, die ich 2009 sehr zeitnah zur Lektüre besprochen habe und die ich jetzt noch einmal leicht überarbeitet wieder veröffentliche.
INHALT
Der 22jährige, chilenische Schriftsteller Arturo Belano, der Ich-Erzähler, lernt mit 22 Jahren in Barcelona den spanischen Schriftsteller Enrique Martin kennen. Er betrachtet ihn als zweitrangigen Dichter, der schlechte Lyrik schreibt und es nur schafft, eine einzige Ausgabe des literarischen „fanzine“ „Blanker Strick“ herauszugeben. Belanos Stolz wird verletzt, weil Enrique Martin seine Gedichte nicht in dieser ersten Ausgabe des neuen Literaturmagazins veröffentlichen will. Man verliert sich zunächst aus den Augen und bei einem erneuten Treffen vermeidet er, dem Schriftstellerkollegen seine wahre, abschätzige Meinung über dessen Arbeit zu sagen. Enrique Martin lädt den Erzähler und seine mexikanische Freundin, sowie seine eigene Lebensgefährtin in ein Restaurant ein. Der Erzähler ist entsetzt über eine jetzt von dem Paar betriebene Zeitschrift, die sich mit Parapsychologie und Ufos beschäftigt und auch sprachlich lächerlich schlecht ist. Wieder hört man lange Zeit nichts voneinander, bis der Erzähler merkwürdige Briefe erhält, die in einer kryptischen Zahlenreihe den Ort einer Buchpräsentation beschreiben, zu der der Erzähler gar nicht erschienen ist. Später besucht Enrique Martin den Erzähler Belano und übergibt ihm ein Paket, das er für ihn aufbewahren soll. Enriques Zustand zeigt Anzeichen einer Psychose. Der Erzähler erfährt zwei Jahre später, dass Enrique geschieden ist und mit seiner Exfrau befreundet noch eine Buchhandlung betreibt. Ein weiterer Brief zeugt von der sich verschlechternden Psychose Enrique Martins. Von dessen Selbstmord, er hat sich erhängt, erfährt Belano eher beiläufig. Beim Öffnen des ihm hinterlassenen Pakets, finden sich darin 50 Seiten Gedichte. Der Erzähler schläft schlecht und glaubt fliehen zu müssen.
INTERPRETATION
Schon der erste Satz: „Ein Dichter kann alles ertragen“ (S. 39) birgt Ironie, aber auch fast ein religiöses Postulat, von dem uns Bolaño vielleicht letztlich überzeugen will: alle Schriftsteller seien auf ihre Art Helden. Bolaño widmet diese Erzählung einem spanischen, befreundeten Schriftstellerkollegen, Enrique Vila-Matas, dessen Romane er nach eigenem Bekunden für gut hielt. [1] Vielleicht ist der Titel selbst auch wiederum eine Referenz an den peruanischen Schriftsteller Enrique Congrains Martin, der 2009 starb. Zur vollständigen Verrätselung gibt Bolaño dem wohl doch fiktiven Enrique der Erzählung sein eigenes Geburtsjahr. Das Spiel der Vermischung fiktiver Identitäten mit Anklängen an tatsächliche Autoren ist ein gut bekanntes, integrales Bestandteil seines ganzen Werkes, ebenso seine eigenen alter Egos wie Belano oder schlicht B.
