Roberto Bolaño: Mexikanisches Manifest Teil III

Ihre Unterhaltungen schienen in einer Sprache verschlüsselt, die ich nicht kannte, und sicher nicht in dem Jugendslang, der damals in Mode war, und von dem ich heute nur wenige Wörter erinnere, sondern in einem viel ominöseren Jargon, bei dem jedes Verb und jeder Satz einen Anflug von Grab und Beerdigung hatte. Vielleicht von einem Grab in den Lüften. Vielleicht von dem leeren Grab mit einem der entstellten Leichentuchgesichter. Möglicherweise, möglicherweise nicht. Wie auch immer, ich mischte mich in die Unterhaltung ein oder versuchte es zumindest. Es war nicht einfach, aber ich versuchte es. Manchmal zogen sie zusammen mit dem Marihuana auch Flaschen voller Alkohol heraus. Diese Flaschen gab es nicht umsonst, und trotzdem brauchten wir nichts zu bezahlen. Das Geschäft der Besucher bestand aus dem Verkauf von Marihuana, Whiskey und Schildkröteneiern in den Saunen, selten mit der Genehmigung des Eingangspersonals oder der Putzkräfte, die sie unerbittlich verfolgten. Aus diesem Grund war es überaus wichtig, dass sie bei irgendjemand Schutz suchen konnten. Außerdem verkauften sie Privatshows, womit sie in Wirklichkeit ihre Kohle machten, oder vereinbarten Privatvorführungen in den Junggesellenappartements ihrer Auftraggeber.
    
