Literaturrezensionen sowie Kunst und Kultur eigener Art
Ein früher Fall von korrumpierter Kommunikation
Vorgestern am Sonntagmorgen auf 3sat lief schon früh um 6.55 Uhr der Thementag “Sagenhaft”. (Depuis) “longtemps je me” (lève) “de bonne heure”, und so hatte mich der erste Film mit dem Titel “Die missbrauchten Liebesbriefe” nach Gottfried Kellers gleichnamiger Novelle neugierig gemacht. Ohne Neugierde ist der Mensch bekanntlich so gut wie tot und das Faible für alte Schwarz-Weiß-Filme tat ein Übriges. Liebesbriefe waren schon immer ein beliebtes und weit gestreutes Sujet auch in der Literatur. Was erinnere ich spontan an Briefromanen? Choderlos de Laclos, Abaelard und Héloise, Stefan Zweigs “Brief einer Unbekannten” und natürlich ganz frisch im Gedächtnis, aber leider noch nicht frisch gedruckt: “Punk Pygmalion”. So muss auch dieser Film mit seiner ausgeprägten Erzählstruktur eben eine von Kellers Erzählungen des Novellenzyklus “Die Leute von Seldwyla” zur Vorlage haben. Der große Schweizer Dichter des 19. Jahrhunderts erinnert mich auch an meine frühe obligatorische Schullektüre, die aus den Reclam-Heftchen von Storms “Schimmelreiter”, Fontanes “Unterm Birnbaum” oder Jeremias Gotthelfs “Die schwarze Spinne” bestand, nicht zu vergessen “Das Fräulein von Scuderi” von E. T. A. Hoffmann. Mit dieser Auswahl könnte man beinahe allein seine Generationszugehörigkeit beweisen. Wäre man doch so zeitlos wie die “große” Literatur. Nun aber zum frühen Film mit dem raffinierten Missbrauch.
Der Kaufmann und hochtrabende Möchtegern-Schriftsteller Viggi schreibt seiner Frau Gritli von einer Geschäftsreise erbauliche Liebesbriefe, damit diese bei der Beantwortung ihr eigenes Schreiben und das Verständnis für (seine) Literatur schulen soll. Den verbalen Ergüssen ihres Ehegatten steht die eher praktische Ehefrau hilflos gegenüber. Sie schreibt die Briefe Viggis ab und schickt sie als ihre eigenen dem schüchternen Lehrer Wilhelm. Der entbrennt nun seinerseits für Gritli und schreibt ihr ehrliche Liebesbriefe von ganzem Herzen, die Gritli nun wiederum als die ihren an ihren Ehemann Viggi schickt. Ein Dreiecksverhältnis, dessen Schriftfäden die Ehefrau zwar zunächst noch in der Hand behält, jedoch nicht ohne auch Gefühle für den sympathischen und bescheidenen Wilhelm zu entwickeln.
Ein Kommunikationsstrang, wo gleich zweimal die Geschlechtszugehörigkeit vertauscht wird, da fragt man sich, ob Text wirklich so korrumpierbar ist, dass niemand etwas davon merkt. Ich würde diese Frage nach jüngster Erfahrung mit einem eindeutigen Ja beantworten. Texte sind leeres Rohmaterial und werden erst durch die Phantasie wieder lebendig. Eigentlich tröstlich zu wissen, dass die kommunikative Täuschung keine Erfindung des digitalen Internetzeitalters mit seinen Fallstricken der Anonymität ist. Schon im analogen Briefverkehr gab es Rollentausch und Mann oder Frau konnte dem Geschriebenen ein neues Geschlecht zuweisen. Manche gehen schlicht soweit zu sagen, jede Kommunikation sei notwendig Täuschung und es käme lediglich zum Austausch reziproker Projektionen des jeweils anderen. Möglicherweise gehört doch so etwas wie eine nonverbale Komponente wie gegenseitiges Vertrauen dazu, die Bindung an etwas Außerschriftliches wie Informationen über einen Autor, um eine der wahren Urheberschaft nicht verpflichtete Absicht des Erzählens zu erkennen. Aus der Botschaft allein ließen sich nur logische Schlüsse ob ihrer Integrität ableiten, und dass Wahrheit allein an ihrer Logik gemessen werden kann, wage ich zu bezweifeln.
Dieser alte, charmante Schweizer, man möchte fast sagen Heimatfilm, von Leopold Lindtberg aus dem Jahre 1940, mal Komödie, dann wieder Liebesgeschichte, und zwischendurch viel Ironie über den aufgeplusterten Literaturbetrieb mit seinen überheblichen Zirkeln voll nationalem Standesdünkel, ist jedenfalls eine gelungene Literaturverfilmung. Bei allem Zeitkolorit und Kitsch überzeugt vor allem die Regie und die ausgezeichnete Kameraarbeit mit vielen, recht künstlerisch in Szene gesetzten, Schwarz-Weiß-Kontrasten.
Mittlerweile brütet draußen die Sonne bei 30° und ich schreibe über alte “Schmachtfetzen”, aber diese anderthalb Stunden am frühen Sonntagmorgen bereue ich nicht. Dies ist sicher nur ein Hinweis für Filmnostalgiker, aber falls er mal wieder im Fernsehen läuft, es lohnt sich durchaus.
Ich bin ja auch so ein Liebhaber alter Filme – nicht aller, aber bestimmte Sorten sind für mich durch all die Techno-Flash-Hollywood-Superstar-4 D-Machinationen eben nicht zu überbieten. Aber ich denke nicht, dass man sich auch hier damit immer schon generationenmäßig eindeutig positioniert: Viele Dinge sind ja von heute aus (trotz ihrer uns ungleich simpler erscheinenden Plots) schon nicht mehr richtig verständlich und sprechen trotzdem herüber die Zeiten (oder sprechen eben in Rätseln), während andere – mein bisher von niemandem „überholter“ Favorit: Michelangelo Antonioni – bis heute nicht nur stilbildend sondern auch singulär bleiben. Bezeichnend, dass die besseren neuen Regisseur ihn wieder zitieren. (Am bekanntesten sicher Christian Petzold.)
Gerade neulich – ich versuchte etwas Lebendigeres darüber zu erfahren als immer nur alles nachzulesen in wikipedia – fiel mir jemand ein, der kaum halb so alt ist wie ich, aber alles über französische Noir-Filme aus den 60ern und 70ern weiß – voriges Jahrhundert!
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Auf die ganzen genannten Namen und Dinge zum Briefroman kann ich kaum alle eingehen, aber mir kommt beim Lesen ihres Posts noch ein anderer Gedanke.
Etliche Leute, die ich kenne, haben schon ihre eigenen Brief-Romane auf der Festplatte – natürlich wiederum als Mails, und immer mal wieder kommt ihnen auch die Idee, sie zu veröffentlichen, weil man sie (als zum Teil ja gefühlsmäßig heftig durchlebte Episoden) eben als persönliche Markierungen und außerdem als konsekutive Entwicklungen irgendwie auch als „erzählerisch“ ansieht.
Und sind sie es nicht? Oder anders gefragt: Sind klassische Brief-Romane (außer dass sie Literatur sind, aber was, überspitzt gefragt, ist die heute schon noch, da alle zu Schreibern geworden sind?) irgendwie nachhaltiger in ihrer Form als die von allen möglichen relevanteren, beziehungs-technisch moderneren Einflüssen durchzogenen Mails? Die mit den persönlichen Zeitläuften ja immer auch noch viel Wandel selber dokumentieren?
Für mich sind Kafkas Briefe an seine diversen Damen nach wie vor die wichtigste Orientierung, auch ohne etwa die Antwortschreiben Felices – und auch ohne Geschlechtsvertauschungen sind sie voller unerhörter Ideen über so etwas wie „Virtualität“, sie sind dauernd angespielte Möglichkeitsräume und persönliche Erweiterungen hin zur Angeschriebenen und sind immer auch spannende Erzählung, und sei’s nur augenblickshaft überspannter Subjektivität.
Aber weil auch davon so viel in den Mails steckt und andererseits so vieles implizit darin ist und vom Leser ergänzt werden muss, haben diese nicht tatsächlich auch etwas Literarisches, erzählen einen Plot und als Gedanken oder Referenzen etliche Binnenerzählungen und so weiter? (Auch wenn es mit ihnen natürlich nicht zu solche überlegten und komplexeren Formen wie bei Keller reicht.)
Ich überlege also manchmal, ob man das vielleicht akzeptieren soll und ob das schon einer der Fälle, bei denen alte literarische Formen selber sich verwandeln, aber dadurch eben auch durchaus noch stattfinden. Dass mit den Täuschungen und der Anonymität könnte man dann als Bedingungen, oder oft sogar erst als Voraussetzung begreifen – wer würde sich schon entäußern, wenn er von vornherein „bloß“ steht?
Dass es das alles schon gegeben hat, und raffinierter, kunstvoll komponierter, könnte man natürlich denkwürdig finden. Aber vielleicht war eben das besser Komponierte auch immer schon die Ausnahme. Dass es weiterlebt und sich womöglich noch entwickelt, wäre ja doch irgendwie gut.
Das Zitieren bzw. die Verbindung von Petzold und Antonioni würde mich genauer interessieren. Ich bin bei weitem kein Cineast. Von Antonioni erinnere ich mich nur an „Blow up“ und „Zabriskie Point“ mit der Musik damals von Pink Floyd und Petzold fiel mir zuerst eigentlich nur durch das Fernsehhighlight „Dreileben“ auf, wo mich der Tanz eines jungen Paares in der Episode „Etwas Besseres als den Tod“ fasziniert hat. Gute Schwarz-Weiß-Filme finde ich oft in ihrer Bildsprache viel ausdrucksvoller, weil sie mit Winkeln von Licht und Schatten spielen. Überhaupt habe ich einen Hang zum Reduzierten, vermutlich typisch gotisch deutsch, denn die barocke Überfülle erschlägt mich mehr. Licht und Schatten erinnert mich gerade an ein altes Filmplakat von „Schatten und Nebel„, das Anfang der Neunziger meine Wände zierte, um dann beim Umziehen endgültig verloren zu gehen. Wo Sie doch später Kafka erwähnen, dazu hatte dieser Film auch Bezug, aber mich faszinierte nur das Filmzitat des überdimensionierten scheinbaren Vampirs. Woody Allen Fan bin ich nicht gerade und auch die „Techno-Flash-Hollywood-Superstar-4 D-Machinationen“ taugen allenfalls zum Zeit totschlagen.
