11. Türchen

by Bücherstadt Kurier

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Weih­nach­ten auf der Spes Solis

„Gān­bēi!“, flö­tete Lin fröh­lich, als sie ihr Glas mit dem wider­li­chen Getränk über dem Tisch in die Höhe hob. Greg und Seung sties­sen bereit­wil­lig an, zöger­ten dann aber, als es darum ging, das Zeug wirk­lich zu trin­ken, das nicht nur eine grau­sige Farbe hatte, son­dern auch nicht viel bes­ser roch.
„Wie wär’s statt­des­sen mit Tee?“, ver­suchte Seung vor­sich­tig vor­zu­schla­gen und stellte sein Glas wie­der auf den Tisch. Er hätte damit gerech­net, dass Lin ihn rügen würde, immer­hin war sie es gewe­sen, die müh­sam aus den her­un­ter­ge­fal­le­nen Früch­ten etwas gebraut hatte, das bloss ent­fernt an Wodka erin­nerte. Doch zu Seungs Über­ra­schung war es Greg, der bei­nahe befeh­lend blaffte: „Keine Rück­zie­her, trink!“
Die braun-gel­ben Brühe roch wie Erbro­che­nes und schmeckte auch so. Zum Glück begann er nicht zu wür­gen, son­dern erin­nerte sich ledig­lich an die erste Woche auf der Spes Solis, als Greg und sein Kum­pel Amor sein Kim­chi nicht essen woll­ten, mit dem Argu­ment, es würde aus­se­hen wie vor­ver­dau­tes und aus­ge­spuck­tes Kat­zen­fut­ter. Seung ver­misste das haus­ge­machte Kim­chi sei­ner Frau, alles, was sie an Bord hat­ten war abge­pack­tes Brot, ekli­ges Pro­te­in­pul­ver und das schrum­pe­lige Gemüse, das erst geern­tet wurde, wenn es nicht mehr genü­gend Sauer­stoff pro­du­zierte. Wenigs­tens hat­ten sie dafür genü­gend Atemluft.
„So ist’s gut, Park“, lachte Greg und fügte dann in einem Ton­fall, der zwi­schen Eupho­rie und Ver­bis­sen­heit schwankte, hinzu: „Und jetzt die nächste Runde!“
Nun begann offen­bar auch Lin sich zu fra­gen, was genau mit dem ame­ri­ka­ni­schen Inge­nieur los war, denn sie run­zelte die Stirn, als Greg weg­schaute. Ver­mut­lich hatte er den Weih­nachts-Blues, jeden­falls wäre Seung keine bes­sere Erklä­rung für die komi­schen Stim­mungs­schwan­kun­gen sei­nes Kame­ra­den ein­ge­fal­len. Die Fest­tage waren auf dem Schiff für alle eine harte Gemüts­probe, beson­ders für die, wel­che eine Fami­lie zuhause hat­ten. Trotz­dem war Gregs Beneh­men etwas selt­sam, er hatte vor­hin sogar Amy ver­jagt und mit der ver­stand er sich in der Regel bestens.
„Ich glaube es reicht fürs Erste“, stellte Seung fest, wäh­rend er Lin abwinkte, die ihm gerade nach­schen­ken wollte.
Greg wandte sich ihm zu. „Ach, kommt schon Leute, fei­ert doch noch etwas mit mir.“
Seung ächzte leise und blickte die Bota­ni­ke­rin fra­gend an. Viel­leicht hatte sie ja einen spon­ta­nen Geis­tes­blitz, der ihm die Pein­lich­keit, mit Greg ein Wet­t­rin­ken ver­an­stal­ten zu müs­sen, erspa­ren könnte. Lin zuckte mit den Schul­tern und füllte sein Glas rand­voll mit dem impro­vi­sier­ten Wodka, was Greg dazu brachte, freu­dig zu brül­len: „Yeah!“

