4. Türchen

by Bücherstadt Kurier

Fau­ler Zauber

von Daniela Röttges

Ich kann ver­ste­hen, warum man so einem Mist­wet­ter nicht drau­ßen sein möchte. Was ich aber nicht ver­stehe ist, warum mein Kater erst zehn Minu­ten unent­wegt an der Tür kratzt, um dann, sobald ich her­aus­komme, unter den nächst gele­ge­nen Baum zu flüch­ten. Es gibt nur eine Mög­lich­keit, wie ich die­ses Spiel been­den kann.
Ich schlüpfe in meine Stie­fel ohne sie zuzu­bin­den und wate durch den Matsch und den pras­seln­den Regen zu dem Baum. Noch bevor Oskar begreift, was hier eigent­lich vor­geht, habe ich ihn gepackt und auf mei­nen Arm gezerrt, wo er hilf­los mit den Bei­nen stram­pelt und mich empört ansieht. Das igno­riere ich und mache mich auf zurück zur Tür, von der ich lei­der fest­stel­len muss, dass sie zuge­fal­len ist. Ich flu­che inner­lich und ver­la­gere Oskar auf die Seite, um in der Sport­ho­sen­ta­sche mei­nen Schlüs­sel zu suchen. Oskar ver­sucht wäh­rend­des­sen über meine Schul­ter zu türmen.
Meine Hand fährt in die zweite Tasche und als diese genauso leer ist wie die erste, wird mir mul­mig zumute. Ich habe mich doch tat­säch­lich aus­ge­sperrt. Mein Griff lockert sich und Oskar nutzt dies, um von mei­nem Arm zu sprin­gen. Für einen Moment sieht er noch zu mir hoch und miaut, dann prescht er durch den Regen davon. Seuf­zend lehne ich mich an die Tür unter das kleine Vor­dach. Kei­nes der Fens­ter ist offen, da bin ich mir sicher. Und meine Eltern wür­den nicht vor mor­gen früh von der Party zurück sein.

Vor mir führt die Wiese einen leich­ten Abhang hin­auf und ver­deckt den Blick auf das dahin­ter lie­gende Feld, in des­sen Rich­tung Oskar ver­schwun­den war. Nur wegen ihm stehe ich jetzt nur in Jog­ging­hose, schlab­ber T‑Shirt und mei­nen losen Win­ter­stie­feln vor der Tür. Nun, wenigs­tens die Schuhe könnte ich zubinden.
Blitze erhel­len in regel­mä­ßi­gen Abstän­den den Nacht­him­mel in einem kal­ten weiß-blau. Das Licht kommt mir so unwirk­lich vor. Bei­nahe pas­send für eine sol­che Nacht. Man sagt ja, die Nacht vor Aller­hei­li­gen wäre die Nacht der Unto­ten und bösen Geis­ter. Frü­her haben die Leute des­halb Lich­ter und gru­se­lige Pup­pen nach drau­ßen gestellt. Heute macht das lei­der kei­ner mehr.

Als ich gerade über­lege, den län­ge­ren Weg zu den Nach­barn auf mich zu neh­men, zieht ein wei­te­rer wei­ßer Blitz über den Him­mel und wird sofort von dem grol­len­den Don­ner gefolgt. Doch dies­mal ist es anders. Rot mischt sich unter das kalte Licht. Ein roter Schleier, der direkt von vorne zu kom­men scheint. Ich ver­su­che noch mir ein­zu­re­den, dass ich mich ver­guckt haben muss. Doch ich werde den Gedan­ken nicht los, dass ich es mir doch nicht ein­ge­bil­det habe. Ein Blick kann sicher nicht schaden.
Ich schlinge die Arme dich­ter an den Kör­per, atme tief durch und renne den Abhang hin­auf. Regen peitscht mir ins Gesicht, sodass ich schnell Schutz unter dem nächs­ten Baum suche. Von hier hat man freie Sicht auf das Feld. Doch was ich sehe, beru­higt mich nicht im gerings­ten. Mit­ten zwi­schen den ver­trock­ne­ten Res­ten der Ernte steht eine Per­son. Ich erkenne nur ihren Rücken, doch sie ist schmal und recht groß. Was tut jemand um diese Uhr­zeit bei die­sem Wet­ter drau­ßen? Jemand, der nicht von sei­ner Katze aus­ge­sperrt wurde?