Ich wollte Ihnen wenigstens noch kurz heute antworten, aber jetzt ist doch schon der andere Tag angebrochen und die Mitternachtsstunde schon fast vorbei. Deshalb breche ich hier erst einmal ab und wünsche Ihnen eine Gute Nacht. Ich setze meine Antwort dann wahrscheinlich erst morgen in den kühleren Abendstunden fort. Bis dahin einen herzlichen Gruß.
Heute antworte ich mir selbst als Fortsetzung von gestern:
In den „mißbrauchten Liebesbriefen“ plant der Hobbyschriftsteller Viggi auch, die Korrespondenz mit seiner Ehefrau nachträglich als Briefroman zu veröffentlichen. Wahrscheinlich aber mit dem Dünkel, seinen eigenen Briefen den Glanz schriftstellerischer Weihen zu verleihen, vermutlich sogar in Absetzung von denen seiner weniger versierten Ehefrau. Da liegt ja ein gefährlicher, aber auch produktiver Keim der Literatur: die Selbstüberhöhung. Klassische Briefromane dagegen sind weniger subjektiv, als gesellschaftsabbildend. Überhaupt sollte die Intention des Schriftstellers immer auch der Gebrauch des Ichs als ein Exemplarisches sein und nicht mit seinem realen verwechselt werden. Das platte Veröffentlichen von Emailvervehr oder privaten Briefen ist noch keine künstlerische Leistung. Bei aller Subjektivität von Protagonisten letztlich die Fähigkeit, von sich selbst wegweisen zu können, um dennoch mit dem eigenen Inneren auch das Äußere zu gestalten, darin besteht eigentlich meine Auffassung schriftstellerischer Tätigkeit.
Der Brief- und Blog-Roman „Punk Pygmalion“ von J. S. Piveckova, als ein jüngeres Beispiel, stellt für mich eine gelungene Symbiose von vermutlich authentischem Briefmaterial mit fiktiven Emails und erzählenden Komponenten dar. Der authentische Brief ist nur ein Dokument, das auf die künstlerische Gestaltung wartet, die immer alles, auch schon Vorhandenes, wieder neu erzählen kann. So kunstvoll er auch geschrieben sein mag, selbst Kunst ist er nicht. Nicht einmal wenn ihn Kafka selbst geschrieben hat. Ein Brief oder eine Email allein, meinetwegen auch als narrativer Thread aufgefasst oder auch ein Weblog mit seinen Kommentarsträngen sind für mich, allein in ihrer Präsenz gesehen, noch kein Kunstwerk, das als geschlossenes für sich stünde. Obwohl man natürlich auch sagen könnte, die Beurteilung, ob etwas Kunst sei, läge allein im Auge des Betrachters. Nur dann wäre ohne die Geschlossenheit (und damit meine ich nicht die selbstverständliche in ihm immer angelegte immanente Offenheit zum Rezipienten hin) eines vom Künstler hervorgebrachten unikaten Werkes, die ganze Welt ein Kunstwerk. Wer möchte bestreiten, dass sie das wahrscheinlich ist. Nur wer war ihr Urheber? Die Kunst der Menschen scheint mir mehr in dieser Frage selbst aufgehoben, als eine Antwort darauf zu sein.
Gab es vor ein paar Jahren nicht schon den Mailwechsel zwischen Houllebecq und BHL wenige Monate nach dem Abschicken der Nachrichten als fertiges Buch? Wieviel Sorgfalt mag da dringesteckt haben (ich habe das Buch nicht gelesen)? Vor allem: Wieviel Pose ist dabei, wenn die Autoren wissen, dass es nur ein paar Monate dauert bis ihre Nachrichten publiziert werden? Ungute Beschleunigung.
Ein Briefwechsel, der von vornherein für die nachträgliche Publikation intendiert war, verliert auch jedes Geheimnis der Intimität und fordert zur wechselseitigen Selbstinszenierung geradezu heraus. Im Falle von „Ennemis publics“ (blöde Übersetzung „Volksfeinde„) spricht die Zeit von mehr oder weniger gelungenem „Philotainment“. Sicher ein Sonderfall.
Die Unterscheidung zwischen fiktionalen Briefromanen und der Herausgabe eines tatsächlich stattgefundenen Briefwechsels ist evident. Zwischen zwei Buchdeckel allerdings passt so ziemlich alles Mögliche. Houellebecqs Briefwechsel mit Bernard-Henri Lévy habe ich auch nicht gelesen, dafür als bisher einzigen Roman von Houellebecq vor einiger Zeit „Karte und Gebiet„, den ich als modern und intelligent erzählt in guter Erinnerung habe.
Mich interessiert mehr von der Kommunikationstheorie her, woher eine Nachricht eigentlich ihren Kern oder unseren rezipierenden Impuls erhält, sie als wahr oder zumindest aufrichtig gedacht zu akzeptieren. Bringt das lediglich die Nachricht in ihrer logischen Konsistenz selbst mit oder muss beim Empfänger eine Offenheit und Bereitschaft existieren, den Inhalt als vertrauenswürdig zu akzeptieren. Worauf beruht unsere Akzeptanz in der Kommunikation? Gibt es überhaupt so etwas wie kommunikatives Vertrauen im öffentlichen Raum wie z. B. Weblogs im Internet. Was sagt mir, dass Sie nicht Gregor Samsa oder nur Handkes Torwart sind? Birgt unsere kommunikative Wahrnehmung per se die Gefahr, subjektive Täuschung zu sein und schrieben wir dann nicht alle nur auf die Rückseite eines blinden Spiegels?
Houellebecqs letztes, nihilistisches, postkapitalistisches Bild in „Karte und Gebiet“ hat für mich auch eine Spur Tröstliches:
„Dann wird alles ruhig, und zurück bleiben nur sich im Wind wiegende Gräser. Die Vegetation trägt den endgültigen Sieg davon.“
Meine Idee war, es könnte, bezogen auf den Privat-Mail Verkehr, der dann anschließend dokumentiert wird, auch Argumente vielleicht für das immer schnellere Verfertigen der Gedanken geben (und also auch ihren vorbehaltloseren oder willentlich unabgewogen dadurch vielleicht zu mehr Ehrlichkeit vordringenden Austausch).
Vieles an Gedanken wird ja, genauer oder auch nur zwei mal bedacht, gar nicht erst geäußert. Darin eine Verbesserung für die als gereinigte auftretende oder die überlieferte Schrift. Aber die lässt eben auch Vieles aus, das durch Skrupel verhindert wird und trotzdem einen mitteilenswerten Gehalt haben mag. (Und sei es eben einen sonst aus allen möglichen Gründen Kaschierten. Im Privaten, zumal im emotionserhitzten Privaten aber will man ja alles vom Gegenüber wissen – und eben das kann die Qualität eines ansonsten oft faden Austausches sein.)
In die Zeitvorstellungen etwa von Botho Strauß’ „Plurimi“ können wir ja nicht mehr zurück. Und auch viele namhafte Geister sind außerhalb ihrer quasi-professionellen Hervorbringungen eben auch uninteressant. Houellebecq ist eben Romancier – schon als Lyriker finde ich ihn … na ja, nicht ausreichend originell.
Tatsächlich gibt es eine Qualität an Einsichten in eben den Ungeschminktheiten – etwa wie bei den Poètes Maudit -, die natürlich andere Zumutungen bereit halten können.
@Buecherblogger
Ich vermute, die Qualität einer Kommunikation liegt tatsächlich in der Neuheit. Information wäre dann tatsächlich, „der Unterschied, der einen Unterschied macht“ (G. Bateson). Diese Neuheit muss kein Faktum oder nicht mal ein Gedanke sein, sondern kann irgendeine Nebensächlichkeit sein, die einen berührt, irgendeine Nuance, die aus den Worten aufscheint. Und die Bestimmung und Rezeption dieser Neuheit ist letztlich wieder subjektiv.
Noch mal komplizierter wird es dann beim Anspruch auf etwas „künstlerisches“.
Ich hatte neulich etwas nachlesen wollen bei Celine, und stellte auf einmal fest, dass ich das nicht mehr lesen konnte. Die von so vielen Seiten bestätigte Kunst an „Reise ans Ende der Nacht“ ist für mich vollständig verflogen.
Ich halte das „schreib wie Du sprichst“, all die neuere Literatur ohne durchgearbeitete Sprache, wahrlich für keine Errungenschaft. Aber ihre Effekte sind trotzdem da. Und womöglich kommt man daher auch meine Toleranz – oder meine dahin verschobene Hoffnung – auf andere Qualitäten.
(By the way: ich habe ein Langzeit-Projekt mit [meist anonymen] Emails, die ich interessant bis aufregend zu lesen finde. Das rührt auch daher, dass oft nur ein Sprecher da ist der Gegenpart fehlt. Gut, das ist dann kein Email-Roman – aber eben in der Abwesenheit einer Stimme, die zu ergänzen bleibt, auch wieder annähernd „Literatur“. Und seit Glattauer – da noch in der sattsam bekannt romantischen Tradition – ist das womöglich schon wieder ein eigenes Genre.)
Ich verstehe, was sie bei „Ungeschminktheit“ und Spontanität als eine Art Mehrwert empfinden á la écriture automatique, aber ich befürchte, dass es in den meisten Fällen tatsächlich doch nur auf die Nachlässigkeit des in Eile Begriffenen hinausläuft. Ich sehe in der Email keinen unbedingten Fortschritt, was die Ausdrucksfähigkeiten anbelangt. Allerdings ist es in jedem Medium immer eine Frage, wer und mit welchem Anspruch auch an sich selbst dort jemand schreibt. Die spontane Offenherzigkeit könnte auch recht peinliche Blüten mit sich tragen, denn gerade war ich versucht Ihnen, indem ich an mir herunterschaute, etwas von meinen medizinisch bedingten körperlichen Unvorteilhaftigkeiten mitzuteilen. Schnell aber meldete sich die Muse meiner Zensur, falls es so etwas gibt, und ich kleidete es in diese geheimnisvolle Andeutung, bei der ich es belasse. Insgesamt bedaure ich, dass der private Brief so gut wie tot ist, in Emails kann man ja nicht einmal eine Handschrift erkennen.
