Literaturrezensionen sowie Kunst und Kultur eigener Art
Die Vergeblichkeit der Erinnerung VI
Der Nachmittag endete regelmäßig mit dem frühzeitigen Abendbrot, das schon zwischen fünf und sechs Uhr serviert wurde. Schließlich sollten die Essensverteiler auch noch ihren wohlverdienten Feierabend vor Mitternacht antreten dürfen. Zwei Scheiben Brot, etwas Aufschnitt oder Käse, ein Würfel Butter, das war schon alles. Mit geradezu konstanter Boshaftigkeit befand sich immer die große, grüne Gewürzgurke am Tellerrand, die sein Magen so gar nicht vertragen wollte. Hinterher roch es dann nicht nur nach ihr, sondern auch nach dem ebenfalls obligatorischen Kamille- oder Fencheltee. Dennoch freute sich Ulrich darüber, überhaupt Appetit zu haben. Das Verhältnis zum Bettnachbarn offenbarte sich allein dadurch, ob man zusammen an dem kleinen Esstisch aß. Wenn man sich noch nicht so gut kannte wie jetzt, saß jeder für sich allein Rücken gegen Rücken auf seinem Bett, die Beine baumelten über den Rand, und das Essen wurde stumm von der herausklappbaren Abstellfläche des Nachtschrankes verzehrt. Nachdem man sich etwas über die Krankheiten des anderen informiert hatte, bestand eine erste zaghafte Übereinkunft meist darin, sich auf das gleiche Fernsehprogramm für den Abend zu einigen. Ein vorsintflutlicher Guckkasten hing oben unter der Zimmerdecke in einer Ecke, was als Zeichen ultimativer Modernität des Hauses galt. Dann hallte irgendwann die Frage der Nachtschwester in den Ohren: ”Brauchen Sie etwas zur Nacht?”
Wie der Ablauf eines Rituals folgte ein letzter Toilettengang, ein letztes Zähneputzen und mühsam gelesene letzte Seiten in einem Buch, bis hoffentlich nach zahlreichen vergeblichen Versuchen und Anstrengungen endlich die Augen zufielen. Immer waren die Betten unbequemer als das gewohnte zu Haus, der schwer zu findende Schlaf unruhig, was aber unbewusste Wünsche eher beflügelte. Ulrich machte da keine Ausnahme, was männliche erotische Gedanken betraf. Je nach körperlichem Zustand war man wochenlang ein unbefleckter Heiliger oder bei neu aufkeimenden Kräften nicht unterscheidbarer Teilnehmer eines sexuellen Notstandes. Ihn ekelte aber der klebrige Charme mancher Männer, die dreist jedem Krankenhauskittel hinterhersahen und sich mit ihren versteckten verbalen Anzüglichkeiten auch noch drei Sterne an die Machobrust heften wollten. Frustrierend war nur, dass auch er selbst ob jeder Lustregung Schuldgefühle verspürte, mit in diese Kategorie geworfen zu werden. Seine Träume unterschieden sich am Ende kaum vom männlichen Durchschnitt, gegen den er geistig revoltierte. Wie die Krankheit holten auch die simpelsten körperlichen Bedürfnisse so ziemlich jeden ein. So war auch sein kleiner Schlaf durchzogen von erotischen Phantastereien, die neben der Ablenkung vom klinischen Ambiente auch die einzige Möglichkeit darstellten, eine Art wohlig warmes Gefühl aufkommen zu lassen, als würde man sich nicht in einem Krankenhausbett, sondern am weißen Sandstrand eines fernen Meeres befinden. Allen diesen Träumen war gemeinsam, dass in ihnen überhaupt keine Sprache vorkam, nur die obsessiven Bilder eines Kopfkinos, das mit diesen Gefühlswallungen einher ging, als taumele man im Weichspülschleudergang einer Waschmaschine.
Im Traum legte er in der Dunkelheit eines Kinos seinen Kopf auf die linke Schulter der neben ihm sitzenden, blonden Frau und schmiegte sich an die dünne, warme Haut ihres Halses. Es war eine fließende, Geborgenheit suchende Zärtlichkeit in dieser Bewegung. Die blonden Haare dufteten angenehm und verbreiteten ein Gefühl, verführerisch angezogen zu werden. Er saß links von ihr und zögerte, seine rechte Hand auf ihren Oberschenkel zu legen. Vorn auf der Leinwand lief ein Actionfilm, der aber nicht halb so viel Aufmerksamkeit von ihm erhielt, wie sein Annäherungsversuch. Er kämpfte mit einem Zwiespalt, der seine Erregung zögerlich werden ließ: Sollte seine Hand unten zudringlicher werden und womöglich auf Abwehr stoßen, wo er doch gleichzeitig oben Schutz und Wärme suchte? Was war ihm wichtiger, wie in Watte gepackt an ihrem Hals zu träumen oder sich zum Dreieck zwischen ihren Beinen hochzuarbeiten?
Da glitt sein Blick von der Leinwand weg zu einem Paar, das ein paar Reihen weiter vorn gemeinsam auf einem Sitz saß. Genau genommen hatte der Mann sich verkehrt herum gesetzt und die Frau saß auf seinem Schoß. Sie bewegte sich genüsslich auf und ab, wobei er ständig wie in einem hellen Lichtkegel vom Anblick ihres nackten Hinterns gefangen genommen blieb und auch von dem dicken Phallus, den sie unablässig in sich hinein und wieder herausgleiten ließ. Diese lustvolle Bewegung faszinierte ihn und seine Augen klebten wie verzaubert im Fokus dieser glatten Rundungen.
Im Erwachen taumelte er aus der sanften Narkose des Traums zurück in die Wirklichkeit und sehnte sich augenblicklich, auf welcher Ebene auch immer, ins erotische Geschehen zurück. Seine Phantasie räkelte sich noch eine Weile in dem lüsternen Wohlgefühl, um dann erschreckt festzustellen, lediglich alte Bekannte seines Unterbewusstseins zum Leben erweckt zu haben. Er war der Liebesgott Amor am Hals der mütterlichen Venus gewesen, der gleichzeitig seine Lust suchte bei der schönen Psyche. Da lässt wohl Tizian grüßen, dachte er, für erotische Träume braucht es nicht viel. Darüberhinaus fiel es ihm wie Schuppen von den Augen, dass die gesamte Kinoszene von Bergmans „Das Schweigen“ inspiriert war. Aber ekelte sich nicht eine der beiden Schwestern dort vor der Erkenntnis der eigenen triebhaften Lust im voyeuristisch beobachteten Paar, das sich in einer anderen Sitzreihe leidenschaftlich und triebhaft liebte? Doch wie weich sich die Wände dieses Traums angefühlt hatten. Die Atmosphäre war so süß gewesen, geradezu einlullend, das ewige Zerfallen der Lust in Zärtlichkeit und morbide Leidenschaft. Selbst hier, in diesem funktionalen Stahlbett war die eigene Lust einem näher als die der anderen.
Ingmar Bergman: Das Schweigen (1963) Tystnaden.
Frühere Teile der Erzählung “Die Vergeblichkeit der Erinnerung” hier.