100 Jahre Stanisław Lem

by Zeichensetzerin Alexa

Am 12. Sep­tem­ber wäre der pol­ni­sche Sci­ence-Fic­tion-Autor Sta­nisław Lem 100 Jahre alt gewor­den. Seine Werke wur­den in 57 Spra­chen über­setzt und viel­fach aus­ge­zeich­net. Die bekann­tes­ten sind die­ses Jahr in einer gro­ßen Hör­spiel-Box bei Der Audio Ver­lag erschie­nen. Zei­chen­set­ze­rin Alexa hat sich die Hör­spiele anläss­lich des Jubi­lä­ums angehört.

Sta­nisław Lem, gebo­ren am 12. Sep­tem­ber 1921 in Lem­berg und ver­stor­ben 2006 in Kra­kau, hat den tech­ni­schen Fort­schritt stets kri­tisch betrach­tet – und dies wird immer wie­der in sei­nen Wer­ken deut­lich. Es geht um Robo­ter, die einen eige­nen Wil­len ent­wi­ckeln und den Men­schen gefähr­lich wer­den kön­nen. Um tech­ni­sche Mit­tel, mit denen mensch­li­che Gefühle wie Aggres­sio­nen unter­drückt wer­den, und Erfin­der, die mit ihren Erfin­dun­gen den Ter­ro­ris­mus ver­hin­dern wol­len. Man­che Geschich­ten erschei­nen pes­si­mis­ti­scher, andere ver­fol­gen uto­pi­sche Ideen. Oft­mals wer­den dabei Fra­gen der mensch­li­chen Exis­tenz in den Mit­tel­punkt gerückt. Lems Werke ent­hal­ten in unter­schied­li­chen Dosie­run­gen Humor und Absur­di­tät, phi­lo­so­phi­sche Fra­gen und Zukunftsvisionen.

Robo­ter, Maschine, Mensch

In „Der getreue Robo­ter“ erhält der Schrift­stel­ler Clemp­ner über­ra­schend einen weib­li­chen Robo­ter per Post und ent­schließt sich nach eini­ger Über­le­gung, ihn zu behal­ten. Der Robo­ter, genannt Grau­mer, wird immer unent­behr­li­cher, ent­wi­ckelt jedoch zuneh­mend einen eige­nen Wil­len und den Wunsch, einen per­fek­ten Men­schen zu erschaf­fen, der ihm mehr Wert­schät­zung ent­ge­gen­bringt als Clemp­ner. Die Geschichte nimmt eine über­ra­schende Wen­dung, als Grau­mer ihr Vor­ha­ben in die Tat umsetzt.

„Der getreue Robo­ter“ wirft Fra­gen auf, die die Bezie­hung zwi­schen Mensch und Robo­ter betref­fen. Wie sol­len bezie­hungs­weise wol­len Robo­ter behan­delt wer­den? Kön­nen deren Gefühle ver­letzt wer­den? Sind Robo­ter gleich­wer­tige Wesen? Die Erzäh­lung wird sehr ein­drück­lich und span­nend erzählt. Im Gedächt­nis blei­ben nicht nur die mora­li­schen Fra­gen, son­dern auch die ange­spannte Atmo­sphäre, die über die unter­schied­li­chen Spre­cher­stim­men und wenige Geräu­sche erzeugt wird.

Wäh­rend es in „Der getreue Robo­ter“ darum geht, dass Robo­ter zuneh­mend mensch­li­cher wer­den, wird in „Schicht­torte“ ein Fall beschrie­ben, in dem ein Mensch auf­grund von Pro­the­sen immer mehr zur Maschine wird. Die Erzäh­lung beginnt mit einer Gerichts­ver­hand­lung: Nach einem Unfall wur­den ein­zelne Kör­per­teile des Renn­fah­rers Mr. Jones durch High-Tech-Pro­the­sen der Marke Cyber­ne­tics aus­ge­tauscht. Jetzt schul­det der ehe­ma­lige Renn­fah­rer dem Kon­zern viel Geld. Bei der Ver­hand­lung ver­sucht er, die Anklage zu ent­kräf­ten, indem er behaup­tet, keine Per­son mehr zu sein, son­dern auf­grund der Pro­the­sen eine Maschine, die der Cyber­ne­tics Com­pany gehört. Ist diese Ansicht gerecht­fer­tigt? Die Ver­hand­lun­gen in „Schicht­torte“ erschei­nen absurd und regen doch zum Phi­lo­so­phie­ren an: Ab wann ist ein Mensch eine Maschine und keine Per­son mehr? Kann ein Mensch über­haupt zur Maschine werden?