Selbstironie kennzeichnet dann auch gleich die Beschreibung und Erwähnung des nach Meinung des Ich-Erzählers guten spanischen Lieblingsdichters Enriques Miguel Hernández: “Hernández schreibt über den Schmerz und ausgehend vom Schmerz, und die schlechten Dichter leiden in der Regel wie Tiere im Versuchslabor, vor allem in ihrer langen Jugendzeit.” Humor und manchmal Sarkasmus begleiten das Stochern Bolaños im eigenen Schriftstellermilieu ständig. Eine oft anzutreffende überhebliche Grundhaltung gegenüber vermeintlich schlechteren Schriftstellern schimmert als Bestandteil der Ironisierung und Charakterisierung des Milieus an sich immer durch. Trotz der mitfühlenden Beschreibung des gescheiterten Lebens auch dieses bestenfalls mittelmäßigen Lyrikers, der psychisch erkrankt Selbstmord begeht. Später wird auch “2666” mit einer Art Parodie aus Schriftsteller- und Büchersumpf beginnen, den man sich auch vorlesen lassen kann. Das Verhältnis von Schriftstellern untereinander ist notgedrungen komplex. Es reicht von Neid, Missgunst und offenen Feindschaften bis zur unterwürfigen Verherrlichung. Die Erzählung hier zeigt gerade die Diskrepanz auf, die zwischen den rein menschlichen Beziehungen und dem Habitus als Autor mit seinen Werken selbst besteht. Daraus hervor geht auch bei dem Alter Ego Belano ein wie auch immer entstandenes schlechtes Gewissen. Einen aus seiner Sicht wenig begabten katalanischen Lyriker, der sich auch noch bei einer pseudowissenschaftlichen Zeitschrift sein Brot verdiente und ihn bei der Herausgabe der einzigen Nummer der Literaturzeitschrift „Blanker Strick“ überging, gilt sein Versuch einer posthumen Wiedergutmachung, denn der „Kollege“ begeht Selbstmord, wie man schon unschwer nach zwei Seiten am „prophetischen Titel“ (S. 41) der Zeitschrift ahnen kann. Der Erzähler fühlt sich von diesem Lyriker und gescheiterten Journalisten zwar am Ende verehrt aber auch verfolgt und findet zu seinem Erstaunen keine kryptischen Zahlenspiele eines psychisch Erkrankten, sondern Gedichte in dem Stapel Papiere, den ihm Enrique Martin zur Verwahrung schon früher übergab. Vielleicht auch in der Hoffnung auf eine zu spät kommende Anerkennung durch den bewunderten Erzähler. Das Sujet des Literaturbetriebes birgt auch die Gefahr, den Leser auf Dauer als Beschäftigung mit sich selbst zu langweilen. Wenn aber die Selbstreflexivität und Darstellung der Mechanismen des Literaturbetriebes in der ironischen Verarbeitung so meisterhaft karikiert werden, verzeiht man die ansonsten chronische Selbstüberschätzung der Schreiberzunft. Ja, sie wird selbst Bestandteil der erzählerischen Ironie.
Bolaño hatte eine entschiedene Meinung über den Stellenwert eines Schriftstellers.[2] Schreibt er stilistisch gekonnte Prosa über vermeintlich schlechte Dichter und begibt sich aber bei aller Betroffenheit doch in die Position eines Richters? Das wäre ein Manko der Literatur außerhalb und innerhalb ihrer selbst. Die Ambivalenz eines Schriftstellerlebens ist hier das Thema, und Bolaño wusste sicher selbst, dass der Himmel der Literatur nicht nur schwarz oder weiß ist. Eine Hierarchie bleibt letztlich eine des persönlichen Geschmacks. Aber ich weiß auch, dass dies nicht die Meinung der intellektuell beflissenen Literaturkritik ist. Wer kennt sie nicht, die schleimige Spur der Kritik, die das Herzblut der Schriftsteller in die rationale Welt ihres Literaturverständnisses glaubt transponieren zu müssen. Muss ich allerdings als Leser den amerikanischen Lyriker Frank O´Hara (S. 42) kennen um eine Anspielung in Klammern (der Kommentar in Klammern ist ein erzählerisches Element bei Bolaño) überhaupt zu verstehen? Gedichte sind eher Bestandteil des Frühwerks Bolaños, in seinen Erzählungen meidet er sie. Das Entblößende der Lyrik hat ihm wohl zu viel Gefühl und stört beim narrativen, spielerisch ironischen Versteckspiel. Der Leser soll auf der Fährte bleiben, nicht vom Gefühl überwältigt werden. Man muss neidvoll anerkennen, dass Bolaño dies auf höchstem Niveau gelingt und ich fange an, diese Erzählungen zu lieben, weil man sich so schön an ihnen reiben muss. Selbst der Tod Enriques hält den Erzähler nicht von einem ironischen Urteil über seine Lyrik ab. Enrique schrieb nur „im Stil von Miguel Hernández“. Die Wahrheit des literarischen Horizonts steckt in der Beschreibung des Augenblicks, als beide Schriftsteller merken, dass sie nicht in der Lage sind, ehrlich zueinander zu sein. Ein persönliches Problem, kein literarisches! Das Verhältnis von Schriftstellern zueinander ist oft ein prekäres. Es schwankt zwischen Verletzlichkeiten und der Sucht nach unsterblichem Ruhm. Fiktion und Leben sind eben doch zwei unterschiedliche Dinge. Auch die gekonnte Mischung hebt diesen Widerspruch nicht auf. Ihn zu beschreiben, gelingt Bolaño allerdings immer. Eine meisterlich erzählte Étude, ein Klavierstück über „zweitklassige Revolverhelden“ (s. 40).
