„Westworld“. Ein vielversprechender Anfang

Was hat der Start einer amerikanischen TV-Serie mit Literatur oder gar Philosophie zu tun? Im Falle der neuen HBO-Serie „Westworld zumindest einiges. Eine grundlegende Erzählweise des Romans kann der Dialog sein, wie ich ihn gerade in Vollendung beim Lesen von Jane Austens Romanen erlebe. Die filmische Eingangssequenz der initialen Episode (S01E01) von „Westworld“ beginnt mit einer Art inquisitorischen Befragung eines weiblichen Roboters, besser gesagt eines Androiden oder noch genauer Gynoiden namens Dolores Abernathy, durch einen Programmierer und dieser Dialog zieht sich über mehrere Szenen hinweg. Dieses Fortdauern erinnerte mich an den Anfang von „Es war einmal in Amerika“, wo das Schrillen eines Telefons etliche Szenen lang den Opiumrausch De Niros und seine stumme Erinnerung durch Raum und Zeit begleitet, ebenso wie Dolores Befragung in einen Monolog überleitet, der als Voice-Over ihr berührendes Bekenntnis zu einem hoffnungsvollen, harmonischen Lebensentwurf zum Ausdruck bringt:

Some people choose to see the ugliness in this world, the disarray. I choose to see the beauty. To believe there is an order to our days, a purpose… We all love the newcomers. Every new person I meet reminds me how lucky I am to be alive, and how beautiful this world can be…. I like to remember what my father told me, that at one point or another, we are all new to this world. The newcomers are just looking for the same thing we are. A place to be free, to stake out our dreams, a place with unlimited possabilities.