Von Wis­sen­schaft­lern und Erfindern

In „Die Lympha­ter­sche For­mel“ erzählt ein Wis­sen­schaft­ler von sei­nen inter­dis­zi­pli­nä­ren For­schun­gen, durch die er die nächste Evo­lu­ti­ons­stufe erschaf­fen konnte. Die­ser Fort­schritt bringt jedoch ver­hee­rende Kon­se­quen­zen mit sich: Der Mensch wird sich selbst abschaf­fen. Auch wenn die Grund­idee sehr span­nend ist, erscheint die­ses Hör­spiel, das von einem Mono­log getra­gen wird, sehr zäh. Es ist, als würde man einem 54-minü­ti­gen wis­sen­schaft­li­chen Vor­trag lau­schen, dem man auf­grund von man­geln­dem Hin­ter­grund­wis­sen nicht fol­gen kann. Die Kon­zen­tra­tion lässt bald nach, die Gedan­ken begin­nen abzu­schwei­fen. Von allen Hör­spie­len die­ser Box ist „Die Lympha­ter­sche For­mel“ das schwächste.

Deut­lich span­nen­der wird es hin­ge­gen in der Erzäh­lung „Pro­fes­sor Taran­to­gas Sprech­stunde“: Zur Sprech­stunde des Pro­fes­sors erschei­nen Erfin­der, die um die Finan­zie­rung ihrer Pro­jekte bit­ten – und sie haben die ver­rück­tes­ten Ideen: Einer will die Ver­gan­gen­heit ver­än­dern, um die Ent­de­ckung der Atom­kraft zu ver­hin­dern, ein ande­rer behaup­tet, eine Waffe gegen den Ter­ro­ris­mus erfun­den zu haben …

In den Gesprä­chen, die der Pro­fes­sor mit den Erfin­dern führt, wer­den Argu­mente abge­wo­gen; man­che Pro­jekte nimmt der Pro­fes­sor ernst, andere hin­ge­gen belä­chelt er. Die Ideen der Erfin­der sind kurios, absurd, aber span­nend und die Gesprä­che daher sehr unter­halt­sam. Was wäre, wenn diese Pro­jekte tat­säch­lich umge­setzt wer­den könn­ten? Könn­ten Kriege wirk­lich ver­hin­dert wer­den? Würde die Lösung eines Pro­blems nicht zu ande­ren Pro­ble­men füh­ren? Anders als „Die Lympha­ter­sche For­mel“ erscheint die­ses Hör­spiel alles andere als lang­at­mig. Im Gegen­teil: Ich hätte sehr gerne noch län­ger zuge­hört und erfah­ren, wie ein­zelne Pro­jekte umge­setzt wer­den und wel­che Aus­wir­kun­gen sie wohl hätten.

Fremde Pla­ne­ten

In zwei der Hör­spiele geht es in den Welt­raum, genauer: auf fremde Pla­ne­ten – wie in „Sola­ris“: Psy­cho­loge Kris Kel­vin lan­det auf dem Pla­ne­ten Sola­ris. Auf einer For­schungs­sta­tion fin­det er eine psy­chisch labile Mann­schaft vor, die abstrei­tet, dass sich wei­tere Per­so­nen auf der Sta­tion befin­den. Kel­vin glaubt, ver­rückt zu wer­den, als er seine Freun­din Harey sieht, die sich vor Jah­ren das Leben genom­men hat. Doch dann fin­det Kel­vin her­aus, was es mit ihrem Auf­tau­chen und dem von ande­ren unge­be­te­nen Gäs­ten auf sich hat.

„Sola­ris“ kann mitt­ler­weile wohl als Klas­si­ker bezeich­net wer­den, so oft wie die Erzäh­lung in ande­ren Medien – wie Fil­men, Büh­nen­stü­cken, Opern und Hör­spie­len – adap­tiert wurde. Dank einer Film­ad­ap­tion, die beim Bre­mer Film­sym­po­sium im Jahr 2015 gezeigt wurde, habe ich erst Inter­esse an Sta­nisław Lems Wer­ken entwickelt.

Auch „Der Unbe­sieg­bare“ spielt auf einem frem­den Pla­ne­ten: Regis III. Die Besat­zung des Schif­fes „Der Unbe­sieg­bare“ fin­det das vor 8 Mona­ten in der Wüste gestran­dete Raum­schiff „Kon­dor“ vor. Die­ses ist unver­sehrt, doch die 100 Besat­zungs­mit­glie­der sind ver­stor­ben. Einer von ihnen befin­det sich im Kühl­raum – seine Organe sind so gut erhal­ten, dass die letz­ten Gehirn­ak­ti­vi­tä­ten abge­hört wer­den kön­nen, doch es sind nur zusam­men­hang­lose Laute zu ver­neh­men. Die Span­nung steigt zuneh­mend, als es darum geht her­aus­zu­fin­den, was wohl mit der Besat­zung der „Kon­dor“ gesche­hen sein könnte.