ZITATE
„Folglich seien alle Lebewesen des Planeten Erde Exilanten“ (S. 52)
„Die Mexikanerin (die purer Sprengstoff war)“ (S. 44)
„Seine Beharrlichkeit (eine blinde unkritische Beharrlichkeit wie bei den zweitklassigen Revolverhelden, die unter den Kugeln des echten Helden sterben wie die Fliegen, aber in selbstmörderischer Manier ihr Ziel verfolgen) machte ihn letztlich sympathisch, umgab ihn mit einer Art literarischem Heiligenschein, den nur junge Dichter und alte Huren zu schätzen wissen.“
[1] Roberto Bolaño: „Exil im Niemandsland“. Stern in der Ferne S. 138 ff.
[2] Stern in der Ferne. Interview im gleichen Band
Spontan:
Das ist eine der Geschichten, an die ich mich beim Lesen Ihrer Besprechung jetzt sofort gut erinnerte. („Telefongespräche“ war mein erster oder zweiter Bolaño.)
Und von denen ich mich zu erinnern meine, dass ich eben über den Wahrscheinlichkeitsgehalt bzw. den mit der Vermischung von (auch unbekannterweise erahnbar) wirklichen und erfundenen Figuren sich erweiternden Spekulationsraum länger nachgedacht hatte. Ich glaube, ich hatte es so empfunden, dass die Erzählung sich derart ja in mehrere Richtungen hin öffnete, für Bolano wie über ihn, für die Mutmaßungen über die Figuren wie auch insgesamt über die hispanische Literatur. Als ob er sich da quasi nebenbei auch essayistisch versuchen konnte und zugleich die Geschichte weitertreiben. Ich finde so was ziemlich elegant.
(Und ich meine – dies auf dem Hintergrund meiner Leserfahrungen aus dem spanischen Raum, etwa auch in den kollegialen Verweisen in Rayuela und bei Onetti bzw. jetzt in dem Buch Vargas Llosas über Onettis -, dass es da unter den spanischsprachigen Literaten ein leicht anderes Konkurrenzgebaren, eine mehr sportlichere oder offener spottende, „machohafte“ Gewichtungsnuance gibt.)
(Und von wegen Exil. Falls Sie sich für solche Seitenblicke interessieren: Es gibt in Witold Gombrowicz’ „Transatlantik“ – aus der Zeit, als es ihn wegen dem Beginn des II. Weltkriegs sozusagen aus Versehen für Jahrzehnte nach Argentinien verschlug – höchst aufschlussreiche Bemerkungen über die Unterschiede von Südamerikanern und Europäern im Verhältnis zu ihrer Literatur. Ebenso bei Roberto Piglia, ein weiterer Exilierter – Argentinier in den USA –, der darüber schreibt und mittels entwurzelter Figuren ganze Zeitläufte durchleuchtet. Ich würde fast so weit gehen zu sagen, dass eben diese Zweiheits-, diese sich verdoppelnde oder Zerrissenheitserfahrung in gut geschriebenen Büchern unendlich viel mehr transportiert als unsere etwas blutleere BRD- und Nachkriegsliteratur. Aber das ist in der Verkürzung natürlich auch etwas leichtfertig dahin gesprochen.)
***
Über die Sanguinetti / Frank O’Hara Bemerkung bin ich mir auch unsicher. Nach meinem wiederum spontanen Gefühl hat es sich einmal gelohnt beide zu kennen – aber vielleicht werden sie mir hier gewissermaßen auch nur biographisch. Und ich merke: ich täusche mich damit.
