Ich lese, also bin ich. Ein Streifzug
Die Wahrheit ist, dass ich nicht mehr über einzelne Bücher im bekannten Rezensionsformat schreiben möchte, nicht mehr schreiben kann. Ich taumele vielmehr oft zwischen den Sätzen verschiedener Bücher hin und her, bewundere Stellen, taste mich an Wortwänden entlang. Vielleicht ist es aber auch nur eine Konzentrationsschwäche, die Vermutung eines Ungenügens vor dem eigentlichen Schreiben. Mir scheint, als ob alles was man ü b e r ein Buch schreibt, zur Lüge werden könnte, denn jeder Kritiker will gefallen, sich selbst oder anderen und er bringt oft eine vorgefasste Meinung über Buch und Autor bereits mit. Auferlegte Sachlichkeit wird diese Eitelkeiten kaum schmälern. Ein Text gehört deshalb von innen aus sich selbst heraus beschrieben, nicht nur von außen. Man sollte m i t einem Buch schreiben, es lesend umkreisen, in seine Sprache eintauchen, bis die letzte Seite wieder im Strudel des eigenen Vergessens versinkt. Meist jedoch verlässt kein Wort die Lippen, fällt geschrieben aufs Weiß, ohne unsere Vorurteile mitzutransportieren. Manchmal aber legt sich auch eine gewisse Lähmung wie Mehltau über das eigene Leben und man schreibt kaum noch. Der Zweifel nagt und vieles ist schnell vergessen. Das Lesen aber kann ich nicht lassen. Ich lese, also bin ich.
Wie so manche Buchanregung verdanke ich die Entdeckung John Williams und seines wieder aufgelegten Romans “Stoner” dem schweizerischen Literaturclub. Wenn überhaupt eine Literatursendung im Fernsehen lohnt, dann diese. Das Land der Dichter und Denker jedenfalls kann es, zumindest was das Medium TV angeht, absolut nicht. Das ZDF schon gar nicht. Den Lobeshymnen über “Stoner” im Literaturclub kann ich mich nur anschließen. Anscheinend brauchen Bücher oder besser Romane einen zeitlichen Abstand von manchmal einem halben Jahrhundert, bis ihre Größe und Einmaligkeit richtig gewürdigt werden kann. Wie elegant Williams das Panorama dieses Lebensberichtes über einen anglistischen Literaturprofessor beginnt.
Bereits im ersten Absatz schließt sich der komplette Kreis mit Geburt und Tod, erst dann beginnt der Einstieg in die einzelnen Stationen seines Lebens. Die narrative Klammer wird also bereits am Anfang geschlossen, um sich dann breiter neu zu öffnen. Natürlich stirbt ein Professor der Literatur mit einem Buch in der Hand, das allerdings nichts weiter mehr ist, als das Symbol für alles von der Literatur selbst über das Mögliche noch hinaus Gemeinte. Besingt Literatur nicht immer in sich selbst eine Art unsterbliche Seele? Es ist, als ob sich die Schriftsteller verschworen hätten, am Ende doch ihr ureigenes Medium im Medium selbst zu feiern. So spielen auch im nächsten Roman “Traumschiff”, den ich las, die Kladden des Sterbenden diese Rolle des sich selbst Referenzierenden. Vorweg aber noch zu John Williams, dass ich ob der Begeisterung nicht umhin konnte, mir auch “Butcher´s Crossing” zuzulegen und zu lesen. Zweifellos ein ebenfalls großer Roman.
