Gegen das Gefängnis der Textimmanenz: ein Zitat

“Doch so differenziert man das Netzwerk der literarischen und philosophischen Einflüsse auch nachkonstruieren mag, aus sich heraus kann es die Entstehung neuer Ideen und Formen nicht erklären. Wäre Literatur ein geschlossenes System ohne Einwirkung von außen, so würde ihr das bewegende und jeweils ganz besondere Interesse fehlen, mit dem Dostojewski Gogol und Kafka Dostojewski gelesen hat, nämlich als historisch und individuell verschieden geprägte Menschen mit unterschiedlichen, aber vergleichbaren Bedürfnissen, Reizbarkeiten und Erfahrungen, und ohne solche lebensgeschichtlich entstandenen Veränderungen könnte zum Alten nichts Neues hinzutreten und nichts Neues im Alten sich erkennen.
Im Grunde ist das selbstverständlich. Nicht jedoch für eine rein textimmanente Literaturbetrachtung, wenn sie sich, wie häufig, zur Ideologie verabsolutiert. In berechtigter Abwehr naiv biografischer und vulgärsoziologischer Erklärungsmuster, die den Text auf die Voraussetzungen seiner Entstehung reduzieren, verfällt sie in den umgekehrten Fehler, den Text von seiner Lebensbasis, seinem Begehren abzuschneiden und ihn zu etwas bloß Formalem zu verflachen. Nicht einmal bei Mallarmé wäre das triftig, geschweige denn bei Autoren wie Dostojewski und Kafka, für die die eigene Lebensproblematik die wichtigste literarische Erfahrungsquelle war. Kafka zumal hat nie etwas anderes geschrieben als seinen eigenen Lebensmythos, allerdings so insistierend und durchdringend, mit so tiefen, erschreckenden Einblicken und einer so ungeheuren visionären Fantasie, dass dieses scheinbar ganz private Material sich zu Bildern verdichtete, in denen sich das Jahrhundert erkannte. Gerade dort, wo Kafka das Intimste ausspricht, zeigt es sich oft in der fremdesten Erscheinung. Das subjektive ist zur objektiven Gestalt geworden, doch diese ungeheure Verwandlung ist keineswegs eine Sublimierung. Sie löst den Text nicht von seinem Lebensgrund, sondern ist dessen erschreckende unausweichliche Wörtlichkeit.”
 
(Dieter Wellershoff: Der Roman und die Erfahrbarkeit der Welt S. 146f. Neue Auflage 2010.)