Denn mir wird klar, dass ich Sanguinetti mit Benedetti verwechsle; den hatte ich hauptsächlich wegen Onetti gelesen, ich erinnere mich kaum mehr. Von O’Hara habe ich sogar noch ein Bändchen (damals in der Rolf-Dieter Brinkmann Zeit war er einigermaßen beachtet und wurde auch viel nachgemacht; ich glaube, auch Nicolas Born mochte ihn und bezog sich in Gedichten schon mal auf ihn), aber wirklich überdauert hat er vielleicht auch nicht. (Immerhin an ein Gedicht erinnere ich mich doch sehr gut.)
Kann es sein, dass Bolaño mit all dem überhaupt so etwas wie Kennerschaft nachfragt, er, der so lange Marginalisierte, der selber das Obskure – etwa auch entlegene Magazine – nicht auslässt aber damit andeutet, dass man eigentlich alles kennen müsste? Was er sich und anderen in der Geschichte „beweist“? (Ich kenne „Nazi-Literatur in Amerika“ noch nicht; aber auch in „2666“ spielen, wenn ich das recht verstanden habe, ja obskure Literaten die Hauptrolle. Sie bilden in zweierlei Sinn ganze Kosmen. Ihre mindeste Kenntnis wird ja damit kontrafaktisch zu einer eigenen Wichtigkeit erhoben.
(Und obwohl es immer unmöglicher wird – Internet – wird es nicht eigentlich zwingender? John Cage sagte das mal wörtlich: „Everbody is a cosmos“.)
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Der Link in dem Absatz „Bolaño hatte eine entschiedene Meinung über den Stellenwert eines Schriftstellers…“ funktioniert nicht.
R. R.
Die Links der Fußnoten verwiesen in dem alten Text nur auf sich selbst und haben sich von mir unbemerkt in den neuen Beitrag hinein gemogelt. Ich bin der Mogelei mit konsequenter Löschung begegnet. Was das „Hineinmogeln“ von essayistischen Elementen in Bolaños Texte angeht, stimme ich Ihnen zu. Er ist ein Meister darin, prosaferne Litteraturgattungen wie Lyrik, Reportage, Essay, Briefe in Form von Zitaten oder ellenlangen Textausschweifungen in Romane oder Erzählungen einzubauen. Beeindruckend ist dabei, dass es kaum auffällt, sich in dem Erzählverlauf immer assimiliert.
Ich bin ein absoluter Laie, was die spanische Literatur betrifft, ganz im Gegensatz zu Bolaño. Ich glaube, dass er einer der besten Kenner der spanischen und lateinamerikanischen Literatur war und sich spätestens nach seiner Niederlassung in Spanien, noch den unbekanntesten Lyriker oder Romancier dort zumindest namentlich kannte, wie auch auf dem südamerikanischen Kontinent und im Grunde ein globale literarische Sicht pflegte. Dass gerade die Lyrik einen hohen Stellenwert bei ihm einnahm ist bekannt. Lyrik ist der unmittelbarste und komprimierteste Ausdruck von so etwas wie dichterischer Seele und diesem ausdruck zollte er, auch wenn das Ergebnis zweitklassig sein sollte, einen hohen Respekt. Allerdings sehe ich den sportlich-machohaften Aspekt auch. Seine Urteile über andere aber sind weniger hierarchisch strukturiert, als spöttisch humorvoll und die Selbstironie darf natürlich nie fehlen. Da meine spanischen Literaturkenntnisse so dürftig sind, schlug ich gerade in meinem alten Wilpert „Moderne Weltliteratur“ von 1972! nach, ob Miguel Hernández dort Erwähnung findet. Sein Name im text ist sicher eine sehr bewusst gesetzte Referenz an diesen Dichter, der im Gefängnis nach dem spanischen Bürgerkrieg starb, weil er als Republikaner nicht emigrierte. Ich zitiere mal den kurzen Absatz:
Einerseits spielt der politische Standort des Dichters immer eine Rolle in der Bewertung Bolaños, aber auch das Schreiben im Angesicht des Todes dürfte eine bei ihm selbst empfundene Erfahrung gewesen sein. Dass auch Hernández´ Gesänge unvollendet blieben ist nachträglich makabre Parallele.
