#12. Türchen

by Bücherstadt Kurier

Das Grauen von Boltenhagen

Diese Zei­len schreibe ich unter gro­ßen geis­ti­gen Anspan­nun­gen, die nichts sind im Ver­gleich zu der nerv­li­chen Pein, her­vor­ge­ru­fen durch gewisse Vor­komm­nisse… grau­en­volle Vor­komm­nisse, die sich im Jahre des Herrn 2014 zur Weih­nachts­zeit in dem beschau­li­chen Küs­ten­städt­chen Bol­ten­ha­gen zuge­tra­gen hat­ten! Meine Fin­ger zit­tern immer noch ob des Schat­tens die­ser schreck­li­chen Erin­ne­run­gen, kaum fähig, die Tas­ten mei­ner Schreib­ma­schine zu tref­fen. Meine Augen flir­ren wie Irr­lich­ter über das wirre Geschmiere mei­ner hand­schrift­li­chen Auf­zeich­nun­gen… huschend, zwei­felnd, ob wirk­lich ich es gewe­sen war, der dies geschrie­ben hatte, oder nicht viel­leicht die Aus­ge­burt eines gewis­sen Wahn­sinns, der mich befal­len hatte und nun­mehr als ver­klin­gen­des Echo immer noch die Macht hat, mich der­art zu quälen!

Wir erhiel­ten sei­ner­zeit die Nach­richt, das Weih­nachts­fest in dem besag­ten Küs­ten­städt­chen Bol­ten­ha­gen — eigent­lich mehr ein Dorf — bei der Fami­lie mei­ner Frau zu ver­brin­gen. Nun war eigent­lich nichts Schlim­mes daran, und ich freute mich schon auf­rich­tig auf die gemein­same Zeit. So ist es doch immer: Die Dinge begin­nen zunächst völ­lig harmlos…

»So, nun sag brav etwas auf, dann gibt’s Geschenke!«, sagte ›Schwie­ge­roma‹ Chris­tel zu ihrem Enkel Benny, mei­nem Neffen.
»Setz dich, Oma! Sonst gibt’s kein Gedicht!«, ant­wor­tete der Kleine grinsend.
Wir setz­ten uns also. Benny hatte die bahn­bre­chende Idee, jedes ein­zelne Wort des Lie­des ›Jingle Bells‹ nach und nach durch ›Shit‹ zu erset­zen. Omas Gesichts­züge ent­gleis­ten, und Schwie­ge­r­opa Hel­muts Mund­win­kel zuck­ten. Ich klatschte im Rhyth­mus mit; meine Frau ver­drehte die Augen. Benny schaffte es bis ›Shit­ting on the snow‹; da sprang der Opa auf.
»Ist gut jetzt!«, sagte er und drückte Benny in Rich­tung der auf­ge­bau­ten Geschenke. »Aus­pa­cken!«
»Benny, ver­such das Lied doch das nächste Mal mit ›Piss‹!«, ermu­tigte ich den Jun­gen und setzte flüs­ternd nach: »Oder ein­fach mit ›Pipi‹«
»Pipi, ist das Eng­lisch?«, fragte Schwä­ge­rin Meike, Ben­nys Mutter.
Ich bestä­tigte es ihr und behaup­tete, dass man es im Angel­säch­si­schen jedoch mit ›y‹ am Ende schreibt.
Mitt­ler­weile lag Benny unter einem Berg von Geschenk­pa­pier begra­ben, aus dem plötz­lich ein fern­ge­steu­er­tes Auto sauste.
»Huiii!«, sagte meine Frau. »Ganz toll!«
»Benny pupst!«, drang es dumpf aus dem Müll­berg her­vor. Benny hatte die Wahr­heit gesagt und stimmte nun wie­der ›Shitty Bells‹ an, das uns fortan nicht mehr ver­las­sen sollte.

Spä­ter am Abend gab es das Weih­nachts­es­sen, das mit ›Scallopse aus der Tief­see‹ ange­kün­digt wurde. Klang für mich eher wie der Titel eines B‑Movies, und genauso geschmack­los sahen die blas­sen, dau­men­gro­ßen Knor­pel auch aus.
»Mein Gott, was ist das?!«, fragte ich.
»Scallopse aus der Tief­see!«, sagte Schwie­ge­r­opa Hel­mut und strich sich über sein Menjoubärtchen.
»Möpse aus der Tief­see?«, fragte Benny schein­bar ahnungslos.
»Nein! S‑c-a-l-l-o-p-s‑e!«, kam es unwirsch zurück. »Ist was ganz was Fei­nes! Gibt’s nur ein­mal in drei Jah­ren bei Lidli!«
Ich ver­lieh mei­ner Stimme einen mys­ti­schen Klang: »Klopse der Tief­see!« und stach in einen der rund­li­chen Knub­bel. Das Ding platzte, und eine gal­lertar­tige Masse spritzte mir entgegen.
Was mögen das nur für son­der­bare Krea­tu­ren sein?, dachte ich bei mir. Kre­peln in der Tief­see herum, um dann, irgend­wann nach Jah­ren, an die Ober­flä­che zu kom­men… Zum Luft schnap­pen? Der Scallops schmeckte widerlich!
»Ist ganz was Fei­nes! Haben einen ganz zar­ten und fei­nen Geschmack, nicht?«, sagte nun Oma Chris­tel und schüt­tete ein Pfund Salz über die Din­ger auf ihrem Teller.
Bestä­ti­gun­gen über den ach so fei­nen Geschmack wur­den von allen Sei­ten gebrab­belt, so dass auch ich mich in der Pflicht sah, ein sozial ver­träg­li­ches State­ment abzu­ge­ben: »Ja ja, ganz wunderbar!«
Meine Nase juckte plötz­lich und fing an zu laufen.
»Oooh…!«, sagte Schwie­ge­roma und reichte mir ein Taschen­tuch. Sie hielt die bei mir aus­tre­ten­den Flüs­sig­kei­ten doch tat­säch­lich für einen Aus­druck weih­nacht­li­cher Rührung!