Sie benutzen den Begriff „Romancier“ für Houellebecq pejorativ. Das klingt ein wenig herablassend so, wie man vielleicht noch Frauen im 18. Jahrhundert betrachtete, wenn sie erbauliche Romane schrieben oder als vernachlässigten Schriftsteller, die Romane schreiben, eine straffe Form der Genauigkeit und ergingen sich in ausufernden, dem Feuilleton gefallenden Schwafeleien. Aber ich ergreife hier keine Partei für Monsieur Houellebecq, dessen Name sich interessanter, aber doch ähnlich anhört wie mein eigener. (Fällt mir merkwürdigerweise gerade jetzt erst auf)
Das mit der nuancenhaften Neuigkeit verstehe ich auch, aber frage mich gerade, ob das Neue überhaupt ein Wert an sich ist. Für den einen ist es etwas Neues und für den anderen sind es alte Karamellen oder nur neuer Wein in alten Schläuchen oder auch umgekehrt. Ich glaube Celine habe ich einmal angelesen, aber war mehr von dem schönen Titel fasziniert, als dass ich weiter auf die voyage au bout de la nuit gehen wollte. Die Bücher gleiten einem auch wie Zufälle durch die Hände. Erst kürzlich recherchierte ich ein wenig Bolaño und landete bei der brasilianischen Schriftstellerin Clarice Lispector. Jetzt bin ich ganz begierig „Sternstunde“ oder „Passion nach G. H.“ irgendwo günstig aufzutreiben. Vorbei fliegende Zufälle, die auch nur wegen einer Kleinigkeit Gefallen finden und im Bewusstsein haften bleiben. Hier war es die Widmung an den Leser in der „Sternstunde“, die ich irgendwo dann auf Englisch fand. Oder ich sehe gestern einen Film: „Margaret“ und suche dann die Übersetzung eines Gedichts von Manley Hopkins, das darin vorkam: „Spring and Fall„. Der Leser wird zwischen den Büchern hin und her geworfen, wie in diesen Spielballbecken bei IKEA die Kinder in den bunten Bällen baden.
Aber es stimmt, dass die innere Zensur machmal die Mitteilungsbereitschaft hemmt. Ich las z.B in Ihrem Blog eine Reiseerinnerung über einen Grenzübertritt mit der Bahn von Spanien nach Frankreich bei Port Bou. Ich las die ersten Sätze und den ganzen Artikel hindurch schimmerte das Schicksal Walter Benjamins durch ihre Schilderungen hindurch. Kommentiert habe ich es nicht, weil ich dachte, alle Welt schmückt sich mit Benjamin-Bezügen und mein Eindruck war auch eher der eines subjektiven Hineinlesens, wo von W. B. dort aber explizit nichts stand. So ließ ich es. Und wie merkwürdig es ist, jetzt hier nachträglich davon zu schreiben.
Zu was das „Langzeitprojekt Email“ einmal werden wird, würde mich interessieren. Auch den Hinweis auf Daniel Glattauer und seinen Briefroman „Gut gegen Nordwind“ finde ich interessant. Kannte ich nicht und bestätigt mir einmal mehr die Fallstricke einer anonymen Kommunikation. Zu kommunizieren, ohne sich persönlich zu kennen, birgt große Risiken und viele Missverständnisse. Ich habe beim Bloggen bisher dreimal diese Erfahrung selbst machen dürfen. Eigentlich ein Austausch mit Menschen, die mir durchaus am Herzen lagen, aber wo sich dann doch immer wieder ein Bruch ergab, der vermutlich auf gegenseitiger Enttäuschung beruhte. Niemand ist dabei ohne Schuld, denn was uns doch am meisten interessiert, sind unsere eigenen Erwartungen. Die aber scheinen mir im schriftlichen Online-Austausch zu oft gegenseitig enttäuscht zu werden.
Wir Online-Subjekte einer hektischen, disparaten, modernen Welt sind eben auch nicht besser als unsere Offline-Kollegen/innen aus vergangener Zeit.
@Der Buecherblogger
Naja, irgendwann werden Briefe und Tagebücher bekannter Schriftsteller doch durchaus im Wissen damit geschrieben, dass sie irgendwann (und sei es nach dem Tod) publiziert und damit ausgewertet werden. Hierin liegt ja womöglich auch eine Art ambivalente Spannung: Wie kommt der Dialog (oder, im Tagebuch, der Monolog) „an“? Ich halte es ja für ein Gerücht, dass Literaten nicht an den Deutungen ihrer Werke interessiert sind (Ausnahmen dürften die Regel bestätigen). Es ist vielleicht zuweilen eine Art Haßliebe auf die Reaktionen.
Die Überlegungen zur Kommunikation im öffentlichen Raum mag ich in ihrer Schwermut nicht teilen. Wenn Sie sicher gehen können, dass derjenige, der unter „Gregor Keuschnig“ postet immer der gleiche „Gregor Keuschnig“ ist, dann müsste das doch eigentlich reichen. Ich mag auch nicht den Mückensturm der Kommentatoren, die zwei, drei despektierliche Äußerungen posten und dann auf Nimmerwiedersehen verschwinden. Aber das hat man doch im „richtigen Leben“ zuweilen auch, diese Art der Einmalkommunikation. Dabei ist es doch egal, ob das der König von Belgien und ein Hartz-4-Empfänger ist. Insofern ist Ihr Satz, dass die Online-Subjekte nicht besser sind als die Offline-Kollegen der Schlüssel zur Lösung.
Von Houellebceq habe ich vor allem „Elementarteilchen“ und dann später „Die Möglichkeit einer Insel“ in Erinnerung. Die Romane haben viele Leerstellen und es finden sich zum Teil bewusst gesetzte (meist sexuell konnotierte) Provokationen. Aber beiden gemein (man könnte sie auch als Fortsetzungsbücher lesen) ist eine dystopische Sicht auf die Zukunft der Welt, die ohne Larmoyanz oder gar Pathos daherkommt. Diese Verzweiflung der Protagonisten an ihrem Leben – und die gleichzeitige Schönheit dieser Existenz – das ist schon ziemlich gut eingefangen und hat mich insbesondere gegen Ende durchaus berührt („Ausweitung der Kampfzone“ fand ich dagegen peinlich). Houellebecq will aber mehr als Provokation und ökonomischen Erfolg: er will als Intellektueller ernst genommen werden. Daher womöglich der Mail-Wechsel mit BHL.
Dass man als Schreibender das Feedback der Rezipienten völlig ausklammert, halte ich ebenfalls für unwahrscheinlich. Der Künstler ist eitel, auch wenn er es leugnet. Jedoch nur positive Besprechungen herauszupicken, um das eigene Haupt mit einem noch imposanteren Dichterkranz zu begrünen und weitestgehend unkritisch gegenüber der eigenen Arbeit zu sein, missfällt mir. Jedes Lob akribisch sammeln, aber von Selbstkritik keine Spur, leider kein Einzelfall. Im Moment staune und erfreue ich mich gerade an dem Feedback hier in den Kommentaren. Ich habe schon länger keinen Beitrag mehr veröffentlicht und dennoch verselbständigt sich hier der Kommentarthread.
Briefe und Tagebücher schon im Voraus mit dem Impetus der späteren Veröffentlichung zu schreiben, ist für mich auch an der Grenze zum vorweggenommenen Eigenlob. Arroganz geht bei mir gar nicht, außer man ist eine so anerkannte Künstlergröße, dass diese stillschweigend als nun einmal zur Persönlichkeit dazugehörig ignoriert werden kann. Mir ist ein Autor lieber, der nicht schon von vornherein nach dem Publikum schielt, sondern unbeirrt seinen eigenen Weg geht, mag er auch steinig sein oder wenig honoriert werden.
Was die Online-Kommunikation betrifft, haben Sie schon irgendwie recht, aber ich finde nach wie vor, dass unser Gefühl, aus mehreren Ichs zu bestehen oder in der Beschaffenheit der moderen Welt einen Identitätsverlust zu beklagen, noch lange kein Grund ist, andere ebenfalls an einer Kommunikation teilnehmenden Menschen bewusst zu täuschen. Aber von meiner Schwermut, einen bestimmten Fall betreffend, sollte ich mich befreien, auch da gebe ich Ihnen recht. Erstaunlich ist das Wiedererkennen eines bestimmten Schreibstils. Es wäre ein interessantes Experiment, ob man jemanden nur an seinem Textstil wiedererkennen könnte. Ich vermute fast ja. Dass die Sprache etwas so Individuelles sein kann, scheint mir das größte „Pfund“ eines Schriftstellers. Unverwechselbarkeit, aber vielleicht ist auch das nur eine Illusion.
Ich sah mal ein Interview mit Houellebecq und fand seine einsilbigen Auslassungen und kleinen Beleidigungen fast eine Zumutung, aber wie er in „Karte und Gebiet“ exemplarisch an dem bildenden Künstler Jed den ganzen Kulturbetrieb und das Künstlertum an sich auch irgendwie ironisch durch den Kakao zieht, den „Verfasser der Elementarteichen“ nicht ausgeschlossen, ist facettenreich und gut gemacht. Da bekommen alle ihr Fett weg, das Feuilleton, der abgehobene Kunstbetrieb, vermutlich ein Spiegel seiner eigenen Rezeption im literarischen Bereich. Aber ob der abgeklärte Nihilismus nicht selbst wieder eine Attitüde ist, weiss er vermutlich nicht einmal selbst.
Ja, vielleicht ist der „abgeklärte Nihilismus“ (sehr schön!) tatsächlich Attitüde. So, wie dann irgendwann alles Attitüde, Arroganz, Pose oder sonstwas sein kann und sein wird. Aber setzt sich daraus nicht gerade der Künstler zusammen? Dass jemand wie Thomas Mann irgendwann wusste, dass seine Aufzeichnungen verwertet werden – macht sie das schlechter? Doch eher nicht, weil sie – im Zweifel – dann wieder als Literatur gelten müssen, können, sollen.