Es ist nicht die erste reale Reise, die der Autor Alban Nikolai Herbst in eine fantastische, fiktionale transformiert und zu einem Prosatext werden lässt. Mindestens “Eine sizilische Reise” und “Die Fenster von Sainte Chapelle” sind mir bekannte Vorläufer. In diesem Fall aber ist es wohl die erste, große bei Transocean gebuchte Meereskreuzfahrt, die zu Literatur und zum obligatorischen Gerüst seines “Sterberomans” geworden ist. Es wird ein Todesprozess erträumt, dessen Unausweichlichkeit ihn uns alle möglichst weit wegschieben lässt, der Autor aber schildert ihn in einem vor allem sprachlich traumhaften Gespinst, vielleicht auch um den allzu großen Schrecken mit der literarischen Vorwegnahme zu lindern, ihn für uns alle durch die Ästhetik der Worte erträglicher zu machen.
Spontan fallen mir zum literarischen Topos des Schiffes Brants “Narrenschiff”, Travens “Totenschiff” oder auch Zweigs “Schachnovelle” ein. Ein weiterer Vergleich folgt später. Nach gut siebzig Seiten blieb mir das erste Kapitel mit seiner komprimierten Introduktion das liebste wie eine vorweggenommene Essenz des Ganzen und der schönste Absatz gleich auf Seite 11:
“Das ist wieder so ein Wort, »Schluss«. Wie wenn das Ende plötzlich wäre. Als flösse nicht alles sehr langsam aus. Selbst wenn nicht nur das Bewusstsein zunimmt, werden wir alle zunehmend leichter. Am Ende sind wir ein Rinnsal ins Meer. Niemand kann mir erzählen, von Monsieur Bayoun sei darin noch etwas erhalten. Es gibt in der See keine Seele. Sondern sie ist sie.”
Das läuft auf eine Art poetischen Pantheismus hinaus. Nicht viel später wird der fragende Leser in diesem “wir” eine Art Club der Todgeweihten erkennen, dessen Mitglieder sich darin von allen anderen Reisenden unterscheiden, dass sie ein “Bewusstsein” von ihrem nahen Tod haben, denn nur für sie wird das Schiff zu einem Schiff letzter Träume. Sie wissen, es ist Charons Fähre, die niemand mehr lebend verlässt.
Die Kladden, in die Herbsts Alter Ego Gregor Lanmeister schrieb, haben sich verwandelt. In meinen Händen zu einem umschlaglosen Bucheinband einer niedersächsischen, wissenschaftlichen Bibliothek, genauer in das Anschaffungsexemplar Nr. 4333, welches der Referent für Germanistik im Jahre 2015 dort kaufen ließ. Verwandlung könnte das Wort sein, von dem Herr Lanmeister seinen kafkaesken Vornamen bezog. Im “Traumschiff” geht es um die letzte Verwandlung, die letzte Reise, die immer nur mit dem Tod enden kann und die sich zumindest als Ideal des Schriftstellers möglichst träumend vollzieht. Ohne seinen Reisetraum liegt Herr Lanmeister vermutlich lediglich todeskrank in einem Hospiz, umgeben von einigen Mitpatienten, dem Krankenhauspersonal und das Blau des Himmels muss ihm als Ersatz für das Meer dienen. Das Schaukeln des Schiffes ist das seines Bettes und in seinem Kleiderschrank bewahrt er ein ihm geschenktes Mah-Jongg-Spiel auf. Wahrscheinlich bildet er sich ein, den 144 Steinen des Spiels entspräche in etwa der Anteil der ebenfalls unwiderruflich zum Sterben verurteilten Patienten von einer Gesamtaufnahmekapazität des Hauses, die bei ca. 400 bis 500 liegt. Dieser realistische Hintergrund aber scheint nur folienhaft für einige Momente durch und ist für das Romankonzept letztlich unwichtig. Gerade seine Würde gewinnt der Sterbende nur durch seinen Sprache gewordenen Traum. Seine vollgeschriebenen Kladden sind eine Befreiung zum Tode hin. Interessant auch, dass Herbst seinen Protagonisten nicht ein Wort sagen lässt, als ob er mit dem konsequent Schweigenden wüsste, dass die spontan gesprochene Sprache nicht der angemessene Ausdruck seiner letzten Gedanken sein kann. Nur das Schrift gewordene hebt die Sprache über den Augenblick hinaus, umso mehr, wenn sie sich ihrer selbst bewusst ist und sich eine eigene Ästhetik und Poetik schafft.
