Absturz eines Muttersöhnchens Deutscher Buchpreis 2017

by Worteweberin Annika

Matu­schek lebt bei Mama. Die macht ihm Essen, bezahlt seine Rech­nun­gen und sorgt dafür, dass alles seine Ord­nung hat. Ganz ein­fach also. Was aber, wenn Mama stirbt? In „Nach Onkalo“ von Kers­tin Prei­wuß hat Worte­we­be­rin Annika mehr erfahren.

Irgendwo in der ost­deut­schen Pro­vinz züch­tet der vier­zig­jäh­rige Matu­schek Tau­ben und beob­ach­tet auf dem Flug­ha­fen das Wet­ter. Zuhause war­tet seine Mut­ter auf ihn. Doch eines Mor­gens kommt sie ein­fach nicht mehr aus dem Bett – tot. Eine andere Frau ist nicht in Sicht, denn so rich­tig gut kann der Jung­ge­selle nur mit sei­nen Tau­ben umge­hen. Zum Glück gibt es die Nach­barn, den Rus­sen Igor und den Rent­ner Witt, die dem Hilf­lo­sen unter die Arme grei­fen. Alles scheint gut zu lau­fen: Matu­schek ban­delt mit Igors Schwä­ge­rin Irina an und hat fortan eine Zukunft. Die aber rückt bald wie­der in weite Ferne, und so muss sich Matu­schek ohne Irina und Igor durch­schla­gen. Alko­hol und angeln regie­ren von nun an sein Leben, sogar die Tau­ben ver­gisst er. Matu­schek stürzt ab, würde am liebs­ten ster­ben und ist auch nicht mehr weit ent­fernt davon. Ob er es noch schafft?

Ein Tau­ben­züch­ter und die Provinz

Die Leser beglei­ten Matu­schek dabei, wie er strau­chelt, neue Wege ein­schlägt, den Boden unter den Füßen ver­liert, manch­mal doch wie­der auf­steht. Kers­tin Prei­wuß zeich­net ein deut­li­ches Bild ihres Prot­ago­nis­ten. Sie stellt weder bloß, noch weckt sie Mit­leid mit dem auf­ge­schmis­se­nen Tau­ben­züch­ter, macht die Leser nur zu Beob­ach­tern eines Aus­schnit­tes aus Matu­scheks Leben. Wenn man so möchte, dann ist das ein Absturz, aber die Gründe dafür sind zumin­dest nachvollziehbar:

„Fet­zen von frü­her blit­zen auf wie Split­ter, die man sich holt. Nicht der Rede wert, man stirbt nicht dran, muss nicht mal zum Arzt, aber es puckert stän­dig vor sich hin, und der Schmerz macht, dass man die Hand nicht mehr so ein­set­zen kann wie sonst. […] Es gibt Wege, die dort­hin füh­ren, wo er jetzt ist, also gibt es auch Gründe dafür.“ (S. 186)

Matu­schek ist eng ver­bun­den mit sei­ner Hei­mat, der Pro­vinz. Weg, wie so viele andere, möchte er nicht. Hier gibt es schon lange keine Poli­zei mehr, und bald ver­mut­lich nicht mal Tau­ben­züch­ter. Doch es scheint Aus­wege zu geben: Für Matu­schek ist es die Arbeit, die er schließ­lich beim Abbau eines Atom­mei­lers fin­det. Für die Pro­vinz könn­ten es die Künst­ler aus der Groß­stadt sein, die hier Fami­li­en­glück und Abge­schie­den­heit finden.

Ein rät­sel­haf­ter Titel

Und Onkalo? Rät­sel­haft klingt er, der Titel des Romans. Ein Ort, soviel scheint schon mal sicher, viel­leicht irgendwo auf dem Land, wo man angeln kann? Das Titel­bild zumin­dest legt das nahe. Tat­säch­lich aber ist Onkalo, auch Olki­luoto genannt, ein fin­ni­sches Atom-End­la­ger. Eine Höhle, die für die Ewig­keit Bestand haben soll – ganz anders also, als Matu­scheks Leben, der im Ange­sicht des Abgrun­des dar­über sin­niert, dass mit ihm so viele Erin­ne­run­gen ver­lo­ren gehen wer­den – auch an seine Mut­ter und den Nach­barn Witt. Ob es nicht viel­leicht bes­ser so ist? Es sind so auch Fra­gen danach, was von uns eigent­lich bleibt, die Kers­tin Prei­wuß in ihrem Roman stellt, genauso wie danach, wofür es sich eigent­lich zu leben lohnt.

„Nach Onkalo“ ist ein klei­ner Roman der gro­ßen Fra­gen, sprach­lich prä­zise und fein. Nicht umsonst steht Kers­tin Prei­wuß damit auf der Lon­g­list für den Deut­schen Buch­preis 2017.

Nach Onkalo. Kers­tin Prei­wuß. Ber­lin Ver­lag. 2017.

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