Wir werden keinen uneitlen, „perfekten“, moralisch einwandfreien, sterilen Künstler / Schriftsteller finden. Wenn es ihn geben sollte, dürfte seine Kunst langweilig und öde sein. Es braucht womöglich dieser Spannung, dieser Spur des Asozialen, damit aus Geschriebenes am Ende Literatur entsteht. (Daher hasse ich diesen Trend nach „authentischen“ Autoren, weil sie nur Verstellungen produzieren. Der „authentische“ Autor ist mehr als uns lieb ist ein – freundlich ausgedrückt – schwieriger, komplizierter Zeitgenosse.)
Ich glaube mir geht es bei authentischen Autorenbriefen zunächst nur um ihre Unterscheidung von den Werken an sich. In denen sehe ich objektivierte, zumindest vom Künstler abgeschlossene, als solche verfasste Kunstwerke. Die Briefe eines Künstlers erreichen ihre Aufmerksamkeit meist erst durch seine nachträgliche, bisweilen auch erst posthume Berühmtheit. Sicher können sie in sich Ausdruck künstlerischen Schaffens und auch kunstfertig sein, aber ob ein Künstler sie selbst zu seinen Werken zählen würde? Das scheint mir immer erst eine Frage der späteren Herausgeberschaft zu sein. Oft will jemand seine private Korrespondenz auch gar nicht veröffentlicht sehen. Ich merke doch zum Beispiel schon jetzt an mir selbst, dass ich beim öffentlichen Schreiben doch mehr abwäge, als ob ich jemandem privat schreiben würde. Dieses Bewusstsein hat eine Spur von innerer Zensur, auch in der Weise, dass ich mich bemüht fühle, doch einigermaßen sorgfältig zu schreiben. Die von Rainer Rabowski als spannend empfundene spontane Äußerung ohne Rücksicht auf ihre Öffentlichkeitswirkung entfällt dabei größtenteils. Obwohl, im Moment hämmere ich hier in die Tasten was das Zeug hält, wie man so sagt und was kümmert es mich, ob das meinem öffentlichen Eindruck schadet. Schreiben, als ob man nichts zu verlieren hätte, das wäre auch eine schöne Schreibhaltung. Der reine Intellektuelle wägt dagegen seinen Gedanken in Hinblick auf dessen rhetorische und geistige Eleganz. Aber auch der Schriftsteller gibt am Ende einen durchgearbeiteten Text ab, der die von ihm beabsichtigte Wirkung entfalten soll. Langsam verstehe ich besser, was Rabowski an unmittelbaren Äußerungen, meinethalben auch in Emails, findet. Aber vielleicht verlaufe ich mich gerade zwischen zwei unterschiedlichen Kommentaren.
Das Künstlerbild ist in jeder Epoche und wahrscheinlich schon von jeder Seite wissenschaftlich erörtert worden. Natürlich haben Sie recht, dass der angenehme Künstler wohl auch nur flach angenehme Texte verbreiten würde. Selbstverständlich gibt es auch den authentischen Autor in dem Sinne nicht, dass er deckungsgleich mit seiner Literatur sein müsste. Literatur ist schließlich nicht die bloße Wiedergabe des eigenen Lebens, aber vielleicht sollte sie etwas von dem Restkern des Authentischen in uns allen suchen, als ihn nur durch sprachliche Spielerei zu verdecken trachten. Aber es wird nie so etwas wie „richtige“ oder „falsche“ Literatur geben, dazu ist sie zu vielfältig und jegliches Definitionsgefängnis würde sie ärmer machen.
Nein, nein — unter „automatischem Schreiben“ verstehe ich etwas anderes. Es sollte schon ein dezidierter Mitteilungsimpuls da sein, ein Drängen, sonst kommt nichts. (Sich bei bloßem Gerede auf „Surrealismus“ herausreden ginge da auch nicht.)
Allerdings: Peinlichkeit ja. Nämlich dann, wenn sie etwas herausbringt, und zwar nicht im Sinne einer Geständnisinnigkeit, sondern des Wagnisses, in der privaten Kommunikation tatsächlich etwas Wesentliches auszusprechen, das sonst eben unter den Tisch fällt. Ich denke da wirklich an Aufklärung, nicht an irgendwelche Sensatiönchen oder Schlüpfrigkeiten. Mit Diskretion ist es, wenn es auf den Punkt muss, ja doch eher schwierig, und mit Andeutungen, fürchte ich, kommt man heute nicht mehr weit.
Und noch: Ich glaube, ich kenne diese von Ihnen angesprochene Sorte Enttäuschungen im Emailverkehr — und noch andere. Für mich war dieser ganze Komplex und die Beschäftigung mit Virtualität als nicht-identitären Möglichkeitsraum einmal ziemlich wichtig. Aber heute bin ich damit weitgehend durch, so dass diese Mail-Sache ein Teil einer Art Abschluss damit für mich sein wird. UND ich denke, es ist gerade als fragmentarisches Werk interessant zu lesen. Denn offen gestanden langweilen mich diese oft quälerisch ausführlichen, am Ende des dann doch nur die Üblichkeiten abhandelnden Unterhaltungen.
Und nein, Houellebecq war nicht abwertend gemeint — im Gegenteil, ich schätzte ihn von Anfang an, aber das eben als Romanschreiber. Ansonsten scheint er ja doch in unserem Sinne wenig „kommunikativ“ (was sein gutes Recht ist: ich habe auch Verständnis für seine Misanthropie). Mein Eindruck ist nur, er hat außerhalb seiner Literatur aber eigentlich auch nichts mitzuteilen sondern wird nur andauernd „befragt“. Was ja nicht schlimm ist, denn es ist überhaupt eine Unsitte, dass Schriftsteller sich außerhalb ihrer Bücher verbreiten. „Karte und Gebiet“ fand ich übrigens auch gut, obwohl es nach m. M. etwas konventioneller ausfiel als die anderen Bücher.
Lispector schätze ich seit Jahren, ich habe alle ihre — seltsamerweise oft vergriffenen — Bücher. Wenn Sie die „Passion“ nirgends mehr bekommen, können Sie von mir kriegen, ich habe sie zwei mal. Ich hatte mich für eine Hörbuch-Version stark gemacht, es gab auch einen Kontakt mit Suhrkamp für die Rechte, aber dann haben wir keine geeignete Sprecherin gefunden. Die „Passion“ ist übrigens sicher ihr stärkstes Buch. Lispector ist ja zum Teil auch etwas sehr eigen, frauen-mystisch — aber darin eben auch wiederum literarisch „experimentell“, ich meine immer etwas von der Bachmann bei ihr zu finden, nur eben „magischer“ oder weniger vernunft-europäisch gezähmt. Muss man mögen.
(Benjamin war tatsächlich mitzudenken und er kommt in einem anderen Textteil auch noch vor, allerdings in einer Weise, wie ich es bisher kaum je hörte — nämlich als Drogenexperimentator. Ich überlege aber, das auch wieder rauszunehmen bzw. stark zu verkürzen. Es hat aber für mich eben auch einen biographischen Belang seit einem düsteren Aufenthalt in Marseille, weil ich da einmal herum dem Hotel Continental auf Benjamins Spuren war. Im Text wird das aber nicht eigentlich philosophisch.)
In der noch erträglich kühlen Morgenstunde will ich Ihnen antworten. Gestern spät hatte ich vor Müdigkeit und im Nachklang dieser neu heraufziehenden Gluthitze keine Konzentration mehr dazu.
Noch einmal kurz zu Houellebecq und seinem letzten Künstlerroman. Ich empfinde ihn auch als ein geschicktes Unterlaufen der Erwartungen des heutigen Literaturbetriebes, in dem der Roman alle Versatzstücke eines Unterhaltungsromans in sich aufsaugt und dadurch selbst zu einer Art Spiegel nicht nur des Autors selbst, sondern des moderen Kunstbetriebs und der moderen Welt an sich wird. Die inhaltliche Zusammenfassung auf Wikipedia finde ich gar nicht so schlecht und der von Keuschnig kurz angesprochene dystopische Aspekt war mir beim Lesen gar nicht so aufgefallen.
Ich bin gespannt, wie Ihr Emailprojekt aussehen wird, aber habe noch keine konkrete Vorstellung von der Form. Ein fragmentarischer Quarakter wäre bei einem elektronischen Medium ohnehin der passendere Ausdruck. Aber ich will nicht weiter spekulieren. Was konventionelle Briefe betrifft fällt mir gerade ein Bändchen, das mir vom Grabbeltisch in die Hände fiel, ein: Helene Hanffs „84, Charing Cross Road„. Aber das betrifft eine völlig andere Zeit in New York und hat doch in in seinem dokumentarischen Charakter auch sehr menschliche Züge. Noch ein Beispiel für das fiktive Aufbereiten von Briefen: „Adressat unbekannt„. Habe ich leider wieder verschenkt, aber dem Wikipedia-Artikel sollte man vielleicht auf die Sprünge helfen.
Was für ein Zufall, dass sie sich schon mit Lispectors „Passion“ beschäftigt haben und sogar so nett sind, mir Ihr doppeltes Exemplar anzubieten. Darauf wäre ich natürlich nur im Tausch gegen ein anderes Buch von mir eingegangen, aber jetzt habe ich bei einer Suhrkamp-Ausgabe für 6,50 € einfach zugeschlagen und bestellt. Trotzdem noch einmal Danke für Ihr großzügiges Angebot. Was die literarische Vorwegeinschätzung betrifft, vielleicht sollten sich Männer grundsätzlich daran gewöhnen, dass Frauen anders schreiben als sie selbst und das als eine Erweiterung ihrer eigenen Weltsicht begreifen. Aber jede Äußerung über die literarische Geschlechterproblematik bleibt irgendwie verfänglich. Bestimmte Männer schaffen es ja sogar, den weiblichen Sprachgebrauch täuschend echt zu imitieren. Dass die Natur unterschiedliche Geschlechter erfand, bleibt ihr genialster Schachzug und die Mimikry gleich dazu.
