Aber Hier Leben, Nein Danke

by Bücherstadt Kurier

Gast­au­tor Paul fin­det: Wir sind hier nicht in Seat­tle, Dirk.[1]

Und wer­den es auch nie­mals sein
Wir sind hier nicht in Seat­tle, Dirk
Was bil­dest du dir ein?
Was nicht ist, kann nie­mals sein

Nost­al­gie lei­tet sich von den grie­chi­schen Wör­tern νόστος, „Rück­kehr zur Hei­mat“ und ἄλγος, „Schmerz“ her und wurde als Kunst­wort von J. Hofer als wis­sen­schaft­li­cher Term 1688 für „Heim­weh“ geprägt. Die Nost­al­gie (oder der Begriff der) hat im Laufe der Jahr­hun­derte auch eine Wand­lung durch­ge­macht: Wenn man so will ist er durch ver­schie­dene Spra­chen gereist und heute nicht mehr syn­onym mit dem Heim­weh zu set­zen, hat sich aber noch nicht ganz von ihr gelöst. Er ist ein Rei­sen­der und viel­leicht sogar ein Heim­keh­rer.[2]

Im Nach­fol­gen­den möchte ich über die Nost­al­gie als Schmerz der Heim­kehr spre­chen und damit über das Nega­tiv einer Reise. Nach mei­nem Ver­ständ­nis sind sie zwei Sei­ten einer Medaille.
Eine Reise unter­schei­det sich grund­sätz­lich von einem Urlaub und sollte unter kei­nen Umstän­den ver­wech­selt wer­den. Ein Urlaub ver­ödet die Seele[3], falls dies nicht schon gesche­hen ist, indem er das immer Glei­che, die all­täg­li­che Enge und das Gewohnte bis in ein ande­res Land ver­län­gert. Ein All-Inclu­sive Club Hotel ist der Tem­pel der Lan­ge­weile. Nach allen Küns­ten wird ver­sucht, die Erwar­tun­gen der Urlauber_innen zu erfül­len. Die Erwar­tun­gen wer­den aus dem All­tag mit­ge­nom­men und dank des vor­aus­ei­len­den Gehor­sams der Tou­ris­tik besteht keine Mög­lich­keit, die­sem zu ent­kom­men. Man bleibt befan­gen und gefangen.
Dies wird jedoch schnell schal wie abge­stan­de­nes dort so gerne ser­vier­tes Bier, wenn man bedenkt, dass dies alles nur auf zuvor zu Hause getrof­fene Erwar­tun­gen zurück­geht. Dem gegen­über wird man bei einer Reise schnell fest­stel­len, dass sich die vorab zurecht­ge­leg­ten Scha­blo­nen nicht mit der Wirk­lich­keit decken, im Guten oder Schlechten.

Eine Reise wirft den Rei­sen­den (geschlechts­neu­tral) am Ende auch immer wie­der auf das selbst zurück, bela­den mit Erfah­run­gen, Erleb­nis­sen geht es jedoch am Ziel ein wenig fehl. Er trifft sich selbst jedoch nie mit dem, was es vor der Abreise war.
Wah­res Rei­sen bedarf kei­ner räum­li­chen Ver­än­de­rung. Ein schö­ner und tie­fer Gedanke kann dies eben­falls bewerk­stel­li­gen. Ein Buch kann ein geeig­ne­te­res Vehi­kel für eine Reise sein wie ein Kreuz­fahrt­schiff.[4] Auch ein lan­ger Tag­traum, der nicht nur zer­streut oder ein gutes Gespräch. Der_die indi­vi­du­elle Lerser_in die­ses Tex­tes möge sich selbst noch viele Bei­spiele hierzu im Kopfe aus­ma­len, am bes­ten mit reich­lich aus­ge­stal­te­ten Land­schaf­ten. Die Nost­al­gie schlägt dann zu, wenn man wie­der zurück in der Hei­mat ist und erkennt, dass sie nicht mehr die ist, die man ver­las­sen hat, weil man selbst nicht mehr der ist, der man vor der Abreise war. Ein bit­ter­sü­ßes Gefühl.

Durch den neuen Blick auf sich selbst sieht man das ehe­mals Ver­traute anders, kann über die Witze der eige­nen Jugend nicht mehr so lachen, muss erken­nen wie alles noch immer das glei­che ist wie ehe­dem nur der_die Heim­keh­rende nicht.
Es gibt aber auch die ver­kit­schende ein­fa­che Nost­al­gie, die Nost­al­gie der Urlauber_innen. Diese hat nichts mit einem Ich zu tun, das sich auf sich selbst zurück­ge­wor­fen sieht und erken­nen muss, dass Erin­ne­rung und Gegen­wart nicht eins sind, son­dern ent­ge­gen allen Tat­sa­chen die Ver­gan­gen­heit einem Wunsch ent­spre­chend ver­klärt. Wer die­sen Schmerz noch nie erlebte, ist noch nie ver­reist. In die­sem Schmerz kann das Heim einem auch unheim­lich wer­den.[5] Den­noch: Aber Hier Leben, Nein Danke.[6]

[1] Digi­tal ist bes­ser, Tocotronic
[2] Von einem deutsch­spra­chi­gen Schwei­zer geprägt, über das Fran­zö­si­sche ins Eng­li­sche und zurück ins Deutsche.
[3] Wer es weni­ger spi­ri­tu­ell lie­ber mag, nenne es das Bewusstsein.
[4] Mir ist bekannt, dass sol­che Schiffe über groß­zü­gig aus­ge­stat­tete Biblio­the­ken ver­fü­gen können…
[5] Vgl. Freud: Das Unheim­li­che (Dies führt mich aber nun wirk­lich zu weit weg von der Hei­mat des Tex­tes, aber rei­sen ist schön.)
[6] Pure Ver­nunft Darf Nie­mals Sie­gen, Tocotronic

Foto: pedro­j­pe­rez

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