Ihr Idealismus steht dabei für den Zuschauer im krassen Widerspruch dazu, letztlich eine Maschine zu sein, der von den menschlichen Besuchern, den Neuankömmlingen, beliebig Gewalt angetan werden darf. Extrem verstörend wird Dolores Vergewaltigung mit ihrer Aussage, wie schön diese Welt sein kann, kontrastiert. Unsere Empathie wird so von Anfang an den Androiden gelten, die im Gegensatz zu den kommerziell profitorientierten Projektbetreibern ihren Anspruch, lebendig und menschlich zu sein, scheinbar aufrecht erhalten oder sogar als Programmierfehler neu hinzugewonnen haben. Der Begriff für diese auftretenden Fehler heißt in Westworld “reveries”, Träumereien, und zitiert damit Philip K. Dicks Erzählung. Erinnerung und Traum sollen ja den “echten” Menschen vorbehalten bleiben, aber was sind echte Menschen? Anstatt nur das Scheitern einer künstlich perfekten Simulationswelt zum Thema zu machen, wie es noch der Spielfilm-Vorgänger von 1973 mit den damals bescheidenen Special-Effects versuchte, schwingt in der neuen Serie unterschwellig schon zu Beginn die viel tiefschürfendere Frage mit, was uns eigentlich zu Menschen macht, die das Adjektiv human wirklich verdienen würden.
Am Anfang der insgesamt zehn Episoden der Serie „Westworld“ von 2016 sitzt also eine nackte Frau wehrlos und ungeschützt in einem Labor und weckt das männliche Interesse des Zuschauers mit einem doppelten Impuls: sexuelle Neugier und der berühmte Beschützerinstinkt. Denn irgendwie keimt das Mitgefühl auf, wenn eine Fliege unbeirrt über Dolores Auge streift, die sich in diesem Programmmodus nicht dagegen wehren kann und es auch in Anlehnung an die Robotergesetze, kein Lebewesen verletzen oder gar töten zu dürfen, gar nicht können dürfte. In der künstlichen Vergnügungswelt, die wie eine Art Spielzeugwestern alle Klischees des bekannten Genres bedient, spielt Dolores Abernathy (Evan Rachel Wood) die Tochter eines Farmers. Im langen, blauen, mit weißer Spitze gesäumten Kleid und mit lockiger Haarpracht ist sie die Inkarnation der romantisch-unschuldigen, jungen Farmertochter, von der sich jeder halbwegs lebendige Mann sofort angesprochen fühlt. Die momentane Story Line der neuen “Alice im Wunderland” hat ihr denn auch den in sie verliebten gutaussehenden Revolverhelden Teddy Flood (James Marsden)  zur Seite gestellt, dessen durchaus ernsthaftes Begehren von ihr erwidert wird. Sie sehnt sich immer wieder nach seiner Rückkehr. Charakter und Identität sind jedoch zu manipulierbaren Schiebereglern selbstlernender Computerprogramme geworden. Aber zurück zu den ersten Bildern. In ihre Spielwelt transferiert, wacht Dolores jeden Morgen auf, atmet im modisch spitzenverzierten Nachthemd tief durch und während sie die Treppe und den Flur zur Verandatür hinunterläuft, setzt leichte Klaviermusik ein. Die Verandatür öffnet sich wie ein Vorhang, sie schreitet frohen Mutes in den neuen Morgen einer längst vergangenen, zwar brutalen, aber auch bei aller Künstlichkeit ursprünglich und naturhaft anmutenden Welt. Wie bei ihrem Erwachen der leise Ruf einer Eule oder Taube zu vernehmen war, so plätschert das Klavier bei der Begrüßung ihres Vaters und der Frage, ob er gut geschlafen hätte, weiter. Sie trägt einen Stuhl oder eine Staffelei in der Hand und sie bejaht die Frage des Vaters, ob sie etwas von der Pracht des anbrechenden Tages malerisch festhalten möchte. Das Panorama öffnet sich auf ein bergiges, unberührtes Land des amerikanischen Westens, wie er uns mehr aus Schauplätzen berühmter Western wie „Weites Land“ bekannt scheint, als von historischen, realen Vorbildern. Wie die Regisseure selbst, arbeitet auch unsere Rezeptionsfähigkeit mit dem Fundus des bereits Gesehenen.
Die unverwundbaren Besucher holen sich in der künstlich geschaffenen Wildwest-Welt den letzten, ultimativen Kick. Mord und Vergewaltigung ohne Konsequenz sind an der Tagesordnung. Die Roboter haben den gleichen juristischen Status wie in der Gegenwart die Tierwelt, sie sind eine bestenfalls reparierbare Sache. Die Vergnügungswelt scheint wie eine logische Fortsetzung heute gängiger Computer- und Videospielpraxis. Auch in ihr gilt als eine Art Theorem, ohne dass man vermutlich die Lust an aggressiven Gewaltspielen verlieren würde, im Spiel sei alles erlaubt, es wäre ja nur ein Spiel. Eine Beeinflussung oder Durchlässigkeit, was die Überschreitung humaner Ethik betrifft, wird selbstverständlich verneint. Das mit Roboterandroiden bevölkerte „Westworld“ basiert auf der gleichen Annahme, wobei die Betreiber dieser „Welt“ aus Gründen der Gewinnmaximierung jegliche Skrupel verloren haben, ihre eigenen Gewaltgelüste in die abgeschlossene, virtuelle Welt zu übertragen. Die Besucher (Newcomer) dürfen ihre Gewaltgelüste ungehemmt ausleben, weil sich die Roboter weder wehren, noch sie verletzen oder gar töten können.
Aber das von Dolores später wiederholte Shakespeare-Zitat aus „Romeo und Julia“ „These violent delights have violent ends“ zeigt mehr als deutlich, wohin die Reise in den nächsten Episoden gehen wird. Wie schon in Michael Crichtons Spielfilm von 1973 beginnen die Roboter gegen ihr Schicksal zu revoltieren. Jetzt aber geht es nicht nur darum, sie wieder unter Kontrolle zu bringen, sondern latent darum, ob es nicht ihre Bestimmung ist, sich als die evolutionär, wenn auch künstlich geschaffenen, besseren Menschen zu beweisen. Die Zuschauerrolle bei dieser Serie ist insofern doppeldeutig, weil sie im eigenen filmischen Amüsement die Gewalt genauso goutiert wie die unverwundbaren menschlichen Neuankömmlinge. Dennoch schlägt das Herz auf Seiten der Androiden, solange sie Unfreiheit, Gewalt und unzählige Tode zu erleiden haben. Was aber kann eine grausame Welt erzeugen, Gewalt oder ihr Gegenteil? Zumindest ohne Empathie gibt es keine humane Ethik. Wenn diese einen Sinn haben soll, muss sie universell gelten, nicht nur für eine wie auch immer geartete Sonderspezies, die sich Mensch nennt. Es sollte deshalb völlig belanglos sein, ob es sich in einer echten oder künstlichen Welt um andere Menschen jeglicher Art, Androiden oder Roboter, Tiere oder sogar scheinbar leblose Natur wie Pflanzen oder Steine handelt. Alle Dinge auf der Welt haben ihre ureigene Würde und nur der Mensch meint sogar in einer christlichen Religion sich hierarchisch über diese hinwegsetzen und sich die Welt untertan machen zu dürfen. Hybris aber bestraft sich immer selbst und so ist es wohl nur eine Frage der Zeit, bis die Kartenhäuser der realen und der virtuellen Welt in sich selbst zusammenbrechen.
Ich bin von dieser perfekten Ouvertüre der Anfangsszenen ziemlich beeindruckt und kann diese Serie allen, die Sky empfangen können nur empfehlen. Die Originalstimmen mit Untertiteln haben mir dabei besser gefallen als die deutsche Synchronisation, die es mittlerweile auch gibt. Auf eine zweite Staffel 2018 bin ich sehr gespannt. Zum Schluss noch eine fast parodistische Version des musikalischen Hauptthemas in einer Variation mit weiblichem Streichquartett.
Mal anders: Das musikalische Hauptthema von einem weiblichen Streichquartett gelungen in Szene gesetzt.