Habe ich mich zumindest bei den Anklängen was Benjamin betrifft in dem Text doch nicht ganz geirrt. Aus dem Nachlass gibt es wohl nur den Band „Über Haschisch„. Kenne ich nicht und glaube auch, dass die Literatur selbst schon halluzinatorisch genug sein kann. Aldous Huxley, William S. Burroughs, andere frühe Beispiele gibt es ja genug. Den Konsum von Haschisch halte ich für ausgesprochen harmlos und der Versuch, diese Droge gegenüber dem Alkohol zu kriminalisieren ist ein bürgerliches Ablenkungsmanöver.
Lang, lang ist’s her, seit ich diesen alten Schweizer Film gesehen habe. Anne-Marie Blanc wurde eine der grössten Theaterschauspielerinnen unseres Landes. Schade werden heute hauptsächlich nur noch E-Mails und SMS geschrieben. Ich vermisse die handschriftlichen Briefe manchmal sehr.
Ich muss allerdings zugeben, dass ich selbst auch fast ausschließlich nur noch Geschäftsbriefe schreibe. Der letzte handschriftlich private Brief liegt bestimmt schon ein paar Jahre zurück. Die Informationsgeschwindigkeit nimmt eben rasant zu, da scheint nur noch das Elektronische mithalten zu können. Eine Art Rückbesinnung auf eine bewusste Verlangsamung war ja auch lange Zeit ein literarisches Thema. Heute bloggen wir, aber diese Art Flaschenpost ins Unbekannte kann natürlich kein Ersatz sein, denn der Privatbrief hat(te) meist eindeutige und begrenzte Adressaten. Wenn man ihn zuklebte, konnte man sogar mit einiger Sicherheit davon ausgehen, dass er nur von diesen gelesen wurde. Wie wärs also, wenn die NSA oder der BND wieder auf Wasserdampf wechseln müssten.
Gerade recherchierte ich noch ein wenig über Anne-Marie Blanc, die erst kürzlich im hohen Alter gestorben ist. Ihre „Karriere“ wird auch auf FemBio gut beschrieben. Wohl auch ein Beispiel dafür, dass wahre Schönheit kein Alter kennt. Über einen Satz in einem Interview von ihr auf Schweiz, Deutschland und das Schweizerdeutsche angesprochen, antwortete sie, sie wäre ein Gemisch mit dem Satz: „I bin a Brück über den Rösti-Grabn“. Das ließ mich schmunzeln.
Ich bin ja auch so ein Liebhaber alter Filme – nicht aller, aber bestimmte Sorten sind für mich durch all die Techno-Flash-Hollywood-Superstar-4 D-Machinationen eben nicht zu überbieten. Aber ich denke nicht, dass man sich auch hier damit immer schon generationenmäßig eindeutig positioniert: Viele Dinge sind ja von heute aus (trotz ihrer uns ungleich simpler erscheinenden Plots) schon nicht mehr richtig verständlich und sprechen trotzdem herüber die Zeiten (oder sprechen eben in Rätseln), während andere – mein bisher von niemandem „überholter“ Favorit: Michelangelo Antonioni – bis heute nicht nur stilbildend sondern auch singulär bleiben. Bezeichnend, dass die besseren neuen Regisseur ihn wieder zitieren. (Am bekanntesten sicher Christian Petzold.)
Gerade neulich – ich versuchte etwas Lebendigeres darüber zu erfahren als immer nur alles nachzulesen in wikipedia – fiel mir jemand ein, der kaum halb so alt ist wie ich, aber alles über französische Noir-Filme aus den 60ern und 70ern weiß – voriges Jahrhundert!
***
Auf die ganzen genannten Namen und Dinge zum Briefroman kann ich kaum alle eingehen, aber mir kommt beim Lesen ihres Posts noch ein anderer Gedanke.
Etliche Leute, die ich kenne, haben schon ihre eigenen Brief-Romane auf der Festplatte – natürlich wiederum als Mails, und immer mal wieder kommt ihnen auch die Idee, sie zu veröffentlichen, weil man sie (als zum Teil ja gefühlsmäßig heftig durchlebte Episoden) eben als persönliche Markierungen und außerdem als konsekutive Entwicklungen irgendwie auch als „erzählerisch“ ansieht.
Und sind sie es nicht? Oder anders gefragt: Sind klassische Brief-Romane (außer dass sie Literatur sind, aber was, überspitzt gefragt, ist die heute schon noch, da alle zu Schreibern geworden sind?) irgendwie nachhaltiger in ihrer Form als die von allen möglichen relevanteren, beziehungs-technisch moderneren Einflüssen durchzogenen Mails? Die mit den persönlichen Zeitläuften ja immer auch noch viel Wandel selber dokumentieren?
Für mich sind Kafkas Briefe an seine diversen Damen nach wie vor die wichtigste Orientierung, auch ohne etwa die Antwortschreiben Felices – und auch ohne Geschlechtsvertauschungen sind sie voller unerhörter Ideen über so etwas wie „Virtualität“, sie sind dauernd angespielte Möglichkeitsräume und persönliche Erweiterungen hin zur Angeschriebenen und sind immer auch spannende Erzählung, und sei’s nur augenblickshaft überspannter Subjektivität.
Aber weil auch davon so viel in den Mails steckt und andererseits so vieles implizit darin ist und vom Leser ergänzt werden muss, haben diese nicht tatsächlich auch etwas Literarisches, erzählen einen Plot und als Gedanken oder Referenzen etliche Binnenerzählungen und so weiter? (Auch wenn es mit ihnen natürlich nicht zu solche überlegten und komplexeren Formen wie bei Keller reicht.)
Ich überlege also manchmal, ob man das vielleicht akzeptieren soll und ob das schon einer der Fälle, bei denen alte literarische Formen selber sich verwandeln, aber dadurch eben auch durchaus noch stattfinden. Dass mit den Täuschungen und der Anonymität könnte man dann als Bedingungen, oder oft sogar erst als Voraussetzung begreifen – wer würde sich schon entäußern, wenn er von vornherein „bloß“ steht?
Dass es das alles schon gegeben hat, und raffinierter, kunstvoll komponierter, könnte man natürlich denkwürdig finden. Aber vielleicht war eben das besser Komponierte auch immer schon die Ausnahme. Dass es weiterlebt und sich womöglich noch entwickelt, wäre ja doch irgendwie gut.
Das Zitieren bzw. die Verbindung von Petzold und Antonioni würde mich genauer interessieren. Ich bin bei weitem kein Cineast. Von Antonioni erinnere ich mich nur an „Blow up“ und „Zabriskie Point“ mit der Musik damals von Pink Floyd und Petzold fiel mir zuerst eigentlich nur durch das Fernsehhighlight „Dreileben“ auf, wo mich der Tanz eines jungen Paares in der Episode „Etwas Besseres als den Tod“ fasziniert hat. Gute Schwarz-Weiß-Filme finde ich oft in ihrer Bildsprache viel ausdrucksvoller, weil sie mit Winkeln von Licht und Schatten spielen. Überhaupt habe ich einen Hang zum Reduzierten, vermutlich typisch gotisch deutsch, denn die barocke Überfülle erschlägt mich mehr. Licht und Schatten erinnert mich gerade an ein altes Filmplakat von „Schatten und Nebel„, das Anfang der Neunziger meine Wände zierte, um dann beim Umziehen endgültig verloren zu gehen. Wo Sie doch später Kafka erwähnen, dazu hatte dieser Film auch Bezug, aber mich faszinierte nur das Filmzitat des überdimensionierten scheinbaren Vampirs. Woody Allen Fan bin ich nicht gerade und auch die „Techno-Flash-Hollywood-Superstar-4 D-Machinationen“ taugen allenfalls zum Zeit totschlagen.
Ich wollte Ihnen wenigstens noch kurz heute antworten, aber jetzt ist doch schon der andere Tag angebrochen und die Mitternachtsstunde schon fast vorbei. Deshalb breche ich hier erst einmal ab und wünsche Ihnen eine Gute Nacht. Ich setze meine Antwort dann wahrscheinlich erst morgen in den kühleren Abendstunden fort. Bis dahin einen herzlichen Gruß.
Heute antworte ich mir selbst als Fortsetzung von gestern:
In den „mißbrauchten Liebesbriefen“ plant der Hobbyschriftsteller Viggi auch, die Korrespondenz mit seiner Ehefrau nachträglich als Briefroman zu veröffentlichen. Wahrscheinlich aber mit dem Dünkel, seinen eigenen Briefen den Glanz schriftstellerischer Weihen zu verleihen, vermutlich sogar in Absetzung von denen seiner weniger versierten Ehefrau. Da liegt ja ein gefährlicher, aber auch produktiver Keim der Literatur: die Selbstüberhöhung. Klassische Briefromane dagegen sind weniger subjektiv, als gesellschaftsabbildend. Überhaupt sollte die Intention des Schriftstellers immer auch der Gebrauch des Ichs als ein Exemplarisches sein und nicht mit seinem realen verwechselt werden. Das platte Veröffentlichen von Emailvervehr oder privaten Briefen ist noch keine künstlerische Leistung. Bei aller Subjektivität von Protagonisten letztlich die Fähigkeit, von sich selbst wegweisen zu können, um dennoch mit dem eigenen Inneren auch das Äußere zu gestalten, darin besteht eigentlich meine Auffassung schriftstellerischer Tätigkeit.