Einige Zeit beob­achte ich die Per­son, doch sie rührt sich kaum, son­dern zap­pelt nur etwas auf der Stelle. Sie scheint mit etwas beschäf­tigt zu sein. Aber womit? Die Neu­gierde packt mich und ich nehme all mei­nen Mut zusam­men, um her­über zu rufen: „Hallo! Ent­schul­di­gen Sie!“
Der­je­nige reagiert nicht. Wahr­schein­lich hört er mich wegen des Win­des nicht. Also trete ich hin­aus in den Regen und gehe zu ihm hin­über. „Hey, kann ich Ihnen helfen?“
Wie­der keine Ant­wort. Ich stehe fast hin­ter der Per­son, als sie mich immer noch nicht bemerkt. Sie trägt einen schwar­zen Umhang, der kom­plett durch­nässt ist. Die Kapuze ist über den Kopf gezo­gen, sodass ich nichts erken­nen kann. Mein Herz schlägt schnel­ler in mei­ner Brust. Aber ich fürchte mich nicht. Für alles gibt es eine logi­sche Erklä­rung. Außer­dem ste­hen Ver­bre­cher sel­ten nachts im Regen auf ein­sa­men Fel­dern herum.
„Ent­schul­di­gung“, beginne ich erneut mit lau­ter Stimme. „Haben Sie sich verlaufen?“
Nur lang­sam dreht sich die Per­son um. Ihr Gesicht erkenne ich immer noch nicht rich­tig, doch eine helle, aber ein­deu­tig männ­li­che Stimme ant­wor­tet mir: „Ver­schwinde, Mädchen.“

Eigent­lich hätte ich gerne sei­ner freund­li­chen Auf­for­de­rung gehorcht, aber meine Beine woll­ten sich nicht bewe­gen. Also stehe ich ein­fach nur ange­wur­zelt da und betrachte diese selt­same Erschei­nung vor mir.
„Ich sagte: Ver­schwinde!“ Er schreit bei­nahe und wen­det sich mir so schlag­ar­tig zu, dass ihm die Kapuze vom Gesicht rutscht. Zum Vor­schein kommt der Kopf eines Jun­gen, nicht viel älter als ich, mit brau­nem Haar und einem kaum merk­li­chen Bart­wuchs. Er erstarrt in sei­ner Bewe­gung, als er mei­nen Blick bemerkt.
„Wer bist du?“, ent­fährt es mir, wäh­rend ich ihn ungläu­big anstarre. In mei­nem Kopf tür­men sich alle mög­li­chen Gedan­ken, doch ich kann sie nicht in Worte fassen.
„Ich bin ein Geist.“ Seine Stimme ist ruhig. „Ich gehöre eigent­lich nicht hierhin.“
„Bist du nicht.“
„Bin ich doch“, zischt er zurück.
„Geis­ter sind durchsichtig.“
„Du... Du kannst mich sehen?“, platzt es plötz­lich aus ihm heraus.
„Nein, ich brabble nur so vor mich hin.“ Ich ver­stehe zwar nicht, was das Thea­ter soll, aber die­ser Junge ist genauso aus Fleisch und Blut, wie ich es bin.
„Ver­dammt.“ Er fängt an etwas in sei­nen kaum vor­han­den Bart zu mur­meln. Dann hebt er mit einem Mal die Arme und fängt an mit den Fin­gern zu fuch­teln. „Ich bin ein Hexen­meis­ter und wenn du nicht sofort ver­schwin­dest, werde ich -“
Ich lasse ihn erst gar nicht aus­re­den. „Was machst du hier draußen?“
„Pass auf mit wem du dich anlegst.“
„Aber ich will mich doch über­haupt nicht mit dir anle­gen“, ent­fährt es mir, ohne dass ich mir sicher bin, dass er mit sei­nem Satz fer­tig gewe­sen wäre. „Ich möchte ein­fach nur wis­sen, was du hier machst.“
„Gut.“ Er ver­schränkt die Arme und sieht mich von oben herab an. „Wenn du es wis­sen willst: Ich beschwöre einen Dämon.“
„Auf offe­nem Feld?“
„Natür­lich auf offe­nem Feld! Es muss doch genug Platz da sein, wenn er erscheint.“
Ich sehe mich um und dann zum Him­mel. „Ziem­lich schlech­tes Wet­ter für eine Dämo­nen­be­schwö­rung, oder?“
„Ich hab mir das Wet­ter in der Aller­hei­li­gen Nacht nicht aus­ge­sucht“, knirscht der Junge. „Ach, ich habe dafür keine Zeit.“ Er wen­det den Blick von mir ab und beginnt wie­der damit etwas mit sei­nen Hän­den zu tun.