Danach wurde es wie­der still, so wie es zu Beginn ihres klei­nen Fests gewe­sen war. Lin spielte mit dem zier­li­chen Gold­ring, der ihr wegen der Flüs­sig­keits­ver­la­ge­rung nicht mehr rich­tig passte. In den Gär­ten, die sie kur­zer­hand zu ihren Auf­ent­halts­räu­men erklärt hat­ten, gab es zwar künst­li­che Schwer­kraft, im Rest des Schif­fes jedoch nicht, wes­we­gen sie von den typi­schen Kom­pli­ka­tio­nen der Schwe­re­lo­sig­keit nicht ver­schont blie­ben. Der Phy­si­ker kämpfte noch immer mit dem abstos­sen­den Geschmack in sei­nem Mund, doch lei­der gab es an Bord keine stark gewürz­ten Weih­nachts­plätz­chen, mit denen er ihn weg­ge­bracht hätte. Gregs fröh­li­che Trun­ken­heit wich einem apa­thi­schen Aus­druck und Seung fragte sich, was Weih­nach­ten für den Ame­ri­ka­ner über­haupt bedeutete.
Die Pro­pel­ler der Grün­an­lage surr­ten gleich­mäs­sig, doch von den rest­li­chen hun­dert­sie­ben­und­acht­zig Crew­mit­glie­dern war nichts zu hören. Sek­tor J, in dem Lin, Greg und Seung unter­ge­bracht waren, war der ein­zige, der wegen dem Lärm der Maschi­nen kom­plett schall­dicht iso­liert wor­den war. Er lag im hin­ters­ten Bereich der nadel­ar­ti­gen Spes Solis, direkt vor dem Trieb­werk-War­tungs­raum, in dem tag­ein und tag­aus die Ioni­sie­rung der Stütz­masse kon­trol­liert wurde.
Seung schüt­telte den Kopf bei dem Gedan­ken an Tage, denn logi­scher­weise gab es so etwas auf der Spes Solis nicht. Es gab bloss die lan­gen, kalt­weiss beleuch­te­ten Gänge, Ruhe­räume, Labore und Gär­ten, die zur Kul­ti­vie­rung von Nah­rungs­mit­teln und zur Pho­to­syn­these benutzt wur­den und durch deren meter­di­cke Pan­zer­glas­kup­pel die Sonne schien. Sie wur­den in regel­mäs­si­gen Abstän­den ver­dun­kelt, um einen Tages­rhyth­mus für die Pflan­zen und die Crew zu simu­lie­ren, doch zumin­dest für den Korea­ner funk­tio­nierte das nicht über­zeu­gend genug.
Sie waren vor exakt drei­hun­dert­vier­und­dreis­sig Tagen auf­ge­bro­chen und hat­ten damit gut drei Vier­tel ihrer Reise zur Sonne hin­ter sich gebracht. Doch der ris­kan­teste Teil ihrer Auf­gabe stand der bunt zusam­men­ge­wür­fel­ten Crew erst noch bevor. Lin war die ein­zige ihrer klei­nen Tisch­ge­mein­schaft, die bereits vor der Mis­sion der Spes Solis im All gewe­sen war, aller­dings nur für drei Wochen. Die Drei­und­vier­zig­jäh­rige hatte zum Ent­wick­ler­team der Sauer­stoff-Akkus gehört und war wahr­schein­lich die ein­zige Pas­sa­gie­rin, die sich ihr Ein­fach­ti­cket zur Sonne vehe­ment erstrit­ten hatte. Lin war hier, weil sie ihre Erfin­dung liebte und bei ihr sein wollte, bis zum bit­te­ren Ende. Nur dafür hatte sie ihre Fami­lie hin­ter sich gelas­sen und sich bereit­erklärt, ein Teil die­ser aus­sichts­lo­sen Mis­sion zu wer­den, nur dafür und für nichts anderes.

