Adventskalender 2016: Türchen 12

by Bücherstadt Kurier

Chatroom 01104.

Mo, Dec 23th 2013. 11.23 p.m.

[Night_Owl ist dem Chat beigetreten]
 [Iwy ist dem Chat beigetreten]

Wow, ist das verrückt im Forum seit Knight und Izza sich getroffen haben. Ich fühle mich wie auf einem Rummelplatz. Ich hoffe, die haben sich nicht wirklich so dermaßen gefetzt, wie sie es darstellen.
 Haha, soweit ich das von Knight gehört habe, haben sie sich vor dem Streit SEHR gut verstanden. Wenn du verstehst, was ich meine.
 Oh.. das würde einiges erklären. Hehe, da sieht man wieder einmal, dass man seine Cybersex-Affären nicht unbedingt ins reale Leben umsetzen sollte.
 Nun ja, sie waren wenigstens beide das, was sie einander versprochen hatten, meinte Knight. Nur hat die guy-on-guy-Action wohl nicht so ganz geklappt wie online. Haha, ich sollte die Klappe halten, das ist eigentlich alles streng vertraulich und schlimmer mit schwarzen Balken zensiert als die Geheimakten der NSA.
 Meine Lippen werden mit Zensierbalken versiegelt sein, vertrau mir.
 Und dann läuft er zu Izza in 3... 2...
 Du kennst mich zu gut, Owl.
 Aber hey.. Hast du jemals darüber nachgedacht, was wäre, wenn wir uns zufällig mal über den Weg laufen würden?
 Ich glaube, wir würden aneinander vorbeilaufen. Vielleicht sind wir das sogar schon! Wie kommst du darauf?
 Wir kommen aus derselben Stadt, nicht? Wäre es denn so abwegig?
 Nein, wohl nicht. Aber wie gesagt, ich glaube weniger daran, dass wir uns überhaupt erkennen würden. Oder trägst du in deiner Freizeit deinen Nick mit Benutzerbild auf der Stirn spazieren?
 Haha, das nicht gerade – nur meinen Loki-Helm! (Zu besonderen Anlässen, versteht sich. Ich will ja keine Massenpanik auslösen) Was, wenn wir Macarena tanzend durch die Stadt laufen würden, bis wir uns treffen?
 Ernsthaft jetzt?
 Nein.
 …
 Das klingt jetzt wahnsinnig, aber ich würde dich trotzdem gern treffen.

[Night_Owl hat den Chat verlassen]

„Oh, shit!“, sein Ruf ver­hallte unge­hört in sei­nem klei­nen, abge­dun­kel­ten Zim­mer, worin ein­zig das fahle Licht des Com­pu­ter­mo­ni­tors die Kon­tu­ren deut­lich machte und zugleich wirre Schat­ten in die Ecken des Raums sowie die Dach­bal­ken über ihm zau­berte. Ema­nuel stöhnte und ließ den Kopf auf die Tas­ta­tur fal­len. „So ein ver­fluch­ter Mist aber auch“, murrte er. Owl hatte den Chat­room ver­las­sen, ohne Wort. Das machte sie sonst nie! Bestimmt hatte er sie mit sei­ner Auf­dring­lich­keit ver­trie­ben. Ver­dammt, warum hatte er das Tref­fen auch anspre­chen müssen?
Kein Tref­fen mit einer Online-Bekannt­schaft konnte gut aus­ge­hen, egal, wie gut man befreun­det war. Knight und Izza hat­ten dies vor zwei Wochen schon sehr anschau­lich bewie­sen. Die bei­den waren die bes­ten Freunde gewe­sen, hat­ten die Puber­tät und noch eini­ges ande­res mit­ein­an­der über­stan­den, ohne sich jemals von Ant­litz zu Ant­litz zu sehen. Sie waren sehr gut befreun­det gewe­sen, wenn nicht sogar mehr – traute man dem Klatsch im Forum, was Ema­nuel nicht unbe­dingt tat. Nun, nach dem Tref­fen, mie­den sie ein­an­der beharrlich.