Vor­sich­tig gehe ich ein Stück­chen um ihn herum, um erken­nen zu kön­nen, was er da tut. Er dreht ein Amu­lett zwi­schen sei­nen schmut­zi­gen und kaput­ten Fin­gern, das an einer gol­de­nen Kette hängt. Die lei­sen Worte, die er mur­melt, drin­gen nur spär­lich an mein Ohr. Lange Zeit pas­siert ein­fach nichts. Ich erkenne, dass seine Hände zit­tern und auch seine Stimme wird mit der Zeit unru­hi­ger. Doch mit einem Mal fühlt es sich merk­wür­dig an. Der Regen pras­selt nicht mehr auf uns herab, son­dern fließt zäh hin­un­ter. Rotes Licht erfüllt die Luft und schießt plötz­lich zum Him­mel hin­auf. Ruck­ar­tig reiße ich den Kopf hoch und sehe, wie das Licht die Wol­ken­de­cke durch­bricht. Als würde für einen Moment die Zeit still ste­hen, so stoppt auch mit einem Mal der Regen. Noch bevor ich begreife, was gerade pas­siert oder was pas­sie­ren könnte, ist es auch schlag­ar­tig vor­bei. Die Dun­kel­heit der Nacht fällt wie­der auf uns herab und eine kalte Dusche von Regen ergießt sich über mir.

„Scheiße!“, schreit der Junge und wirft wei­tere Flü­che gegen den Him­mel. Ich schätze, was immer er vor­hatte, hat nicht so geklappt wie er es wollte. Und es war bereits sein zwei­ter Ver­such. Schluss­end­lich fällt er auf die Knie und bleibt regungs­los am Boden sit­zen. Er macht einen bemit­lei­dens­wer­ten Eindruck.
„Warum willst du denn einen Dämo­nen beschwö­ren?“, frage ich mit ruhi­ger Stimme.
„Das geht dich nichts an!“, blafft er zurück.
„Warum ist es dir so wich­tig?“ War das hier irgend­ein Test? Oder half ich gerade bei der Ver­nich­tung der Welt, indem ich ihn ver­suchte aufzumuntern?
Ich hatte schon gar nicht mehr mit einer Ant­wort gerech­net, als er plötz­lich anfängt: „Ich bin auf der Flucht. Sie suchen mich, weil...“
„Weil?“, hake ich nach. Dem Jun­gen muss man alles aus der Nase ziehen.
„Weil ich das hier gestoh­len habe.“ Er hält das Amu­lett in die Höhe und rich­tet sich auf. „Die­ses mäch­tige Arte­fakt ent­hält die Essenz von Rubirium.“
„Du meinst Rubin“, ver­bes­sere ich ihn.
„Nein, Rubi­rium. Das ist eine der mäch­tigs­ten Sub­stan­zen im gan­zen Universum.“
„Schein­bar funk­tio­niert sie nicht beson­ders gut.“
Er hat schon den Mund geöff­net, um etwas zu erwi­dern, als er hek­tisch den Kopf zur Seite dreht. Er mur­melt einen Fluch und packt mein Hand­ge­lenk. „Weg hier!“
So schnell wie er los­rennt komme ich über­haupt nicht mit und stol­pere hin­ter ihm her. Mit aller Kraft stemme ich mich in den Boden, damit er anhält und ver­su­che seine Hand zu lösen.
„Halt! Wo willst du hin?“
Er sieht mich irri­tiert an, als im sel­ben Moment eine rie­sige Licht­ku­gel neben uns ein­schlägt und mich nach hin­ten wirft. Der Boden ist weich, auf dem ich lande, nur ein getrock­ne­ter Stän­gel zer­kratzt mir den Ober­arm. Mein Herz rast. Sofort rap­pel ich mich wie­der auf. Meine Beine zit­tern und es fällt mir schwer gerade zu ste­hen. Etwas ent­fernt von mir sehe ich den Jun­gen, der sich eben­falls nur schwer­lich vom Boden erhebt.