„Frohe Weih­nach­ten, Jackie!“, pros­tete Greg mit geschlos­se­nen Augen. Wahr­schein­lich tat seine Frau zuhause das­selbe. Die Weh­mut auf dem Gesicht sei­nes Kame­ra­den zu sehen zer­mürbte Seung. Es war nicht sein Fei­er­tag und er hatte sich zuvor nie viele Gedan­ken dar­über gemacht, was Weih­nach­ten für Leute bedeu­tete, die mit die­sem Fest auf­ge­wach­sen waren. Und obwohl er der Über­zeu­gung war, dass man die Tra­di­tio­nen der ande­ren respek­tie­ren sollte, nahm er es dem Ame­ri­ka­ner doch ein wenig übel, dass er ihn mit sei­nem Heim­weh an den eige­nen Tren­nungs­schmerz erinnerte.
Anders als Lin hätte Seung jeder­zeit kehrt­ge­macht und nichts lie­ber getan, als die­ses ver­ma­le­deite Schiff ver­las­sen. Für ihn gab es kei­nen ande­ren Grund hier zu sein, als die Hoff­nung, dass er sei­ner Mut­ter damit ein sor­gen­freies Leben schen­ken konnte und nach allem was sie für ihn geop­fert hatte, fühlte er sich dazu ver­pflich­tet. Es war sicher nicht ein­fach gewe­sen, als Witwe und Mut­ter von drei Kin­dern jedes ein­zelne auf eine Uni­ver­si­tät zu schi­cken und sie zu alle­dem auch noch nach dem Abschluss zu unter­stüt­zen, weil nach dem Krieg Far­mer und nicht Phy­si­ker benö­tigt wor­den waren. Des­we­gen hatte er die Spes Solis erst auch als Geschenk des Him­mels betrach­tet, sie war gerade noch recht­zei­tig gekom­men. Damals aber hatte er aber auch noch die Hoff­nung gehabt, dass die Mis­sion tat­säch­lich fruch­ten würde, dass ihre Aus­sich­ten mehr als nur trübe Fan­ta­sien waren. Die wach­sen­den Schuld­ge­fühle, weil er seine Mut­ter für ein, zum Schei­tern ver­ur­teil­tes, Aben­teuer ver­las­sen hatte, igno­rierte er, mal mehr, mal weni­ger erfolgreich.
„Auf euch, ihr Son­nen-Hel­den!“ Gregs typisch ver­schmitz­ter Aus­druck war zurück­ge­kehrt, als er mit einer dra­ma­ti­schen Geste auf die bei­den ande­ren deu­tete und sich dann den letz­ten Schluck in die Kehle schüttete.
„Auf dich, du Irrer“, stimmte Lin in den Trink­spruch mit ein. Sie trank aus, rümpfte die Nase und meinte dann: „Schreck­lich, was man aus ver­faul­ten Kar­tof­feln machen kann.“
„Du hast gut reden, immer­hin hat der Voll­idiot dich nicht dazu gezwun­gen, drei volle Glä­ser zu kippen.“
„Hey, ich wollte dich auf­hei­tern! Manch­mal bis du ein undank­ba­rer Bas­tard, Park.“ Greg meinte das selbst­ver­ständ­lich nicht so, er zeigte kaum je Ernst­haf­tig­keit, nicht ein­mal, wenn die Kacke am Damp­fen war; und das schloss den Vor­fall mit der kaput­ten Sani­tär­schleuse mit ein.
Bis heute wusste eigent­lich nie­mand von ihnen, wie der unter­setzte Inge­nieur auf der Spes Solis gelan­det war, er gehörte weder zu den bes­ten sei­nes Fachs, noch war er phy­sisch für die Raum­fahrt geeig­net gewe­sen. Es gab sogar Gerüchte, dass der Start nur wegen ihm hatte ver­scho­ben wer­den müs­sen, weil er den Abschluss­test nicht bestan­den hatte. Nichts­des­to­trotz war jeder, der mit ihm zusam­men­ar­bei­tete, froh um den ulki­gen Typen, der in kei­ner Situa­tion sei­nen Humor zu ver­lie­ren schien. Naja, in fast kei­ner, Weih­nach­ten war wohl die Ausnahme.