Von Außen­sei­tern und Konkurrenten

Als Astro­naut Hal Bregg in „Rück­kehr zur Erde“ (Buch­ti­tel: „Rück­kehr von den Ster­nen“) nach 127 Erden­jah­ren auf die Erde kommt, hat sich die mensch­li­che Gesell­schaft ver­än­dert: Alle Men­schen wer­den bei der Geburt „betri­siert“, ein Rou­ti­ne­ein­griff, der ver­hin­dert, dass sich Men­schen aggres­siv und gewalt­tä­tig ver­hal­ten. Die Tat­sa­che, dass Hal nicht betri­siert ist, macht ihn zu einem Außen­sei­ter, der von ande­ren gemie­den wird. Er begreift, dass seine Mit­men­schen Angst vor ihm haben – wie auch Frau Tar­rit, in die er sich unsterb­lich ver­liebt hat. Das Hör­spiel wird von der Frage getra­gen, ob diese Liebe eine Zukunft hat, wobei die Hand­lung ziem­lich wirr erscheint. Trotz­dem habe ich gerne zuge­hört, ins­be­son­dere, weil hier span­nende The­men rund um Kon­troll­ver­lust und Emo­tio­nen behan­delt werden.

Ver­rück­ter und absur­der als in allen zuvor vor­ge­stell­ten Hör­spie­len geht es aber in „Königs­ma­trix“ (Buch­ti­tel: „Die Räte des Königs Hydrops“) zu. Hier ver­su­chen die könig­li­chen Groß­pro­gram­mie­rer Maxi­ma­tus und Mini­ma­tus einen Thron­fol­ger für Robo­ta­nien zu pro­gram­mie­ren und sich dabei gegen­sei­tig zu besie­gen: Weil sie dem könig­li­chen Thron­fol­ger ein­pro­gram­miert haben, dass er „Klei­nere“ bevor­zugt, tun sie alles, um mit­hilfe des Hand­wer­kers Repa­ra­tus immer klei­ner zu werden …

Man fragt sich beim Hören, ob das gut gehen kann und wie ver­rückt man sein muss, um aus Kon­kur­renz­grün­den der­ar­tige Risi­ken ein­zu­ge­hen. Mein Fall war diese Erzäh­lung nicht, auch wenn die Idee inter­es­sant ist. Für mich fiel „Königs­ma­trix“ etwas aus dem Rah­men, weil die Hand­lung hier im Ver­gleich zu den ande­ren Titeln unglaub­wür­di­ger erscheint. Es ist mehr Fic­tion als Sci­ence, was ver­wun­dert, weil es Lem immer wich­tig war, eine wis­sen­schaft­li­che Grund­lage für seine Erzäh­lun­gen zu haben.

Eine hörens­werte Hörspielbox

Auch wenn mich nicht alle Hör­spiele aus die­ser Box über­zeugt haben, so finde ich diese den­noch gelun­gen zusam­men­ge­stellt. Die The­men sind abwechs­lungs­reich und es wer­den alle Berei­che abge­deckt: Es geht um Robo­ter, Maschi­nen, Wis­sen­schaft und Erfin­dung, fremde Pla­ne­ten, Raum­schiffe, tech­ni­schen Fort­schritt im Zusam­men­hang mit dem mensch­li­chen Kör­per, Kon­trolle und Wahnsinn.

Über­zeu­gend ist außer­dem die Umset­zung: Bei allen Titeln liegt der Fokus auf dem Text. Ob Dia­log oder Mono­log – es geht vor­ran­gig darum, den Inhalt und des­sen Kern­aus­sa­gen so zu trans­por­tie­ren, dass diese nach­klin­gen. Dabei schwingt meist ein erns­ter Grund­ton mit, der ent­we­der zur beklem­men­den Atmo­sphäre, Span­nung oder tief­sin­ni­gen Stim­mung bei­trägt. All den phi­lo­so­phi­schen Fra­gen und Gedan­ken wird außer­dem aus­rei­chend Raum gelas­sen. Denn auch wenn es sich um Hör­spiele han­delt, wird mit Musik und Geräu­schen spar­sam umge­gan­gen. Wenn es wel­che gibt, dann als Beson­der­heit: Bei „Der getreue Robo­ter“ erin­nere ich mich vor allem an das Kla­cken der Schreib­ma­schine, bei „Schicht­torte“ an Motor­ge­räu­sche wäh­rend des Renn­fah­rens, und bei „Der Unbe­sieg­bare“ an die Hin­ter­grund­ge­räu­sche eines Raum­schif­fes, wie mono­tone Signale und Rauschen.

Wer sich für Sci­ence-Fic­tion oder Sta­nisław Lems Werke inter­es­siert, wird mit die­ser Hör­spiel­box große Freude haben. Ich fühlte mich – abge­se­hen vom Hör­spiel „Die Lympha­ter­sche For­mel“ – sehr gut unter­hal­ten und konnte viele Fra­gen und Denk­an­stöße für mich mit­neh­men. Kurz: Empfehlenswert!

Die große Hör­spiel-Box. Sta­nisław Lem. Gele­sen von: Gert West­phal, Felix von Man­teu­f­fel, Maria Simon. u.v.a., Regie: Wer­ner Gru­now, Fried­helm Ort­mann, Peter Rot­hin u.a. Der Audio Ver­lag. 2021. Lauf­zeit: ca. 7 h 53 min.

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