„Wo immer ihr seid, kommt raus!“, ruft er, kaum dass er gerade steht, in die Nacht hin­ein. Stille. „Na gut...“ Er trägt das Amu­lett immer noch in den Hän­den und umschließt es jetzt mit allen Fin­gern. Rotes Licht umhüllt seine Hand. Wie Flam­men schlän­gelt es sich um seine Faust herum und türmt sich zu einer rie­si­gen Kugel auf. Mit einem Mal lässt er seine Faust zu Boden sau­sen. Die Kugel löst sich von dem Amu­lett und... löst sich in Luft auf.
„Sollte das so sein?“, frage ich mit zit­tern­der Stimme. Er ant­wor­tet nicht und macht nur auf dem Ansatz kehrt und rennt davon. „Hey!“
Gerade noch recht­zei­tig renne ich los, denn die nächste Kugel schlägt bereits an der Stelle ein, an der er gerade noch gestan­den hat. Meine Beine lau­fen wie von alleine, aus Angst zu erfah­ren, was pas­siert, wenn eine der Kugeln tref­fen würde. Wir het­zen wie Hasen in Zick­zack über das Feld. Wäh­rend ich ihn in mei­ner Panik anflehe mir zu sagen, was hier eigent­lich los ist, scheine ich für ihn über­haupt nicht zu existieren.

Der Rand des Fel­des, an dem die Bäume wie­der anfan­gen, kommt immer näher. Ich wage es nicht, mich umzu­bli­cken. Adre­na­lin rauscht durch mei­nen Kör­per und mein Kopf ist nur mit einer ein­zi­gen Sache beschäf­tigt: Bloß nicht zu stol­pern. Sonst ist es vor­bei. Doch noch im glei­chen Moment spüre ich wie sich etwas um mei­nen Fuß schlingt. Ich komme aus dem Gleich­ge­wicht, schaffe es aber wei­ter zu lau­fen. Dann höre ich plötz­lich ganz in der Nähe einen dump­fen Schlag. Ich wende den Blick kurz ab, um zu sehen, dass der soge­nannte Hexen­meis­ter sich der Länge nach hin­ge­legt hat. Auch wenn ich es bes­ser wis­sen müsste, ändere ich intui­tiv meine Lauf­rich­tung und renne zu ihm hin­über. Ich schaffe es gerade noch recht­zei­tig ihn zurück auf die Beine zu zie­hen, bevor die nächste Kugel ein­schlägt. Meine Fin­ger ver­kramp­fen sich um den Stoff sei­nes Umhangs, sodass ich es nicht schaffe ihn wie­der los­zu­las­sen. Doch ich habe nur einen Gedan­ken: Weg hier. Dies­mal bin ich des­halb die­je­nige, die ihn mit sich zieht, doch er gibt aus­nahms­weise kei­nen Ton von sich.