Der Brief- und Blog-Roman „Punk Pygmalion“ von J. S. Piveckova, als ein jüngeres Beispiel, stellt für mich eine gelungene Symbiose von vermutlich authentischem Briefmaterial mit fiktiven Emails und erzählenden Komponenten dar. Der authentische Brief ist nur ein Dokument, das auf die künstlerische Gestaltung wartet, die immer alles, auch schon Vorhandenes, wieder neu erzählen kann. So kunstvoll er auch geschrieben sein mag, selbst Kunst ist er nicht. Nicht einmal wenn ihn Kafka selbst geschrieben hat. Ein Brief oder eine Email allein, meinetwegen auch als narrativer Thread aufgefasst oder auch ein Weblog mit seinen Kommentarsträngen sind für mich, allein in ihrer Präsenz gesehen, noch kein Kunstwerk, das als geschlossenes für sich stünde. Obwohl man natürlich auch sagen könnte, die Beurteilung, ob etwas Kunst sei, läge allein im Auge des Betrachters. Nur dann wäre ohne die Geschlossenheit (und damit meine ich nicht die selbstverständliche in ihm immer angelegte immanente Offenheit zum Rezipienten hin) eines vom Künstler hervorgebrachten unikaten Werkes, die ganze Welt ein Kunstwerk. Wer möchte bestreiten, dass sie das wahrscheinlich ist. Nur wer war ihr Urheber? Die Kunst der Menschen scheint mir mehr in dieser Frage selbst aufgehoben, als eine Antwort darauf zu sein.
Noch einmal herzlich
Der Buecherblogger
Gab es vor ein paar Jahren nicht schon den Mailwechsel zwischen Houllebecq und BHL wenige Monate nach dem Abschicken der Nachrichten als fertiges Buch? Wieviel Sorgfalt mag da dringesteckt haben (ich habe das Buch nicht gelesen)? Vor allem: Wieviel Pose ist dabei, wenn die Autoren wissen, dass es nur ein paar Monate dauert bis ihre Nachrichten publiziert werden? Ungute Beschleunigung.
Ein Briefwechsel, der von vornherein für die nachträgliche Publikation intendiert war, verliert auch jedes Geheimnis der Intimität und fordert zur wechselseitigen Selbstinszenierung geradezu heraus. Im Falle von „Ennemis publics“ (blöde Übersetzung „Volksfeinde„) spricht die Zeit von mehr oder weniger gelungenem „Philotainment“. Sicher ein Sonderfall.
Die Unterscheidung zwischen fiktionalen Briefromanen und der Herausgabe eines tatsächlich stattgefundenen Briefwechsels ist evident. Zwischen zwei Buchdeckel allerdings passt so ziemlich alles Mögliche. Houellebecqs Briefwechsel mit Bernard-Henri Lévy habe ich auch nicht gelesen, dafür als bisher einzigen Roman von Houellebecq vor einiger Zeit „Karte und Gebiet„, den ich als modern und intelligent erzählt in guter Erinnerung habe.
Mich interessiert mehr von der Kommunikationstheorie her, woher eine Nachricht eigentlich ihren Kern oder unseren rezipierenden Impuls erhält, sie als wahr oder zumindest aufrichtig gedacht zu akzeptieren. Bringt das lediglich die Nachricht in ihrer logischen Konsistenz selbst mit oder muss beim Empfänger eine Offenheit und Bereitschaft existieren, den Inhalt als vertrauenswürdig zu akzeptieren. Worauf beruht unsere Akzeptanz in der Kommunikation? Gibt es überhaupt so etwas wie kommunikatives Vertrauen im öffentlichen Raum wie z. B. Weblogs im Internet. Was sagt mir, dass Sie nicht Gregor Samsa oder nur Handkes Torwart sind? Birgt unsere kommunikative Wahrnehmung per se die Gefahr, subjektive Täuschung zu sein und schrieben wir dann nicht alle nur auf die Rückseite eines blinden Spiegels?
Houellebecqs letztes, nihilistisches, postkapitalistisches Bild in „Karte und Gebiet“ hat für mich auch eine Spur Tröstliches:
„Dann wird alles ruhig, und zurück bleiben nur sich im Wind wiegende Gräser. Die Vegetation trägt den endgültigen Sieg davon.“
Meine Idee war, es könnte, bezogen auf den Privat-Mail Verkehr, der dann anschließend dokumentiert wird, auch Argumente vielleicht für das immer schnellere Verfertigen der Gedanken geben (und also auch ihren vorbehaltloseren oder willentlich unabgewogen dadurch vielleicht zu mehr Ehrlichkeit vordringenden Austausch).
Vieles an Gedanken wird ja, genauer oder auch nur zwei mal bedacht, gar nicht erst geäußert. Darin eine Verbesserung für die als gereinigte auftretende oder die überlieferte Schrift. Aber die lässt eben auch Vieles aus, das durch Skrupel verhindert wird und trotzdem einen mitteilenswerten Gehalt haben mag. (Und sei es eben einen sonst aus allen möglichen Gründen Kaschierten. Im Privaten, zumal im emotionserhitzten Privaten aber will man ja alles vom Gegenüber wissen – und eben das kann die Qualität eines ansonsten oft faden Austausches sein.)
In die Zeitvorstellungen etwa von Botho Strauß’ „Plurimi“ können wir ja nicht mehr zurück. Und auch viele namhafte Geister sind außerhalb ihrer quasi-professionellen Hervorbringungen eben auch uninteressant. Houellebecq ist eben Romancier – schon als Lyriker finde ich ihn … na ja, nicht ausreichend originell.
Tatsächlich gibt es eine Qualität an Einsichten in eben den Ungeschminktheiten – etwa wie bei den Poètes Maudit -, die natürlich andere Zumutungen bereit halten können.
@Buecherblogger
Ich vermute, die Qualität einer Kommunikation liegt tatsächlich in der Neuheit. Information wäre dann tatsächlich, „der Unterschied, der einen Unterschied macht“ (G. Bateson). Diese Neuheit muss kein Faktum oder nicht mal ein Gedanke sein, sondern kann irgendeine Nebensächlichkeit sein, die einen berührt, irgendeine Nuance, die aus den Worten aufscheint. Und die Bestimmung und Rezeption dieser Neuheit ist letztlich wieder subjektiv.
Noch mal komplizierter wird es dann beim Anspruch auf etwas „künstlerisches“.
Ich hatte neulich etwas nachlesen wollen bei Celine, und stellte auf einmal fest, dass ich das nicht mehr lesen konnte. Die von so vielen Seiten bestätigte Kunst an „Reise ans Ende der Nacht“ ist für mich vollständig verflogen.
Ich halte das „schreib wie Du sprichst“, all die neuere Literatur ohne durchgearbeitete Sprache, wahrlich für keine Errungenschaft. Aber ihre Effekte sind trotzdem da. Und womöglich kommt man daher auch meine Toleranz – oder meine dahin verschobene Hoffnung – auf andere Qualitäten.
(By the way: ich habe ein Langzeit-Projekt mit [meist anonymen] Emails, die ich interessant bis aufregend zu lesen finde. Das rührt auch daher, dass oft nur ein Sprecher da ist der Gegenpart fehlt. Gut, das ist dann kein Email-Roman – aber eben in der Abwesenheit einer Stimme, die zu ergänzen bleibt, auch wieder annähernd „Literatur“. Und seit Glattauer – da noch in der sattsam bekannt romantischen Tradition – ist das womöglich schon wieder ein eigenes Genre.)
Ich verstehe, was sie bei „Ungeschminktheit“ und Spontanität als eine Art Mehrwert empfinden á la écriture automatique, aber ich befürchte, dass es in den meisten Fällen tatsächlich doch nur auf die Nachlässigkeit des in Eile Begriffenen hinausläuft. Ich sehe in der Email keinen unbedingten Fortschritt, was die Ausdrucksfähigkeiten anbelangt. Allerdings ist es in jedem Medium immer eine Frage, wer und mit welchem Anspruch auch an sich selbst dort jemand schreibt. Die spontane Offenherzigkeit könnte auch recht peinliche Blüten mit sich tragen, denn gerade war ich versucht Ihnen, indem ich an mir herunterschaute, etwas von meinen medizinisch bedingten körperlichen Unvorteilhaftigkeiten mitzuteilen. Schnell aber meldete sich die Muse meiner Zensur, falls es so etwas gibt, und ich kleidete es in diese geheimnisvolle Andeutung, bei der ich es belasse. Insgesamt bedaure ich, dass der private Brief so gut wie tot ist, in Emails kann man ja nicht einmal eine Handschrift erkennen.
Sie benutzen den Begriff „Romancier“ für Houellebecq pejorativ. Das klingt ein wenig herablassend so, wie man vielleicht noch Frauen im 18. Jahrhundert betrachtete, wenn sie erbauliche Romane schrieben oder als vernachlässigten Schriftsteller, die Romane schreiben, eine straffe Form der Genauigkeit und ergingen sich in ausufernden, dem Feuilleton gefallenden Schwafeleien. Aber ich ergreife hier keine Partei für Monsieur Houellebecq, dessen Name sich interessanter, aber doch ähnlich anhört wie mein eigener. (Fällt mir merkwürdigerweise gerade jetzt erst auf)
Das mit der nuancenhaften Neuigkeit verstehe ich auch, aber frage mich gerade, ob das Neue überhaupt ein Wert an sich ist. Für den einen ist es etwas Neues und für den anderen sind es alte Karamellen oder nur neuer Wein in alten Schläuchen oder auch umgekehrt. Ich glaube Celine habe ich einmal angelesen, aber war mehr von dem schönen Titel fasziniert, als dass ich weiter auf die voyage au bout de la nuit gehen wollte. Die Bücher gleiten einem auch wie Zufälle durch die Hände. Erst kürzlich recherchierte ich ein wenig Bolaño und landete bei der brasilianischen Schriftstellerin Clarice Lispector. Jetzt bin ich ganz begierig „Sternstunde“ oder „Passion nach G. H.“ irgendwo günstig aufzutreiben. Vorbei fliegende Zufälle, die auch nur wegen einer Kleinigkeit Gefallen finden und im Bewusstsein haften bleiben. Hier war es die Widmung an den Leser in der „Sternstunde“, die ich irgendwo dann auf Englisch fand. Oder ich sehe gestern einen Film: „Margaret“ und suche dann die Übersetzung eines Gedichts von Manley Hopkins, das darin vorkam: „Spring and Fall„. Der Leser wird zwischen den Büchern hin und her geworfen, wie in diesen Spielballbecken bei IKEA die Kinder in den bunten Bällen baden.