Gegen die Subsummierung unter Begriffe wie Exil und Exilliteratur hat sich Bolaño mehrfach gewehrt. Er hatte wohl den Verdacht, einige „Kollegen“ hätten es ich unter diesem Prädikat etwas zu bequem gemacht. Aber der Einfluß seiner erzwungenen Weltenbummelei und die damit von Ihnen erwähnte „Zerissenheit“ ist natürlich spürbar. Ein bewegter lateinamerikanischer Lebenslauf bringt sicher andere Literatur hervor, als es eine in scheinbar ruhigeren Verhältnissen groß gewordene Nachkriegsgeneration, aber jede Literatur unter jeden Umständen wird, so sie denn eine ist, den ihr gemäßen Ausdruck finden.
Bei der beiläufigen Erwähnung so vieler, zumindest meiner bescheidenen Halbildung manchmal relativ unbekannter Schriftstellernamen, kommt man manchmal mächtig ins Trudeln. Edoardo Sanguineti wird ebenfalls zu Beginn in der „Schwuchteltirade“ von „Die Nöte des wahren Polizisten“ erwähnt:
Ich muss gestehen, dass ich bei diesen Ironisierungen manchmal ganz andere Bezüge mitlese, aber das will ich nicht weiter ausführen. Sanguine
tt
i wird auch oft fälschlicherweise mit einem doppelten „t“ geschrieben. Mir geht es darum festzuhalten, dass Bolaño in dieser Erzählung auch einem unbedeutenden Lyriker ein Denkmal setzt, denn ihm geht es nicht um einen Marktwert in der Kunst, sondern um diese selbst. Wie unzulänglich der Kampf um sie auch immer ausfallen mag. Ich freue mich über Ihre Kommentare und habe wie Sie „Die Naziliteratur in Amerika“ auch noch nicht gelesen. Außerdem würde mich natürlich auch Ihre einschätzung von „2666“ nach Ihrer Lektüre interessieren. Vielleicht schreiben Sie etwas dazu in Ihrem Blog. Im Augenblick bin durch die Tatsache etwas belastet, dass meine pflegebedürftigen Eltern leider beide gleichzeitig erkrankt sind. Deshalb meine verspätete Antwort…
Herzlichen Gruß an Sie
Der Buecherblogger
PS
Verraten Sie mir, wer die junge Frau mit dem melancholischen Blick der sechziger Jahre auf dem Cover von „Erste Lieben“ ist. Sie ist schlimmer als ein Werbeplakat und ihr Blick genauso anziehend.
Roman oder Leben
Bei meinen allzu vorläufigen Leseerfahrungen mit Bolaño – bislang nur vier Bücher – ist es sicher zu früh, das so zu sagen. Aber immerhin ist das eine Tendenz, die bei Schriftstellern irgendwann typisch ist, und besonders bei graphomanen: Literatur und Leben wie gleichzusetzen. Wobei Bolano mir also ein bisschen vorkommt wie ein eigentlich eher europäischer „Realist“ – Welthaltigkeit, Nachvollziehbarkeit, ausführliche argumentative Erklärung des Settings, „Fakten“ -, die er dann aber trotzdem eher „südamerikanisch“ amalgamiert. (Diese Typisierungen und Entgegensetzungen also mit aller Skepsis benutzt.)
Ich hatte aber noch überlegt, dass – weil Schriftsteller ja doch eher Stubenhocker sind – diese Erweiterung in papiernere, also von anderen Schriften und Gattungen (und Schreiber-Leben) belebten Erzählungen eben auch ein höchst brauchbares Sujet liefern. Und von einem Schriftsteller erwartet man ja beides: Geist UND „Magie“. Und natürlich sind Menschen, die sich daran versuchen, auch solche mit einer Suchbewegung überhaupt – sie sind „Detektive“. Dem folgt man dann entsprechend gerne und tappt umso verlässlicher in die je nachdem versuchsweise und dann auch mal vorsätzlich falsch gelegte Spur.