Als wir den Rand end­lich errei­chen, ist es wie eine Erleich­te­rung. Ich löse mei­nen Griff und merke wie taub meine Hand gewor­den ist. Meine wei­chen Beine wol­len mich nicht mehr tra­gen und ich lasse mich hin­ter einem dicken Baum­stamm nie­der, als könnte er mich vor den Kugeln schüt­zen. Als der Junge sich eben­falls schwer atmend fal­len lässt, weiß ich, dass die Bäume uns schein­bar wirk­lich schüt­zen können.
Ein „Warum?“ ist alles, was ich mit mei­nem rasen­den Her­zen her­aus bekomme.
Keine Ant­wort. Nun, ich habe meine Frage ja auch nicht beson­ders prä­zise gestellt.
„Was war das? Wer sind die? Warum?“ Ich schnappe nach Luft. “Warum hast du die­ses unnütze Ding gestohlen?“
Als wie­der keine Ant­wort kommt, schaue ich zur Seite und sehe, wie er zusam­men­ge­sun­ken, den Kopf auf den Knien, neben mir hockt. Er scheint total weg­ge­tre­ten. Seine Augen star­ren ins Leere. Das Amu­lett umklam­mert er immer noch mit den Fin­gern. Die Ver­let­zun­gen an sei­nen Fin­gern sind schlim­mer gewor­den. Ob das von dem Amu­lett kommt?
Ich stre­cke meine Hand nach ihm aus und will seine Schul­ter fas­sen, doch noch bevor meine Fin­ger ihn berühr­ten, zuckt er zusam­men. Er win­det sich und ich sehe, dass er Schmer­zen lei­det. Aber warum? Ich kann keine äuße­ren Ver­let­zun­gen erkennen.
„Was ist los mir dir?“, frage ich, doch er hört nicht auf zu zit­tern und sich zu krüm­men. Er ant­wor­tet mir nicht mehr und in die­ser Stille höre ich Schritte durch das Laub brechen.

Keine Sekunde spä­ter ste­hen sie vor mir: Drei Gestal­ten, die in schwarze Umhänge gehüllt sind. Als würde der Anblick der Drei ihm schluss­end­lich den Rest geben, spüre ich, wie der Hexen­meis­ter neben mir zusam­men­bricht und zur Seite weg­kippt. Nicht nur, dass er mich hier rein gezo­gen hat. Jetzt lässt er mich auch noch im ent­schie­de­nen Moment alleine!
Auch wenn ich ihre Gesich­ter nicht erken­nen kann, spüre ich, wie die drei Gestal­ten mich beob­ach­ten. Mit lang­sa­men Schrit­ten kom­men sie auf uns zu.
Zit­ternd drü­cke ich mich fest gegen den Baum­stamm. Ich hatte doch über­haupt nichts mit der Sache zu tun! Er hatte das dumme Amu­lett gestoh­len und nicht ich. Ich bin nur die Unglück­li­che, die gerade heute Nacht von ihrem blö­den Kater aus­ge­sperrt wer­den musste. Ich habe nichts mit die­sem Amu­lett zu tun!
Auf einen Schlag wird mir alles klar: Das Amu­lett. Sie wol­len das Amulett!

Geis­tes­ab­we­send greife ich nach der Kette, die zwi­schen sei­nen Fin­gern her­vor­lugt und ziehe daran. Er hält das Amu­lett immer noch fest umklam­mert, sodass es kei­nen Zen­ti­me­ter nach­gibt. Has­tig bli­cke ich mich um. Sie sind nur noch knappe zwei Meter ent­fernt. Ich glaube etwas weiß auf­leuch­ten zu sehen, das kein Blitz ist. Panik ergreift mich und ich ver­kralle meine Hände in sei­nen, um sei­nen Griff auf­zu­bie­gen. Mit aller Kraft drü­cke ich.
„Nein“, keucht er und ver­sucht seine Fin­ger wie­der zu schlie­ßen. Der Junge war also doch noch bei Bewusst­sein. Ich zerre trotz­dem wei­ter an sei­nen Hän­den. Er konnte ja gerne beschlos­sen haben hier mit sei­nem kost­ba­ren Amu­lett zu ster­ben. Doch ich nicht! Zu mei­nem Glück sind seine Hände ver­schwitzt, sodass ich es schaffe ihm das Amu­lett aus den Hän­den zu reißen.
„Nein!“ In sei­nem Schrei liegt so viel Bit­ter­keit. „Tu das nicht!“ Er ver­sucht mei­nen Arm, der gerade zum Wer­fen aus­holt zu packen. Doch er erwischt mich einen Moment zu spät und das Amu­lett segelt bereits durch die Luft. Genau vor die Füße der drei Vermummten.
Mein Herz setzt einen Schlag aus. Aus Furcht, was als nächs­tes pas­sie­ren wird, erstarre ich augen­blick­lich. Die mitt­lere Gestalt bückt sich und hebt das Amu­lett vom Boden auf. Es sieht fast so aus, als würde sie es begut­ach­ten. Der Hexen­meis­ter lässt mei­nen Arm schlag­ar­tig los und ver­sucht auf­zu­ste­hen, um sich das Amu­lett zurück zu holen, doch eine unsicht­bare Kraft drückt ihn zurück auf den Boden, wo er regungs­los lie­gen bleibt.