Das Repertoire dieser wandernden Showtruppen konnte eintönig oder abwechslungsreich sein, aber die Dramaturgie ihrer Aufführungen war immer die gleiche: der ältere Mann blieb auf dem Diwan (nachdenklich, glaub´ ich), während der Junge und das Mädchen oder die beiden Jungen den Zuschauern in den Saunaraum folgten. Die Show dauerte in der Regel nicht länger als eine halbe oder dreiviertel Stunde, mit oder ohne die Beteiligung der Zuschauer. Nach Ablauf der Frist öffnete der Mann auf dem Diwan die Tür und teilte dem verehrten Publikum das Ende des Spektakels mit, während es aus dem Dampf heraus hüstelte, der sofort die Absicht hatte, in den anderen Raum zu kriechen. Zugaben mussten teuer bezahlt werden, obwohl sie nur zehn Minuten dauerten. Die Jungen duschten hastig und erhielten dann ihre Kleidung aus den Händen des Mannes. Ich erinnere mich, dass sie sich noch ganz nass anzogen. Die letzten Minuten machte sich der kleinlaute, aber geschäftstüchtige, künstlerische Direktor damit zunutze, dass er den befriedigten Zuschauern die Leckerbissen aus seinem Korb oder Koffer anbot: Whiskey in Pappbechern serviert, Joints von Expertenhand gedreht und Schildkröteneier, die er mutig mit einem riesigen Fingernagel aufbrach, der seinen Daumen schmückte, und die er gleich in den Gläsern mit Zitronensaft und Chili beträufelte. In unseren Privaträumen lief die Sache anders. Sie sprachen mit gedämpfter Stimme. Sie rauchten Marihuana. Sie ließen die Zeit verstreichen, während sich ihre Gesichter mit Schweißperlen bedeckten, und warfen ab und zu einen Blick auf ihre Uhren. Manchmal berührten sie sich gegenseitig, berührten uns, etwas, das unvermeidlich blieb, wenn wir alle auf dem Diwan saßen, und die Reibung der Schenkel und Arme konnte schmerzhaft werden. Kein sexueller Schmerz, sondern der eines unabänderlichen Verlusts oder der einer einzigen winzigen Hoffnung, ein nicht mehr mögliches Land zu durchstreifen.
     Waren es Bekannte, lud Laura sie ein, sich auszuziehen und mit uns in die Dampfsauna zu kommen. Sie willigten nur selten ein. Sie bevorzugten es zu rauchen, zu trinken und sich Geschichten anzuhören. Zur Entspannung. Nach einer Weile schlossen sie den Koffer und machten sich davon. Später am selben Nachmittag kamen sie zwei oder dreimal zurück und der Ablauf war der gleiche. Wenn sie gut drauf war, ließ Laura sie herein, wenn nicht, gab sie sich keine Mühe und beschimpfte sie durch die Tür hindurch, mit den Scheißbelästigungen aufzuhören.
     Die Beziehungen waren mit ein oder zwei vereinzelten Auseinandersetzungen zu jeder Zeit harmonisch. Manchmal glaube ich, sie verehrten Laura schon lange bevor sie sie kannten. Eines abends bot uns der alte Mann, der sie brachte eine Show an (jenes Mal waren es drei, der Alte und zwei Jungen). Keiner von uns beiden hatte bisher eine gesehen. Was kostet das, sagte ich. Nichts. Laura sagte, sie sollten hereinkommen. Der Saunaraum war kalt. Laura legte das Handtuch ab und drehte den Einlasshahn auf: Dampf begann aus dem Boden zu strömen. Ich hatte das Gefühl, wir befänden uns in einer Nazisauna und sie würden uns vergasen. Das Gefühl verschärfte sich, als ich die beiden Jungen hereinkommen sah, sehr schlank und braun, dicht gefolgt von dem alten, nur mit einer unbeschreiblich dreckigen Unterhose bedeckten Zuhälter. Laura lachte. Die Jungen betrachteten sie in der Mitte des Raumes stehend ein wenig schüchtern. Dann lachten sie auch. Der Alte setzte sich zwischen Laura und mich, ohne seine grauenerregende Unterbekleidung abzulegen. Willst du nicht mehr als nur zuschauen, zuschauen und mitmachen? Zuschauen, sagte ich. Das werden wir sehen, sagte Laura, die sehr empfänglich war für diese Art männliche Anmache. Dann knieten sich die Jungen hin, als ob sie eine Kommandostimme gehört hätten, und begannen damit, sich gegenseitig die Geschlechtsteile einzuseifen.  In ihren einstudierten und mechanischen Bewegungen drückte sich Müdigkeit aus und das serienweise Zittern hätte man mit Leichtigkeit der Anwesenheit Lauras zuschreiben können.
     Die Zeit verging. Der Dampf im Raum erlangte seine Dichte wieder. Nichtsdestotrotz schienen die Akteure in ihrer Anfangspose wie eingefroren zu sein: Auge in Auge niederkniend, aber in einer grotesk künstlichen Weise, masturbierten sie sich gegenseitig mit der linken Hand, während sie mit der rechten das Gleichgewicht hielten. Sie glichen Vögeln. In Metall eingravierten Vögeln. Sie müssen müde sein, sie kriegen keinen hoch, sagte der Alte. Tatsächlich zeigten die eingeseiften Schwänze nur zaghaft in die Höhe. Langweilt sie nicht, Jungs, sagte der Alte. Laura lachte wieder. Wie glaubst du sollen wir uns konzentrieren, wenn du die ganze Zeit lachst, sagte einer der Jungen. Laura stand auf, ging an ihnen vorbei und lehnte sich gegen die Wand. Jetzt standen die erschöpften Akteure zwischen uns. Ich fühlte wie die Zeit mich im Innern in Stücke riss. Der Alte murmelte etwas. Ich schaute ihn an. Er hielt die Augen geschlossen und schien zu schlafen. Wir haben eine Unmenge Zeit lang nicht geschlafen, sagte einer der Jungen und ließ den Schwanz seines Kollegen los. Laura lächelte ihn an. An meiner Seite begann der Alte zu schnarchen. Die Jungen lächelten erleichtert und nahmen eine bequemere Haltung ein. Ich hörte wie ihre Knochen knackten. Laura ließ sich an der Wand hinuntergleiten bis ihr Hintern auf die Bodenfliesen stieß. Du bist sehr schlank, sagte sie zu einem von ihnen. Ich? Er auch, antwortete der Junge, und du. In Wahrheit waren wir alle schlank.

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(Nichtkommerzielle, nur  für den Privatgebrauch angefertigte Übersetzung der Erzählung „Manifiesto Mexicano“ von Roberto Bolaño, mithilfe der englischen Übersetzung von Laura Healy in “The New Yorker, April 2013 und dem spanischen Originaltext.)