Die in Literatur (und Lyrik) bewiesenen Kennerschaften (Leiden-schaften) wäre dann solche ersatzweise auch für’s Leben, und zugleich – in ihren Entlegenheiten und Erzählräumen und deren Deutungsmöglichkeiten wiederum – per se überhöht und hochaufgeladen, interessant. (Ob die Details und Namen dann alle so stimmen ist für den Leser eigentlich egal: Gut erfunden tun sie es auch oder besser.)
Aber: Die hier und da gesetzten „Referenzen“ (von mir in beiderlei Sinne verstanden) von der Sie sprechen. Bolaño als Exilierter – als betroffener Beobachter eben auch bestens Informierter der politischen Verhältnisse – setzt sich damit sowohl mit seiner persönlichen als mit einer weithin geltenden, also „relevanten“ Situation auseinander. Und mit der Nennung der Namen gibt er sozusagen auch ermutigende Zeichen, wie die Versicherung, dass sich einer immer erinnern wird, dass alles aufbewahrt ist. Es ist von da auf ein „weltlich“ aufgeladener, ein grundlegender (und man möchte sagen: politischer) Akt.
(Ich will mir gar nicht erst anmaßen, über die unaufgearbeiteten Vergangenheiten in den hispanischen Ländern etwas zu sagen, es reichen wohl die Erwähnung der „Mütter der Plaza de Mayo“ bis zu den höchst aktuellen „Wunden“ im heutigen Spanien, da die Gesellschaft bis heute über den unbekannten Gräbern gärt: Die Vergangenheiten sind nie vorbei.)
Vielleicht muss man es derart tatsächlich als unausweichlich ansehen, dass Bolaño das Erlebte wie bei anderen immer wieder in verwandelter oder maskierter Form thematisiert (und manchmal auch persifliert). Und dass das mit dem Nachspüren der anderen entlegenen Schreiber zu einem Zug überhaupt seines Schreibens wird.
Und ich muss zugeben, ich werde immer neugieriger, wie er diese Dinge dann bei den fiktiven Schriftstellerleben behandelt. Allein, was ich über diese seltsame Archimboldo-Figur gehört habe, muss in der Behandlung durch jemandem von Bolaños Kaliber eine literarische Denkwürdigkeit sein. Und sicher ist so etwas dann eben auch, das Abwerfen der Festgeschriebenheiten in solche Herausforderungen von Literatur, der bessere Weg sich gegen die, im Teilen doch der Schicksale, als allzu übliche Etikettierung empfundenen zu wehren und die entsprechenden Fallen zu vermeiden. Vielleicht sogar daher die Herausforderung ins (wenn ich das recht verstanden habe von vielen Lesern / Kritikern so verstandene) Phantastische. Und dagegen wieder die Unausweichlichkeit des Lebens, die (auch wenn im Buch nur erfundenen) seitenweise Aufzählung der Namen von Toten.
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Die Abkanzelung der „schwulen“ Dichter in der Passage verstehe ich umso weniger je öfter ich sie lese. Alle genannten Dichter gelten ja als herausragende. (Und zumindest Ungaretti mochte ich, eh mit einer Vorliebe für die Italiener, auch gerne lesen.) Aber dass Pasolini derart abkanzelt wird, ist ja eigentlich nur heraus einer überkandidelten Rollenposition denkbar. Und der wunderbare Pavese (mit all den starken Frauen als Heldinnen seiner Romane)? Das „Schwule“ an ihm kann eigentlich nur seine überragende Künstlerschaft sein. Das ist womöglich nicht mal ironisch sondern als Charakterisierung eines bornierten Neiders oder eines vorsätzlichen Ignoranten gemeint. (Aber um die Wendungen solch einer Figur zu verstehen muss man wohl den ganzen Text lesen.)
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Schade ist, dass ich noch nicht absehen kann, wann ich zu den weiteren Büchern Bolaños kommen werde ich habe sie teils schon auf dem Nachttisch): Ich habe solch ein umfangreiches Recherche-Lesepensum … es graust mir manchmal selbst. Aber es machte vielleicht Spaß, es demnächst mal mit einer Parallellektüre zu probieren? „2666“ ist jetzt bestellt. Was meinen Sie?
(Andere Leute lesen ein Jahr Proust und starten darüber ein eigenes Blog und machen daraus ein Buch!)