Ich wage es kaum, zu atmen. Dann hebt der Ver­mummte den Kopf und ich sehe nur zwei rote, glü­hende Punkte, die mich fixie­ren. Ich ver­su­che zu schlu­cken, doch es bleibt mir wie ein Kloß im Hals ste­cken. Was wer­den sie jetzt mit mir anstellen?
Ein plötz­li­ches Rascheln im Laub lässt uns beide den Blick abwen­den und ich erkenne Oskar, wie er auf den Ver­mumm­ten zuspringt. Doch anstatt ihm an den Hals zu fal­len, wie ein treuer Hund das getan hätte, beginnt er um ihn herum zu wuseln. Ich lasse alle meine Hoff­nun­gen fal­len. Der Kater ist zu nichts zu gebrau­chen. Zu mei­ner Über­ra­schung beugt sich die Gestalt jedoch zu Oskar her­un­ter und krault ihm den Kopf. Mein Kater guckte dar­auf­hin zufrie­den, als wäre er beson­ders stolz. Stolz wie Oskar.

Als die Gestalt sich wie­der auf­rich­tet, sehe ich plötz­lich wie aus dem Nichts etwas auf mich zu geflo­gen kommt. Ich kneife die Augen zusam­men und bereite mich schon ein­mal auf mei­nen bal­di­gen Tod vor, als das Ding genau vor mir lan­det. Es leuch­tet nicht. Das beru­higt mich schon einmal.
Auf den zwei­ten Blick erkenne ich den Gegen­stand sogar. Es ist mein Schlüsselbund.
Irri­tiert sehe ich auf und bemerke, wie die Gestalt vor mir nickt, als würde sie mir dan­ken. Dann beginnt das Schwarz der Umhänge zu ver­blas­sen und mit dem Hin­ter­grund zu ver­schwim­men und kurz dar­auf sind die Umhang­trä­ger voll­stän­dig verschwunden.
Erschöpft lasse ich mei­nen ange­spann­ten Kör­per fal­len und sinke gegen den Baum­stamm. Um mich herum pras­selt immer noch der Regen durch die Baum­kro­nen. Mein Kopf will das alles noch nicht ver­ste­hen, was gerade pas­siert ist. Oskar küm­mert das wenig. Er kommt zu mir hin­über und macht es sich mit sei­nem vol­len Gewicht auf mei­nem Bauch bequem. Ich schnappe nach Luft. Warum hat­ten sich die Typen das Amu­lett nicht ein­fach geholt und woher hat­ten sie mei­nen Schlüssel?