Alban Nikolai Herbst ist ein Autor, der auch das beiläufigste Wort auf eine Waagschale legt und z. B. die Figur der Großmutter konstituiert sich geradezu nur durch eine veraltete Ausdrucksweise, deren einzelne Wörter wie kleine Kostbarkeiten gehütet und in Kursivdruck gesetzt werden. Der Roman zeichnet sich in erster Linie durch seine Sprachform aus, die durchgängig er- und empfindungsreich bleibt. Es wird dem Leser bewusst, dass die Sprache formbares Material und Zusammenhalt ist. Leider habe ich mich gelegentlich und gerade durch den Mittelteil etwas gequält, weil manche Passagen dann doch zu geschwätzig prätentiös, etwas manieriert und zu lang wirkten. Mir fehlte ein wirklich handlungstreibender Plot, oft treffen sich nur mehr oder weniger illustre Gesellschaften auf dem Schiffsdeck. Das schmälert allerdings nicht die große Kunst, mit der eine normale Kreuzfahrt in das vor allem sprachlich konsistente Abschiedsbuch eines Sterbenden transformiert wurde.
Der erste Satz verglich sich mir mit dem berühmten ersten Prousts: “Lange habe ich gedacht, dass wir einander erkennen.” Diese vielleicht etwas hochmütig anmutende, kleine Parallele in der Tonalität des Anfangssatzes aber wird durch das Folgende bereits im ersten Kapitel revidiert werden müssen, denn aus den Sätzen spricht von Beginn an eine Art weltferne Demut, ein empathisches Verständnis universeller Vergänglichkeit. Der Ich-Erzähler und ehemalige Geschäftsmann Gregor Lanmeister bemüßigt sich einer Sicht auf die Welt, als wäre er kaum noch von dieser und sein Schreiben solle es auch nicht sein. Aber vielleicht müsste man antworten, wirklich poetische Literatur wäre das nie. Die unverkennbare Stimme des sprachmächtigen, poetischen Plaudertons (wenn auch mit leichten senilen Sprachstörungen versetzt) muss ihm der Autor selbst geliehen haben. Figur und Autor bedingen sich gegenseitig und brauchen ein letztes Gegenüber, um zumindest dem inneren Schweigen zu entrinnen. Denn Gregor Lanmeister spricht zu niemandem mehr, er schreibt nur in seine Kladden. Die junge russische Pianistin Kateryna ist seine Muse, ihr vertraut er seine Gedanken an, wie einem Symbol verlorener Jugend. Von Kateryna zu Kriton ist es phonetisch nicht allzu weit, denn von diesem im inneren Monolog angesprochenen Du schrieb ein anderer Schriftsteller in einer schon über zwanzig Jahre zurückliegenden Novelle schon einmal:
“Ich bin froh, dass die anderen weg sind und dass ich es nur dir zu erzählen brauche, auch wenn du selbst jemand aus meiner Geschichte bist.”
Cees Nooteboom: Die folgende Geschichte. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1991.
Der Ich-Erzähler, Altphilologe und Lehrer Herman Mussert dort, wegen äußerlicher Ähnlichkeit auch Sokrates genannt, erzählt seine Geschichte in den letzten ihm verbleibenden Lebenssekunden ebenfalls einer Art vergeistigten Muse, nämlich seiner verstorbenen Schülerin Lisa d´India. Wie bei Herbst sind er und seine ebenfalls dem Tode geweihten Mitreisenden, denen nur noch ihre jeweils letzte Erzählung bleibt, sich ihres bevorstehenden Endes bewusst:
“Schreiben, wenn bereits geschrieben ist, das ist etwas für die Hochmütigen, die blinden, diejenigen, die nicht um ihre eigene Sterblichkeit wissen.”