Über eine Widmung Prousts oder Von Proust zu Pink Floyd
Ich hätte diesen Beitrag auch “Literarische Fiktion als mehrfach gespiegelter virtueller Raum” nennen können. Eine derartige Überschrift klingt aber schwer nach verkrampftem Seminararbeitstitel. Manchmal genügen mir schon ein paar Sätze, um über literaturtheoretische Modelle nachzudenken, die mir den fiktionalen Literaturkosmos begreiflicher machen könnten, in dem sich zum Beispiel Romane bewegen. Wie könnte ein Erklärungsmodell aussehen, mit dem über die entstandenen, veröffentlichten und rezipierten Texte verhandelt wird? Beinahe unabhängig vom spezifischen Gegenstand kommen mir meist Modellvorstellungen in den Sinn, die so unterschiedliche Ebenen und Schichten wie Autor, Leser, Text, Fiktion, Realität, Gesellschaft, Zeiträume, Moden, fiktionale Autoren oder unzuverlässige Erzähler in einer Art Gebäudekomplex enthalten sollen. Der Gedanke, der dieses komplexe Sammelsurium als nächstes verbindet, müsste natürlich ein osmotisch durchgängiger sein, eine Art Netz, mit dem man das komplizierte Gebilde einfängt, das sich ständig untereinander austauscht. Ein weiterer Einfall beschäftigt sich damit, dass es hierbei nicht um jeweilige direkte Abbildungsprozesse gehen kann, sondern dass ich es mit wenigstens doppelten Spiegelungen zu tun habe, in denen sich der dargestellte Gegenstand symbolisch bewegt. Wie in einem Brennglas fungieren Spiegel als Katalysatoren, Bilder legen sich übereinander, wie zum Beispiel beim Lesen die intendierte Vorstellung des Autors oder seines stellvertretenden Erzählers mit der des individuellen Lesers zusammentrifft. Das Thema Spiegel in der Literatur habe ich schon einmal behandelt: Spieglein, Spieglein an der Wand… Dass ich erneut über dieses Thema schreibe, hat schlicht ein Proust-Zitat zur Ursache, denn beim wiederholten Blättern in der Proust-Biographie von Jean-Yves Tadié stieß ich auf folgende Sätze, die der Beschreibung seiner Hausangestellten Celeste Albaret in “bisher unbekannten Zeilen“ aus einem Exemplar von “Im Schatten junger Mädchenblüte”gewidmet sind:
Für die junge Frau in Blüte (keine Blüte ohne Dornen. Leider!), doch über unseren blutbefleckten Kleidern mit ihren Himmelsspiegel-Augen lächelt friedvoll eine Jeanne d´Arc-Récamier-Botticelli, die uns tatsächlich zuzulächeln scheint, doch welch ein Irrtum! Ihr Gatte, der liebe Odilon, neigt sich wie Tizian auf dem Gemälde der Laura Dianti. Sie aber, Spiegel vor dem Spiegel, sie lächelt weder Odilon zu noch mir, sondern sich selbst.
Vielleicht sollte die junge venezianische Schönheit auf Tizians Gemälde letztlich weder Laura noch Celeste heißen, sondern Proust setzt sie durch mehrfache Gemäldeassoziationen gespiegelt als eine Metapher für Literatur und Kunst ein, die sich selbst ein Lächeln zuwirft. Ohne eine Spur Narzissmus würde vermutlich gar kein Kunstwerk je entstanden sein. Prousts gebündelte Vergleiche aus der Geschichte der Malerei spiegeln wiederum selbst seine eigene künstlerische Wahrnehmungsweise: der reale Gegenstand wird erst in der eigenen kunstgeschichtlich aufgeladenen Rezeptionsvorstellung für ihn wahrhaft lebendig. Ohne sie bliebe Celeste Albaret ein Dienstmädchen, nicht mehr, aber auch nicht weniger. Denn daraus den alten Gegensatz von Kunst und Leben zu konstruieren oder gar der sublimierenden Kunst den hierarchischen Vorrang zu geben, das sehen Künstler und Normalsterbliche vermutlich anders. Zwischen beiden stehen nichts als tausend Spiegel.
Wenn ich mir einen Spiegelsaal voller literarischer Phantasien aller Zeiten und gleichzeitig all seine bisherigen und kommenden Rezeptionsmöglichkeiten vorstelle, so ist dieser virtuelle Raum des jemals fiktional Gedachten und der daraus entstehen könnenden zukünftigen Gedanken unendlich. Ein solcher Möglichkeitsraum bräuchte die Konkurrenz des Internets oder anderer Medien nicht zu fürchten. Er wäre in punkto Qualität und größerer Freiheit vom Kommerziellen zumindest ansatzweise sogar im Vorteil. Heinrich Heine beschrieb das mit dem Satz: “Von allen Welten, die der Mensch erschaffen hat, ist die der Bücher die Gewaltigste.”
Gleich neben der oben erwähnten Proust-Biographie steht bei mir das schon leicht vergilbte dtv-Taschenbuch Céleste Albaret: Monsieur Proust von 1978. Den glänzenden Einband ziert das gleiche Proust-Gemälde von Jaques-Emile Blanche wie auf dem Umschlag der Biographie. Gleich drei Assoziationen löste die junge Hausangestellte Celeste also bei Proust aus. Womöglich vermischten sich einige Eigenschaften Celestes wiederum mit der Figur der Haushälterin Francoise aus der “Recherche”. Wofür stehen all seine Frauenfiguren, die Sehnsucht nach einer alles erfüllenden Liebe, wenn nicht für die Quelle der Inspiration schlechthin: die Muse eines Künstlers. Ohne Quelle kein Fluss, keine Tintenspur auf dem Papier. Für die ideale rhetorische Figur hielt Proust die Metapher, wie ein Zitat aus der “Wiedergefundenen Zeit” belegt:
„Die Wahrheit beginnt erst in dem Augenblick, wenn der Schriftsteller, wie das Leben es tut, in zwei Empfindungen etwas Gemeinsames aufzeigt und so ihre gemeinsame Essenz freilegt, wenn er, um sie den Zufälligkeiten der Zeit zu entziehen, die eine mit der anderen vereint: in einer Metapher.“
Der Kopf eines Schriftstellers ist ein Spiegelsaal, der sich wiederum in seinem Werk spiegelt und dieses erneut in uns Lesern. Das macht Literatur zum unendlichen Raum, jedes Mal wenn ich ein Buch lese, wird auch der älteste Spiegelsaal wieder lebendig. Mein Umkreisen des Spiegelmotivs und der Literatur lässt gerade das alte “Ummagumma-Cover” der LP von Pink Floyd in meiner Erinnerung aufleuchten, auch dort nahmen die Spiegel kein Ende, dieser Beitrag jetzt aber schon.