Ein Stöh­nen neben mir lässt mich den Kopf wen­den. Der Junge ist wie­der bei Bewusst­sein. Seine Fin­ger sind immer noch kaputt und auf­ge­ris­sen, doch er scheint keine Schmer­zen mehr zu haben, denn er rich­tet sich zwar schwer­fäl­lig, aber ohne Hilfe auf. Sein Gesicht ist von oben bis unten dre­ckig, als er zu mir sieht. Ich kann die Ver­wir­rung in sei­nen Zügen lesen.
„Warum hast du das getan?“, flüs­tert er verbittert.
Ich hatte weder eine Ent­schul­di­gung erwar­tet noch ein „Danke“, aber die Frage ging zu weit.
„Dein Leben geret­tet, du Idiot!“, fahre ich ihn an und werfe dabei Oskar von mei­nem Schoß. „Du tauchst hier auf und ziehst mich in eine Sache rein, mit der ich rein gar nichts zu tun habe und die mich fast umge­bracht hätte.“
„Ich habe dich in über­haupt gar nichts hin­ein gezo­gen!“ Er beugt sich nach vorne, um bedroh­li­cher zu wir­ken. „Dazu­blei­ben war deine eigene Entscheidung!“
„Wie macht­hung­rig kann man eigent­lich sein, ein Amu­lett nicht her­zu­ge­ben, das einen umbringt?“ Ich spüre wie sich meine Hände zu Fäus­ten ballen.
„Du ver­steht nicht, wie unglaub­lich wich­tig die­ses Amu­lett war!“
„Nein das tue ich nicht! Und ganz ehr­lich: Ich ver­stehe nichts hier­von. Nicht von Magie. Nicht von die­sen Typen und ganz sicher nichts von dir. Und das möchte ich auch lie­ber nicht.“ Ich funkle ihn böse an. All meine Wut liegt in die­sen Wor­ten und es tut so gut, ihm end­lich die Mei­nung zu sagen.
Dar­auf weiß er nichts mehr zu erwi­dern. Wir star­ren uns noch einige Momente lang an, dann steht er auf, greift in seine Tasche und drückt mir eine schwarze Perle in die Hand. Ich lasse sie augen­blick­lich fal­len, aus Angst es könnte irgend­eine Falle sein. Doch nichts pas­siert. Was hatte ich auch ande­res bei ihm erwartet?
„Sie ist nicht gefähr­lich“, ver­si­chert er mir mit ruhi­ger Stimme. „Sie ist, damit du dich erinnerst.“
„Also werde ich das Ganze hier wie­der ver­ges­sen?“, frage ich ver­wun­dert und hebe die Perle wie­der auf. Natür­lich. Ich hatte Magie gese­hen. Was hatte ich ande­res erwartet?
„Das wirst du auch. Aber mit der Perle wirst du dich an mich erin­nern.“ Na toll. „Es wäre doch ein Jam­mer, wenn du deine Begeg­nung mit dem mäch­tigs­ten Magier aller Zeit ver­ges­sen würdest.“
Ich lachte tro­cken auf. Er bemerkt mein fal­sches Lachen schein­bar nicht, denn er grinst mich an. Mit kei­nem wei­te­ren Wort bedankt er sich bei mir, son­dern wen­det sich ab und geht.

Ich über­lege, ob ich ihm etwas hin­ter­her rufen soll. Ob ich ihn fra­gen soll, wohin er geht, was er vor­hat. Doch ich weiß, dass das kei­nen Zweck hat. Er wird mir nicht ant­wor­ten und ich würde ihn keine Stunde mehr ertra­gen und Magie sowieso nicht.
Ich richte mich auf und sehe ihm nach. Was für eine merk­wür­dige Begeg­nung in so einer Nacht. Kurz über­lege ich, ob ich die Perle nicht doch lie­ber wie­der fal­len las­sen sollte. Dann würde ich ihn, wie alles andere hier, ver­ges­sen. Etwas hält mich davon ab. Ihn möchte ich nicht ver­ges­sen. Ich möchte ihn erken­nen, wenn ich ihm noch ein­mal begeg­nen sollte. Und nur aus einem ein­zi­gen Grund: Um ihm dann aus dem Weg zu gehen.

Über die Autorin:
Seit über 10 Jah­ren schreibe ich phan­tas­ti­sche und humor­volle Geschich­ten. Vor 4 Jah­ren habe ich ange­fan­gen meine Geschich­ten online unter dem Pseud­onym Schnee­re­gen zu ver­öf­fent­li­chen. Lange und kurze Geschich­ten, Arti­kel über meine Art zu schrei­ben und das Schrei­ben all­ge­mein fin­det ihr auf mei­nem Blog: schnee​re​gen​wri​ters​blog​.blog​spot​.de.

Bild: Alexa

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