Literaturrezensionen sowie Kunst und Kultur eigener Art
Die Vergeblichkeit der Erinnerung IV
Der den Eierschalen seiner Pubertät noch nicht ganz entschlüpfte junge Mann lag in einem Krankenhausbett der documenta-Stadt Kassel. Geben wir ihm einen Namen, dann lebt es sich in der Welt der Buchstaben nicht ganz so unbehaust. Sein Name sei, nein, nicht Gantenbein, er hieß Ulrich Gärtner, kurz Ulli, oder besser, sein Name sei Gärtner. Denn für alles, was man schreibt, muss auf das Konjunktivische, das “sei” verwiesen werden. Sowohl auf der Seite des Schreibens, wie auch auf der des Lesens, gilt der Vorbehalt einer wohlwollenden Annahme. Sein Nachname war auch weder ein Indiz für seine Berufswünsche, noch taugte er zum Typ des obligatorischen Mörders, wie von dieser Berufsspezies in Krimis oft behauptet wird. Mit Ausnahme vielleicht der unvermeidlichen Vernichtung von einigen Fliegen und Insekten, die sein Gewissen aber immer gleich ethisch belasteten. Ganz im Gegensatz zu jenen Menschen, die gern im Stil ihrer Selbstbehauptung auf alles treten, was sie für kleiner erachten als sie selbst. Aber als was auch immer er und sein Selbst sich dem Leser herausstellen mag, es sind Momente und Teilgeschichten eines zeitlebens ziemlich kranken Menschen, ungeachtet der Tatsache, dass nichts langweiliger ist als Krankengeschichten. Doch sie könnten von Interesse sein, solange sie sich nach allen Seiten wie das unterirdische Rhizom eines Pilzes ausbreiten und sich Porträts langsam spinnennetzartig auf dessen Oberfläche abzubilden beginnen.
Elektrisch verstellbare Betten sollte er erst viel später kennenlernen und so hantierte er längere Zeit an dem Hebel für das verstellbare Kopfteil. Was sich jedoch in jenen nur zwangsweise aufgesuchten Gebäuden nie ändern würde, war deren Maschinerie, die zwei Dominanzlinien im Verhalten der Insassen zu erkennen gab: die allgemeine Personalhierarchie und das tägliche Ablaufschema der Organisationsrituale. Es war in gewisser Weise eine autarke, in sich abgeschlossene Welt mit ihren eigenen Regeln. Für die eine Hälfte, Patienten genannt, war sie hoffentlich nur temporärer Daueraufenthalt und nicht Endstation, die Anderen, Bedienstete und Ärzte, hatten das Privileg, den Ort ihrer Tätigkeit wenigstens regelmäßig zu verlassen. Ulrich betrachtete diese Welt aus der Patientenperspektive von innen und immer mit dem ängstlichen Gefühl, darin auf unabsehbare Zeit gefangen zu bleiben.
Auf dem Stationsflur hörte er jetzt die üblichen Geräusche klappernder Türen und der sich hinein oder heraus bewegenden Schritte. Ab und zu mischten sich metallische Klänge rollender Betten oder Essenscontainer und aneinander schlagende Tassenkeramik darunter. Er wartete immer noch in Erinnerungen schweifend auf seine Eingangsuntersuchung. Sein Bewusstsein spiegelte ungleiche Bilder wieder: die vermisste ländliche Idylle des Dorfes mit Haus, Garten und umliegenden Wäldern, an die er wehmütig zurückdachte und die er widerwillig mit dieser Großstadtatmosphäre hatte tauschen müssen. Gleichzeitig die Stadt als ein Ort, an dem er sich noch verlorener vorkam, als es ohnehin der Fall war. Jegliche Idylle wurde regelmäßig jäh zerrissen durch das Bild einer immer länger werdenden Punktionsnadel, die knirschend durch seine Rippen in den Bauchraum drang oder von der Vorstellung, sein Bauch würde sich bis zum Platzen mit Gas gefüllt bei einer Laparoskopie aufblähen. Stunden später noch kröche die Luft schmerzhaft in seinen Schultern herum. Seine Gedanken schweiften wieder zurück ins Jahr 1975, zu seinem ersten Aufenthalt in dieser Spezialabteilung mit ihrem weißbärtigen Professor, den man nur zu Gesicht bekam, wenn man alles andere als ein leichter Fall war. Leichte Fälle gab es hier überhaupt nicht. Leicht war die Gallenerkrankung des sehr schlanken, geradezu mageren jungen Mannes mit seinen langen, glattsträhnigen Haarmatte auch nicht, mit dem sich seine Blicke auf dem Krankenhausflur trafen. Normalerweise lief man dort mit ausdruckslosem Gesicht aneinander vorüber. Unpässlichkeiten oder gar schwere Krankheiten sind keine Gegenstände, die man gern vor sich her trägt und anderen zu erkennen gibt. Es war wohl ihr überraschend ziemlich gleiches Alter, das sie einander grüßen ließ. Nachdem sie sich später etwas näher kennengelernt hatten, entdeckten sie sogar die Musik als Gemeinsamkeit. Einmal würden sie in einem Winkel unter einer Treppe sitzend abwechselnd auf einer Gitarre klimpern, die dieser Wolfgang mitgebracht hatte. Ulrich erinnerte sich jetzt nur noch an die Anfangsworte eines seiner Lieder:
“I came all the way, I crossed the Black Sea, bringing mysteries, for you and me…”
Es sollten immer nur diese Art Bruchstücke sein, die ihm von den anderen in Erinnerung blieben. Aus Bettnachbarn oder Mitpatienten wurden in der Regel weder dauerhafte Bekannte noch Freunde, sie blieben lediglich Weggefährten auf Zeit. Aber so sehr man sich in der Außenwelt verlor, wuchsen die Erinnerungen im Gedächtnisraum. Unwillkürlich dachte er an die langen, spindeldünnen Stelzen in Dalis Bildern und den Schluss von “In Swanns Welt”:
“Die Stätten, die wir gekannt haben, sind nicht nur der Welt des Raums zugehörig, in der wir sie uns denken, weil es bequemer für uns ist. Sie waren nur wie ein schmaler Streif in die Eindrücke eingewoben, aus deren ununterbrochener Folge unser Leben von damals bestand; die Erinnerung an ein bestimmtes Bild ist wehmutsvolles Gedenken an einen bestimmten Augenblick; und Häuser, Straßen, Avenuen sind flüchtig, ach! wie die Jahre.”
Gehört zwar nicht zu diesem Beitrag, aber dass mich eine Eilmeldung auf SPON so erfreuen könnte, hätte ich nicht mehr gedacht:
http://www.spiegel.de/kultur/literatur/literaturnobelpreis-2013-geht-an-alice-munro-a-927029.html
Drei Breiträge von mir zu den Erzählungen Alice Munros:
Alice Munro:Runaway
Alice Munro: Über die Erzählung “Manche Frauen” aus dem Band “Zu viel Glück”
A bow to Alice Munro with a small collection of her free available stories in English