Aber es stimmt, dass die innere Zensur machmal die Mitteilungsbereitschaft hemmt. Ich las z.B in Ihrem Blog eine Reiseerinnerung über einen Grenzübertritt mit der Bahn von Spanien nach Frankreich bei Port Bou. Ich las die ersten Sätze und den ganzen Artikel hindurch schimmerte das Schicksal Walter Benjamins durch ihre Schilderungen hindurch. Kommentiert habe ich es nicht, weil ich dachte, alle Welt schmückt sich mit Benjamin-Bezügen und mein Eindruck war auch eher der eines subjektiven Hineinlesens, wo von W. B. dort aber explizit nichts stand. So ließ ich es. Und wie merkwürdig es ist, jetzt hier nachträglich davon zu schreiben.
Zu was das „Langzeitprojekt Email“ einmal werden wird, würde mich interessieren. Auch den Hinweis auf Daniel Glattauer und seinen Briefroman „Gut gegen Nordwind“ finde ich interessant. Kannte ich nicht und bestätigt mir einmal mehr die Fallstricke einer anonymen Kommunikation. Zu kommunizieren, ohne sich persönlich zu kennen, birgt große Risiken und viele Missverständnisse. Ich habe beim Bloggen bisher dreimal diese Erfahrung selbst machen dürfen. Eigentlich ein Austausch mit Menschen, die mir durchaus am Herzen lagen, aber wo sich dann doch immer wieder ein Bruch ergab, der vermutlich auf gegenseitiger Enttäuschung beruhte. Niemand ist dabei ohne Schuld, denn was uns doch am meisten interessiert, sind unsere eigenen Erwartungen. Die aber scheinen mir im schriftlichen Online-Austausch zu oft gegenseitig enttäuscht zu werden.
Wir Online-Subjekte einer hektischen, disparaten, modernen Welt sind eben auch nicht besser als unsere Offline-Kollegen/innen aus vergangener Zeit.
@Der Buecherblogger
Naja, irgendwann werden Briefe und Tagebücher bekannter Schriftsteller doch durchaus im Wissen damit geschrieben, dass sie irgendwann (und sei es nach dem Tod) publiziert und damit ausgewertet werden. Hierin liegt ja womöglich auch eine Art ambivalente Spannung: Wie kommt der Dialog (oder, im Tagebuch, der Monolog) „an“? Ich halte es ja für ein Gerücht, dass Literaten nicht an den Deutungen ihrer Werke interessiert sind (Ausnahmen dürften die Regel bestätigen). Es ist vielleicht zuweilen eine Art Haßliebe auf die Reaktionen.
Die Überlegungen zur Kommunikation im öffentlichen Raum mag ich in ihrer Schwermut nicht teilen. Wenn Sie sicher gehen können, dass derjenige, der unter „Gregor Keuschnig“ postet immer der gleiche „Gregor Keuschnig“ ist, dann müsste das doch eigentlich reichen. Ich mag auch nicht den Mückensturm der Kommentatoren, die zwei, drei despektierliche Äußerungen posten und dann auf Nimmerwiedersehen verschwinden. Aber das hat man doch im „richtigen Leben“ zuweilen auch, diese Art der Einmalkommunikation. Dabei ist es doch egal, ob das der König von Belgien und ein Hartz-4-Empfänger ist. Insofern ist Ihr Satz, dass die Online-Subjekte nicht besser sind als die Offline-Kollegen der Schlüssel zur Lösung.
Von Houellebceq habe ich vor allem „Elementarteilchen“ und dann später „Die Möglichkeit einer Insel“ in Erinnerung. Die Romane haben viele Leerstellen und es finden sich zum Teil bewusst gesetzte (meist sexuell konnotierte) Provokationen. Aber beiden gemein (man könnte sie auch als Fortsetzungsbücher lesen) ist eine dystopische Sicht auf die Zukunft der Welt, die ohne Larmoyanz oder gar Pathos daherkommt. Diese Verzweiflung der Protagonisten an ihrem Leben – und die gleichzeitige Schönheit dieser Existenz – das ist schon ziemlich gut eingefangen und hat mich insbesondere gegen Ende durchaus berührt („Ausweitung der Kampfzone“ fand ich dagegen peinlich). Houellebecq will aber mehr als Provokation und ökonomischen Erfolg: er will als Intellektueller ernst genommen werden. Daher womöglich der Mail-Wechsel mit BHL.
Dass man als Schreibender das Feedback der Rezipienten völlig ausklammert, halte ich ebenfalls für unwahrscheinlich. Der Künstler ist eitel, auch wenn er es leugnet. Jedoch nur positive Besprechungen herauszupicken, um das eigene Haupt mit einem noch imposanteren Dichterkranz zu begrünen und weitestgehend unkritisch gegenüber der eigenen Arbeit zu sein, missfällt mir. Jedes Lob akribisch sammeln, aber von Selbstkritik keine Spur, leider kein Einzelfall. Im Moment staune und erfreue ich mich gerade an dem Feedback hier in den Kommentaren. Ich habe schon länger keinen Beitrag mehr veröffentlicht und dennoch verselbständigt sich hier der Kommentarthread.
Briefe und Tagebücher schon im Voraus mit dem Impetus der späteren Veröffentlichung zu schreiben, ist für mich auch an der Grenze zum vorweggenommenen Eigenlob. Arroganz geht bei mir gar nicht, außer man ist eine so anerkannte Künstlergröße, dass diese stillschweigend als nun einmal zur Persönlichkeit dazugehörig ignoriert werden kann. Mir ist ein Autor lieber, der nicht schon von vornherein nach dem Publikum schielt, sondern unbeirrt seinen eigenen Weg geht, mag er auch steinig sein oder wenig honoriert werden.
Was die Online-Kommunikation betrifft, haben Sie schon irgendwie recht, aber ich finde nach wie vor, dass unser Gefühl, aus mehreren Ichs zu bestehen oder in der Beschaffenheit der moderen Welt einen Identitätsverlust zu beklagen, noch lange kein Grund ist, andere ebenfalls an einer Kommunikation teilnehmenden Menschen bewusst zu täuschen. Aber von meiner Schwermut, einen bestimmten Fall betreffend, sollte ich mich befreien, auch da gebe ich Ihnen recht. Erstaunlich ist das Wiedererkennen eines bestimmten Schreibstils. Es wäre ein interessantes Experiment, ob man jemanden nur an seinem Textstil wiedererkennen könnte. Ich vermute fast ja. Dass die Sprache etwas so Individuelles sein kann, scheint mir das größte „Pfund“ eines Schriftstellers. Unverwechselbarkeit, aber vielleicht ist auch das nur eine Illusion.
Ich sah mal ein Interview mit Houellebecq und fand seine einsilbigen Auslassungen und kleinen Beleidigungen fast eine Zumutung, aber wie er in „Karte und Gebiet“ exemplarisch an dem bildenden Künstler Jed den ganzen Kulturbetrieb und das Künstlertum an sich auch irgendwie ironisch durch den Kakao zieht, den „Verfasser der Elementarteichen“ nicht ausgeschlossen, ist facettenreich und gut gemacht. Da bekommen alle ihr Fett weg, das Feuilleton, der abgehobene Kunstbetrieb, vermutlich ein Spiegel seiner eigenen Rezeption im literarischen Bereich. Aber ob der abgeklärte Nihilismus nicht selbst wieder eine Attitüde ist, weiss er vermutlich nicht einmal selbst.
Ja, vielleicht ist der „abgeklärte Nihilismus“ (sehr schön!) tatsächlich Attitüde. So, wie dann irgendwann alles Attitüde, Arroganz, Pose oder sonstwas sein kann und sein wird. Aber setzt sich daraus nicht gerade der Künstler zusammen? Dass jemand wie Thomas Mann irgendwann wusste, dass seine Aufzeichnungen verwertet werden – macht sie das schlechter? Doch eher nicht, weil sie – im Zweifel – dann wieder als Literatur gelten müssen, können, sollen.
Wir werden keinen uneitlen, „perfekten“, moralisch einwandfreien, sterilen Künstler / Schriftsteller finden. Wenn es ihn geben sollte, dürfte seine Kunst langweilig und öde sein. Es braucht womöglich dieser Spannung, dieser Spur des Asozialen, damit aus Geschriebenes am Ende Literatur entsteht. (Daher hasse ich diesen Trend nach „authentischen“ Autoren, weil sie nur Verstellungen produzieren. Der „authentische“ Autor ist mehr als uns lieb ist ein – freundlich ausgedrückt – schwieriger, komplizierter Zeitgenosse.)
Ich glaube mir geht es bei authentischen Autorenbriefen zunächst nur um ihre Unterscheidung von den Werken an sich. In denen sehe ich objektivierte, zumindest vom Künstler abgeschlossene, als solche verfasste Kunstwerke. Die Briefe eines Künstlers erreichen ihre Aufmerksamkeit meist erst durch seine nachträgliche, bisweilen auch erst posthume Berühmtheit. Sicher können sie in sich Ausdruck künstlerischen Schaffens und auch kunstfertig sein, aber ob ein Künstler sie selbst zu seinen Werken zählen würde? Das scheint mir immer erst eine Frage der späteren Herausgeberschaft zu sein. Oft will jemand seine private Korrespondenz auch gar nicht veröffentlicht sehen. Ich merke doch zum Beispiel schon jetzt an mir selbst, dass ich beim öffentlichen Schreiben doch mehr abwäge, als ob ich jemandem privat schreiben würde. Dieses Bewusstsein hat eine Spur von innerer Zensur, auch in der Weise, dass ich mich bemüht fühle, doch einigermaßen sorgfältig zu schreiben. Die von Rainer Rabowski als spannend empfundene spontane Äußerung ohne Rücksicht auf ihre Öffentlichkeitswirkung entfällt dabei größtenteils. Obwohl, im Moment hämmere ich hier in die Tasten was das Zeug hält, wie man so sagt und was kümmert es mich, ob das meinem öffentlichen Eindruck schadet. Schreiben, als ob man nichts zu verlieren hätte, das wäre auch eine schöne Schreibhaltung. Der reine Intellektuelle wägt dagegen seinen Gedanken in Hinblick auf dessen rhetorische und geistige Eleganz. Aber auch der Schriftsteller gibt am Ende einen durchgearbeiteten Text ab, der die von ihm beabsichtigte Wirkung entfalten soll. Langsam verstehe ich besser, was Rabowski an unmittelbaren Äußerungen, meinethalben auch in Emails, findet. Aber vielleicht verlaufe ich mich gerade zwischen zwei unterschiedlichen Kommentaren.