„Wie lange hat es eigent­lich bei dir gedau­ert, bis du den Aus­blick nicht mehr genos­sen hast?“, wollte Greg auf ein­mal wis­sen, deu­tete auf die Glas­kup­pel und sprach damit ein Tabu aus. Sicher, auf dem Schiff wurde oft über die Unmög­lich­keit ihrer Mis­sion gespro­chen, die Tat­sa­che, dass sie als Pio­niere im Pro­jekt Dyson-Sphäre kaum mehr waren als Ver­suchs­ka­nin­chen, die zur all­ge­mei­nen Beru­hi­gung der Welt­be­völ­ke­rung zur Sonne geschickt wor­den waren. Selbst dar­über, dass die Mis­sion mit hoher Wahr­schein­lich­keit nie gelin­gen würde und eine Rück­kehr auf die Erde nicht geplant war, wurde offen gespro­chen. Aber kei­ner, wirk­lich kei­ner, läs­terte über die Aus­sicht unter der Kuppel.
„Spinnst du?“, begann Seung, sicht­lich auf­ge­bracht, „Das ist ja wohl das ein­zig Gute hier.“ Er meinte es so oder wollte es zumin­dest glau­ben. Lin hin­ge­gen hatte keine Lust dar­auf, ihre wah­ren Gedan­ken zurück­zu­hal­ten und erwi­derte kühl: „Nach acht­und­neun­zig Tagen, so ziem­lich genau in dem Moment, als wir die Venus pas­siert hat­ten.“ Mit einem tie­fen Seuf­zer erhob sie sich, stemmte ihre Hände in die Hüf­ten und drehte sich von den bei­den Män­nern weg, so dass sie durch das beschich­tete Glas direkt auf den orange-glü­hen­den Feu­er­ball bli­cken konnte. Für einige Zeit herrschte Schwei­gen unter den dreien, wäh­rend sie ihren eige­nen Gedan­ken nachgingen.
Schliess­lich unter­brach Seung die Stille, als sie ihm unan­ge­nehm wurde: „Aber wo liegt eigent­lich dein Pro­blem, Greg? Es ist Weih­nach­ten und du schwebst näher an einem Stern als jemals ein Mensch zuvor, siehst die Sonne, wie sie noch nie­mand gese­hen hat. Sollte dich das nicht glück­lich stimmen?“
„Mag sein“, mur­melte Greg zur Ant­wort. Seung hätte gerne ange­fügt, dass es sich dabei um einen ster­ben­den Stern han­delte, hielt aber rück­sichts­voll die Klappe und goss sich den letz­ten Rest der braun-gel­ben Flüs­sig­keit ein.

Über die Autorinnen:
Wir sind zwei junge Autorin­nen aus der Schweiz, die seit August 2012 am Lite­ra­tur­pro­jekt „Clue Wri­ting“ arbei­ten. Zwei Mal wöchent­lich erscheint auf unse­rem Pro­jekt­blog clu​e​wri​ting​.wor​d​press​.com eine Kurz­ge­schichte, in wel­cher vor­ge­ge­bene Clues (oder: Stich­worte), sowie ein Set­ting ver­tex­tet wer­den. Das heisst nicht nur, dass unsere wer­ten Clue Rea­der direkt ins Lite­ra­tur­ge­sche­hen ein­grei­fen kön­nen, in dem sie Stich­worte bei­steu­ern, son­dern auch, dass sich im Laufe der Zeit ein beacht­li­ches Text­sam­mel­su­rium aus den ver­schie­dens­ten Gen­res ange­sam­melt hat. Auf Clue Wri­ting ist nun wirk­lich alles vor­han­den, was das Lese­herz sich wün­schen könnte: von düs­te­ren Kri­mis und Aben­teu­er­ge­schich­ten, über Komö­dien, gespickt mit Anspie­lun­gen auf Pop­kul­tur und Wis­sen­schaft, bis hin zu dra­ma­tisch-schwüls­ti­gen Cha­rak­ter­stu­dien oder Hor­ror­ac­tion – You name it, we’ve got it. 

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2 comments

News: Unsere Bloggerfreunde | Clue Writing 31. Mai 2015 - 18:12

[…] auch Bespre­chun­gen von Fil­men. Und übri­gens, im letzt­jäh­ri­gen Advents­ka­len­der war auch eine Geschichte der Clue Wri­ter zu […]

Reply
S03E23: Weihnachts-Special: Weihnachten auf der Spes Solis | Clue Writing 11. Juli 2016 - 19:31

[…] der drit­ten Staf­fel des Kurz­ge­schich­ten-Pod­casts Clue Cast begrüs­sen. Sie basiert auf der Story „Weih­nach­ten auf der Spes Solis“ von Rahel und Sarah und ist Teil des Fest­tags-The­men­mo­nats. Auch auf einer Reise durch den […]

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