Ema­nuel seufzte und ließ sei­nen Kopf schwer auf seine Hände sin­ken. Er linste nach oben. Nein, Owl war in den letz­ten fünf Sekun­den noch nicht zurück­ge­kehrt. Dafür hatte er mit sei­nem Ver­such, sei­nen Schä­del an der Tas­ta­tur zu spal­ten, einen Hau­fen unnüt­zer Buch­sta­ben ins Ein­ga­be­fens­ter des Chat­pro­gramms beför­dert, die er vor­sichts­hal­ber löschte. Nicht, dass er am Ende noch auf die Ein­gabe-Taste geriet.
„Warum mache ich so was über­haupt?“, fragte er sein Foren-Alter-Ego, wel­ches ihm bloß stumm das Ant­litz des Pro­fil­bil­des mit der Weih­nachts­kappe prä­sen­tierte. „Ich schätze, Izza hatte Recht, als er mir den Ehren­ti­tel als Fett­napf-Sprung-Cham­pion ver­lie­hen hat“, brab­belte der Dun­kel­haa­rige wei­ter und fuhr sich durchs kurze Haar, „Was mache ich, wenn Owl nie mehr schreibt?“ Zuge­ge­ben, er neigte etwas zur über­mä­ßi­gen Thea­tra­lik – aller­dings han­delte es sich in Sachen Owl um eine ernste Angelegenheit.
Owl war der erste Chat­part­ner im Forum, mit dem er sich auf Anhieb wun­der­bar ver­stand. Sie mach­ten dumme Witze, schrie­ben Abende lang über alles und nichts im Beson­de­ren – es war Che­mie. Owl war auch die ein­zige weib­li­che Teil­neh­me­rin in ihrem Abschnitt des Forums, doch diese Ent­de­ckung hatte ihr Ver­hält­nis nicht ver­än­dert. Viel mehr hatte auch Ema­nuel nach und nach begon­nen, ihr Bli­cke durchs Chat-Schlüs­sel­loch auf sein Leben zu erlauben.
Owl kannte Ema­nuel so gut wie nie­mand sonst; was sollte er ohne sie machen?
„Ich bin wirk­lich blöd“, teilte Ema­nuel sei­nem Com­pu­ter­bild­schirm mit, der wie aufs Stich­wort und wie zur Bestä­ti­gung eine neue ein­ge­hende Nach­richt im Chat­room meldete.

[Night_Owl ist dem Chat beigetreten]

Entschuldige mein abruptes Verschwinden, das Balg von Nichte konnte natürlich nicht anders als mir den Modem-Stecker zu ziehen. Meine Schwester beweist mir aktuell, dass unsere Familie nicht zur Fortpflanzung bestimmt sein sollte.
 Uff. Ich hasse Weihnachten.
 Was bin ich froh, ein Einzelkind geschiedener Eltern zu sein: Ruhe, Frieden, und doppelt Geschenke. Naja, nicht mehr wirklich zweimal Geschenke seit ich studiere, aber du verstehst, was ich meine. ;) Aber mal ernsthaft: ist es so schlimm bei dir?
 Seit meine Nicht-Supermama-Supermama-Schwester aus Rostock mit ihrer Tochter zu Besuch gekommen ist, ja. Mein Bruder ist in seiner aktuellen Pubertät anscheinend wieder in ein präpubertäres Pöbelstadium zurückgefallen. Willst du tauschen? Ich geb' dir meinen Vater noch obendrauf. Obwohl, der ist harmlos, wenn man ihn mit genügend Feuerzangenbowle versorgt.
 Ich glaube fast, die Hölle ist zugefroren und alle Teufel und Plagegeister suchen in unserer Wohnung Zuflucht.
 Hey, du bist immer noch schön makaber – so schlecht kann's dir also noch nicht gehen.
 Übrigens: okay.
 ...? Gesundheit?
 Zum Treffen. Ich würd' dich gern mal in.. real sehen. (Mit dem Gedanken dahinter: Bitte sei kein komischer alter Sack, du weißt dafür eindeutig zu viel über mich.)
 JA!
 ..Moment, das klang zu enthusiastisch und verzweifelt, oder? Aber ja, ja ich will, jaaaa!
 Du Spinner. :)
 Sag, hast du morgen Zeit? Ich muss aus dem Haus, sonst passiert ein Massaker.
 Zum Macarena-Tanzen immer! :)

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Tue, Dec 24th, 2013. 2.25 p.m.

[Chat offline]

Iris lehnte den Kopf in den Nacken, mus­terte die Decke des klei­nen Cafés in der ruhi­gen Sei­ten­gasse, wel­ches inner­halb der letz­ten Monate den Titel ihres Lieb­lings­plat­zes errun­gen hatte. Die warme, gol­dene Tapete, die viel­leicht schon bes­sere Tage gese­hen hatte, klei­dete den gesam­ten Innen­raum der Gast­stätte aus, in der gerade nur wenige der zier­li­chen Tisch­chen besetzt waren. Jedes Mal, wenn sie die schwar­zen Tische mit der stei­nern aus­se­hen­den Tisch­platte sah, fühlte sich Iris an Paris erin­nert, wo sie in ver­win­kel­ten Stra­ßen ein ähn­li­ches Café gefun­den hatte. Es war nicht viel los: Weih­nach­ten stand vor der Tür. Da kehrte urplötz­lich Ruhe ein nach den has­ti­gen, flie­gen­den, eilen­den ers­ten Dezem­ber­wo­chen, in denen der all­ge­meine Wahn­sinn sei­nen Aus­druck in der Jagd nach dem rich­ti­gen Geschenk fand. Einen Tag vor Weih­nach­ten war dies anders. Urplötz­lich kehrte Ruhe ein, und gemein­sam mit den weni­gen Schnee­flo­cken, die sogleich wie­der ver­schwan­den, kaum hat­ten sie den Boden berührt, senkte sich das weiße Rau­schen der Stille über die Stadt.