Schon kurze Zeit spä­ter war mein Kopf auf das Drei­fa­che ange­schwol­len. Ich betrach­tete mich im Bade­zim­mer­spie­gel: Mein, ich nenne es mal — Gesicht wirkte wie ein wei­ßes, pral­les Kis­sen. Mein Mund sah aus wie ein Ret­tungs­ring… irgend­wie scallopse-artig! Ich erschrak. Hin­ter mir stan­den auf ein­mal blasse Scallopse-Zom­bies! Auch bei den übri­gen Fami­li­en­mit­glie­dern zeig­ten sich deut­lich die Aus­wir­kun­gen des Gif­tes, das diese klei­nen, unschein­ba­ren ›Deli­ka­tes­sen‹ wohl inne­ha­ben mussten.

Wir bra­chen schnell auf, ohne zu wis­sen, wohin. Es drängte uns in Rich­tung Meer! Ein Sturm kam auf, peitschte die sal­zige Gischt über das Dorf. Wir schwank­ten, wie durch einen Fluch belegt, mit den ande­ren Dorf­be­woh­nern — Chi­mä­ren aus Mensch und Scallops — durch die engen, steil auf­stei­gen­den Stra­ßen. Blitze durch­zuck­ten die Nacht und schäl­ten die wind­schie­fen Dächer der Häu­ser, die sich über die Stra­ßen wie grau­en­volle Hände neig­ten, für Sekun­den­bruch­teile aus den schwar­zen Untie­fen, den dunk­len Mög­lich­kei­ten der Nacht…

In einem hel­len Raum kam ich wie­der zu mir. Eine Kran­ken­schwes­ter kon­trol­lierte den Tropf an der Seite mei­nes Bet­tes. Meine Frage erah­nend, sagte sie schnell: »Lebens­mit­tel­ver­gif­tung! Alles wie­der in Ord­nung! Keine Sorge.«
Ich nickte und schloss meine Augen. Da sah ich sie wie­der vor mir: Die Scallopse des Grauens!
Man hätte diese schreck­li­chen Relikte aus grauer Vor­zeit nie wecken dür­fen, sie in den Tie­fen des Mee­res las­sen müs­sen! Viele Bewoh­ner Bol­ten­ha­gens konn­ten in Kran­ken­häu­sern ver­sorgt wer­den, doch die loka­len Vor­räte an Anti­hist­ami­nika waren schnell aufgebraucht.

So hatte sich in Bol­ten­ha­gen, in Küh­lungs­born, in Hei­li­gen­damm und in vie­len ande­ren Küs­ten­or­ten der ›Fluch der Scallopse‹ nach und nach aus­ge­brei­tet. Gerade heute wurde berich­tet, dass in der Meer­enge zwi­schen Hel­sing­borg und Hel­sin­goer selt­same Wesen beob­ach­tet wur­den. Eigent­lich klingt es lächer­lich… und doch! Man sagt, die Wesen hät­ten muschel­ar­tige Füße und Hände mit Schwimm­häu­ten und blasse, schwam­mige Köpfe. Eine Nach­rich­ten-Kurio­si­tät! So wurde es zumin­dest dar­ge­stellt. Doch spüre ich durch meine ent­stan­de­nen Scallopse-Instinkte, dass es die Wesen zum Ursprung ihrer Her­kunft drängt, in die tiefs­ten Tie­fen des Mee­res, hin zu den schat­ti­gen Laich­plät­zen unse­rer Vor­fah­ren… bis… bis sich in zwei Jah­ren in den Tief­kühl­tru­hen von Lidli wie­der die Scallopse-Kar­tons sta­peln. Das Grauen kommt wieder!

Text: F.A. Peters
Bild: Celina

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Zwischenzeilenverstecker Marco 12. Dezember 2015 - 10:30

Als beken­nen­der Love­craft-Fan hat mir das Lesen die­ser Geschichte beson­ders Freude berei­tet, obwohl ich anmer­ken muss, dass der alte H.P. weni­ger Humor gehabt haben muss.

Gefällt mir aus­neh­mend gut.

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