Das Künstlerbild ist in jeder Epoche und wahrscheinlich schon von jeder Seite wissenschaftlich erörtert worden. Natürlich haben Sie recht, dass der angenehme Künstler wohl auch nur flach angenehme Texte verbreiten würde. Selbstverständlich gibt es auch den authentischen Autor in dem Sinne nicht, dass er deckungsgleich mit seiner Literatur sein müsste. Literatur ist schließlich nicht die bloße Wiedergabe des eigenen Lebens, aber vielleicht sollte sie etwas von dem Restkern des Authentischen in uns allen suchen, als ihn nur durch sprachliche Spielerei zu verdecken trachten. Aber es wird nie so etwas wie „richtige“ oder „falsche“ Literatur geben, dazu ist sie zu vielfältig und jegliches Definitionsgefängnis würde sie ärmer machen.
Nein, nein — unter „automatischem Schreiben“ verstehe ich etwas anderes. Es sollte schon ein dezidierter Mitteilungsimpuls da sein, ein Drängen, sonst kommt nichts. (Sich bei bloßem Gerede auf „Surrealismus“ herausreden ginge da auch nicht.)
Allerdings: Peinlichkeit ja. Nämlich dann, wenn sie etwas herausbringt, und zwar nicht im Sinne einer Geständnisinnigkeit, sondern des Wagnisses, in der privaten Kommunikation tatsächlich etwas Wesentliches auszusprechen, das sonst eben unter den Tisch fällt. Ich denke da wirklich an Aufklärung, nicht an irgendwelche Sensatiönchen oder Schlüpfrigkeiten. Mit Diskretion ist es, wenn es auf den Punkt muss, ja doch eher schwierig, und mit Andeutungen, fürchte ich, kommt man heute nicht mehr weit.
Und noch: Ich glaube, ich kenne diese von Ihnen angesprochene Sorte Enttäuschungen im Emailverkehr — und noch andere. Für mich war dieser ganze Komplex und die Beschäftigung mit Virtualität als nicht-identitären Möglichkeitsraum einmal ziemlich wichtig. Aber heute bin ich damit weitgehend durch, so dass diese Mail-Sache ein Teil einer Art Abschluss damit für mich sein wird. UND ich denke, es ist gerade als fragmentarisches Werk interessant zu lesen. Denn offen gestanden langweilen mich diese oft quälerisch ausführlichen, am Ende des dann doch nur die Üblichkeiten abhandelnden Unterhaltungen.
Und nein, Houellebecq war nicht abwertend gemeint — im Gegenteil, ich schätzte ihn von Anfang an, aber das eben als Romanschreiber. Ansonsten scheint er ja doch in unserem Sinne wenig „kommunikativ“ (was sein gutes Recht ist: ich habe auch Verständnis für seine Misanthropie). Mein Eindruck ist nur, er hat außerhalb seiner Literatur aber eigentlich auch nichts mitzuteilen sondern wird nur andauernd „befragt“. Was ja nicht schlimm ist, denn es ist überhaupt eine Unsitte, dass Schriftsteller sich außerhalb ihrer Bücher verbreiten. „Karte und Gebiet“ fand ich übrigens auch gut, obwohl es nach m. M. etwas konventioneller ausfiel als die anderen Bücher.
Lispector schätze ich seit Jahren, ich habe alle ihre — seltsamerweise oft vergriffenen — Bücher. Wenn Sie die „Passion“ nirgends mehr bekommen, können Sie von mir kriegen, ich habe sie zwei mal. Ich hatte mich für eine Hörbuch-Version stark gemacht, es gab auch einen Kontakt mit Suhrkamp für die Rechte, aber dann haben wir keine geeignete Sprecherin gefunden. Die „Passion“ ist übrigens sicher ihr stärkstes Buch. Lispector ist ja zum Teil auch etwas sehr eigen, frauen-mystisch — aber darin eben auch wiederum literarisch „experimentell“, ich meine immer etwas von der Bachmann bei ihr zu finden, nur eben „magischer“ oder weniger vernunft-europäisch gezähmt. Muss man mögen.
(Benjamin war tatsächlich mitzudenken und er kommt in einem anderen Textteil auch noch vor, allerdings in einer Weise, wie ich es bisher kaum je hörte — nämlich als Drogenexperimentator. Ich überlege aber, das auch wieder rauszunehmen bzw. stark zu verkürzen. Es hat aber für mich eben auch einen biographischen Belang seit einem düsteren Aufenthalt in Marseille, weil ich da einmal herum dem Hotel Continental auf Benjamins Spuren war. Im Text wird das aber nicht eigentlich philosophisch.)
In der noch erträglich kühlen Morgenstunde will ich Ihnen antworten. Gestern spät hatte ich vor Müdigkeit und im Nachklang dieser neu heraufziehenden Gluthitze keine Konzentration mehr dazu.
Noch einmal kurz zu Houellebecq und seinem letzten Künstlerroman. Ich empfinde ihn auch als ein geschicktes Unterlaufen der Erwartungen des heutigen Literaturbetriebes, in dem der Roman alle Versatzstücke eines Unterhaltungsromans in sich aufsaugt und dadurch selbst zu einer Art Spiegel nicht nur des Autors selbst, sondern des moderen Kunstbetriebs und der moderen Welt an sich wird. Die inhaltliche Zusammenfassung auf Wikipedia finde ich gar nicht so schlecht und der von Keuschnig kurz angesprochene dystopische Aspekt war mir beim Lesen gar nicht so aufgefallen.
Ich bin gespannt, wie Ihr Emailprojekt aussehen wird, aber habe noch keine konkrete Vorstellung von der Form. Ein fragmentarischer Quarakter wäre bei einem elektronischen Medium ohnehin der passendere Ausdruck. Aber ich will nicht weiter spekulieren. Was konventionelle Briefe betrifft fällt mir gerade ein Bändchen, das mir vom Grabbeltisch in die Hände fiel, ein: Helene Hanffs „84, Charing Cross Road„. Aber das betrifft eine völlig andere Zeit in New York und hat doch in in seinem dokumentarischen Charakter auch sehr menschliche Züge. Noch ein Beispiel für das fiktive Aufbereiten von Briefen: „Adressat unbekannt„. Habe ich leider wieder verschenkt, aber dem Wikipedia-Artikel sollte man vielleicht auf die Sprünge helfen.
Was für ein Zufall, dass sie sich schon mit Lispectors „Passion“ beschäftigt haben und sogar so nett sind, mir Ihr doppeltes Exemplar anzubieten. Darauf wäre ich natürlich nur im Tausch gegen ein anderes Buch von mir eingegangen, aber jetzt habe ich bei einer Suhrkamp-Ausgabe für 6,50 € einfach zugeschlagen und bestellt. Trotzdem noch einmal Danke für Ihr großzügiges Angebot. Was die literarische Vorwegeinschätzung betrifft, vielleicht sollten sich Männer grundsätzlich daran gewöhnen, dass Frauen anders schreiben als sie selbst und das als eine Erweiterung ihrer eigenen Weltsicht begreifen. Aber jede Äußerung über die literarische Geschlechterproblematik bleibt irgendwie verfänglich. Bestimmte Männer schaffen es ja sogar, den weiblichen Sprachgebrauch täuschend echt zu imitieren. Dass die Natur unterschiedliche Geschlechter erfand, bleibt ihr genialster Schachzug und die Mimikry gleich dazu.
Habe ich mich zumindest bei den Anklängen was Benjamin betrifft in dem Text doch nicht ganz geirrt. Aus dem Nachlass gibt es wohl nur den Band „Über Haschisch„. Kenne ich nicht und glaube auch, dass die Literatur selbst schon halluzinatorisch genug sein kann. Aldous Huxley, William S. Burroughs, andere frühe Beispiele gibt es ja genug. Den Konsum von Haschisch halte ich für ausgesprochen harmlos und der Versuch, diese Droge gegenüber dem Alkohol zu kriminalisieren ist ein bürgerliches Ablenkungsmanöver.
Lang, lang ist’s her, seit ich diesen alten Schweizer Film gesehen habe. Anne-Marie Blanc wurde eine der grössten Theaterschauspielerinnen unseres Landes. Schade werden heute hauptsächlich nur noch E-Mails und SMS geschrieben. Ich vermisse die handschriftlichen Briefe manchmal sehr.
Es grüsst die Nostalgikerin
buechermaniac
Ich muss allerdings zugeben, dass ich selbst auch fast ausschließlich nur noch Geschäftsbriefe schreibe. Der letzte handschriftlich private Brief liegt bestimmt schon ein paar Jahre zurück. Die Informationsgeschwindigkeit nimmt eben rasant zu, da scheint nur noch das Elektronische mithalten zu können. Eine Art Rückbesinnung auf eine bewusste Verlangsamung war ja auch lange Zeit ein literarisches Thema. Heute bloggen wir, aber diese Art Flaschenpost ins Unbekannte kann natürlich kein Ersatz sein, denn der Privatbrief hat(te) meist eindeutige und begrenzte Adressaten. Wenn man ihn zuklebte, konnte man sogar mit einiger Sicherheit davon ausgehen, dass er nur von diesen gelesen wurde. Wie wärs also, wenn die NSA oder der BND wieder auf Wasserdampf wechseln müssten.
Gerade recherchierte ich noch ein wenig über Anne-Marie Blanc, die erst kürzlich im hohen Alter gestorben ist. Ihre „Karriere“ wird auch auf FemBio gut beschrieben. Wohl auch ein Beispiel dafür, dass wahre Schönheit kein Alter kennt. Über einen Satz in einem Interview von ihr auf Schweiz, Deutschland und das Schweizerdeutsche angesprochen, antwortete sie, sie wäre ein Gemisch mit dem Satz: „I bin a Brück über den Rösti-Grabn“. Das ließ mich schmunzeln.
Herzlichen Gruß
Der Buecherblogger