(Und ich habe noch nicht mal alle Ihre Bolaño-Texte bei Ihnen gelesen! Aber bald … )
R. R.
Die junge Frau habe ich gefragt, und ich darf Ihnen alles verraten – allerdings nicht über einen derart offenen Kanal. Wenn Sie es wirklich wissen wollen: Rainer.Rabowski [at] googlemail.com .
Nochmal Entschuldigung für diese verspätete Antwort, aber ich bin im Moment schwer familiär gebunden und da entbindet mich keine Fiktion, sei sie nun erlesen oder selbst erdacht. Leben halt. Ich glaube, Bolaño sagt auf die Frage, was er außer Schriftsteller gern beruflich noch gemacht hätte, er wäre selbst gern ein Detektiv gewesen. Insofern hat er das Detektivische in seinem Schreiben, ja selbst in seinen Titeln wie „Die wilden Detektive“ ersatzweise verwirklicht. Dass Schriftsteller selbst Detektive sind, leuchtet ein. Sie suchen ständig nach Ausdruck, richtigen Buchstaben, einer Handlung oder Beschreibung und gehen noch der entlegensten Referenz akribisch nach. Im Falle Archimboldis sind die Kritiker die Detektive und der Gesuchte ist selbst Schriftsteller. In den „wilden Detektiven“ wird eine mysteriöse Schriftstellerin gesucht. Wir Leser suchen weiter, wie immer, nach Bedeutung. Man könnte Bolaños kreisen um ein bibliophiles oder bibliomanes Umfeld als einengende Perspektive kritisieren, Gefallen an der eigenen Fleischbeschau, aber mir kommt es mehr so vor, als sei dies nur ein gut gemachtes, integrales Movens der Romane und Erzählungen, um auch auf die anderen Dinge der Welt zu sprechen zu kommen.
Was die erfundenen Personen angeht, macht er das überaus geschickt, denn sie haben letztlich, wie auch bei Proust, durchaus noch reale Vorbilder und seien es nur zufällig in einem Fußballmagazin gelesene Biographien von in Europa gänzlich unbekannten Sportlern. Er bewegt sich also spielerisch ganz bewusst an dieser Grenze zwischen Leben und Roman. Mit dem „gut erfunden tut es auch“ kenne ich mich als Leseerfahrung vor allem in Blogs besonders „gut“ aus. Auch dass gerade „Schwule zu überragender Künstlerschaft fähig sind“ wird niemand bestreiten, warum auch nicht, gerade das ungerechte Stigma seitens der Gesellschaft reizt zu ungeahnter Gegenwehr. Die Sexualität lässt sich natürlich aus dem künstlerischen Schaffensprozess nicht wegdenken, aber bei der Kritik sollte die sexuelle Disposition eines Schreibenden keine Rolle spielen. Bei Proust klappt das ja zumindest inzwischen auch.
Ich hoffe, dass die Lektüre von „2666“ für sie eine Bereicherung sein wird. Für mich kam sie im September 2009 zum rechten Zeitpunkt. Sie hat meine literarischen Geister damals beflügelt und Bolaño tut das noch heute. Ich glaube der 14. Juli dieses Jahres ist sein zehnter Todestag. Es gibt wenige Bücher, die ich mit auf die Insel oder, um mit Iñárritus Film „Biutiful“ zu sprechen, in die schneeigen Baumreihen des Zwischenreichs Thanatos mitnähme: Die „Recherche“, „Der Mann ohne Eigenschaften“ und „2666“. Ich bin mir nicht sicher, ob der Torwächter soviel Gepäck überhaupt zuließe.
Auf das Angebot mit der „jungen Frau“ komme ich nach meiner familiären Inanspruchnahme gern zurück. Es interressiert mich ja nicht das persönlich Intime, sondern lediglich dieser verführerische Seitenblick über die Schulter. Der könnte genauso gut aus einem französichen Schwarz-Weiß-Film sein, aber zu einer Konversation darüber ist das hier wirklich eine Art „Schwarzer Kanal“. Wer weiss, wer da im konterrevolutionären, kapitalistisch-imperialistischen Westen alles mitliest.
Lesen sie nicht zuviel bei mir, ich werde leicht rot hinter der Tastatur…
Herzlichen Gruß
Der Buecherblogger