Die weni­gen Gäste ver­teil­ten sich über die kleine Flä­che des Cafés, besetz­ten alleine oder in Gesell­schaft die Tische. Sie beug­ten sich schwei­gend über Zei­tun­gen und Smart­pho­nes oder waren ins Gespräch ver­tieft, eine Tasse damp­fen­den Heiß­ge­tränks vor sich. Ein jun­ger Mann, etwa in Iris‘ Alter, hütete die Theke und lehnte sich gerade gelang­weilt über sein Smart­phone, ohne der Kund­schaft auch nur ein Zoll sei­ner Auf­merk­sam­keit zu schen­ken. Anschei­nend war das, was auch immer er gerade an sei­nem Touch­screen tippte, weit­aus inter­es­san­ter als die Arbeit; sein brei­tes Grin­sen zeugte davon. Iris lächelte leise in sich hin­ein und strich mit dem Fin­ger am Rand ihrer Tasse ent­lang. Sie war viel, viel zu früh dran für ihr Tref­fen. Ande­rer­seits hatte sie es nicht mehr län­ger in ihrem Eltern­haus aus­ge­hal­ten. Es war über­mä­ßig laut und voll­kom­men über­füllt, und es gab kei­nen Ort, an den sie sich zurück­zie­hen konnte. Als sie das Haus ver­las­sen hatte, war das Tohu­wa­bohu gerade zu sei­nem all­weih­nacht­li­chen Höhe­punkt gelangt.

Ihre große Schwes­ter Marie, die aus Ros­tock vor der Ver­wandt­schaft ihres „LAP“ – wie sie ihren „Lebens­ab­schnitts­part­ner“ bezeich­nete, obwohl sie mit ihrem Kind ein gemein­sa­mes Haus bewohn­ten und wohl an die zehn Jahre zusam­men waren – geflo­hen war. Natür­lich nicht ohne Toch­ter. Iris‘ Nichte Rosa­lie mochte viel­leicht aus­se­hen wie ein Engel, doch sie war ein teuf­lisch-noto­ri­scher Keks­dieb. Nach Rosa­lies sieb­tem gelun­ge­nen Keks­raub hatte Iris die letz­ten Back­ver­su­che auf­ge­ge­ben, resi­gnie­rend die Ofen­hand­schuhe auf die Theke gelegt und ihrem Vater die Schüs­sel mit der Feu­er­zan­gen­bowle ent­zo­gen. Er hatte ohne­hin bereits genug getrun­ken. Es dau­erte nicht lange, da klagte Rosa­lie mit lau­tem Heu­len über Bauch­schmer­zen, wäh­rend Marie wohl bereits auf­ge­ge­ben hatte und sie brül­lend zum Schwei­gen zu brin­gen ver­suchte. Das ver­an­lasste Rosa­lie natür­lich nur dazu, die Heul-Fre­quenz von ‚uner­träg­lich Rotz und Was­ser‘ auf ‚uner­träg­li­ches Sire­nen­ge­heul‘ zu stei­gern. Welch Erfolg. Iris‘ Flucht ins Wohn­zim­mer hatte lei­der auch wenig Glück: Ihr ange­hei­ter­ter Vater hatte seine Stimme gefun­den, nach­dem er sich den Mor­gen über Mut ange­trun­ken hatte, um den Abend zu über­ste­hen. Gerade als Iris‘ Bru­der Vik­tor und ihr Vater began­nen, sich anzu­brül­len, hatte sie sich ihren Man­tel geschnappt und das tur­bu­lente Haus mit einem lau­ten Türen­schla­gen hin­ter sich gelas­sen. Weih­nach­ten mochte ein Fest der Fami­lie sein, doch ange­sichts ihrer eige­nen Ver­wandt­schaft wünschte sich Iris bei­zei­ten, Weih­nach­ten möge abge­schafft werden.

Das war vor etwa zwei Stun­den gewe­sen. Iris seufzte, strich sich eine blonde Haar­strähne hin­ters Ohr und warf einen unauf­fäl­lig-auf­fäl­li­gen Blick auf ihre Arm­band­uhr. Noch zehn Minu­ten. Hof­fent­lich hatte er es sich auf dem Weg nicht noch schnell anders über­legt. Was, wenn er nicht auf­tauchte? Was, wenn sie bis zum Ende ihres Lebens in die­sem Café sit­zen und auf eine Online-Bekannt­schaft war­ten würde, die nie­mals kam? ‚Viel­leicht errich­tet man mir dann ja ein Denk­mal wie die­sem Hund‘, spöt­telte sie inner­lich über sich selbst, grinste in sich hin­ein und trank einen Schluck hei­ßen Tee.

„Du bist da!“, freute sich urplötz­lich eine Stimme, wel­che wohl zum jun­gen Mann gehörte, der sich ihr gegen­über an den Tisch gesetzt hatte.
Iris hatte sich zwar nicht davon abhal­ten kön­nen, immer wie­der zur Tür zu schie­len und inner­lich an all die Göt­ter zu appel­lie­ren, um die sie sich nor­ma­ler­weise nicht scherte, sie hier bloß nicht sit­zen­zu­las­sen – aber die Ankunft Iwys hatte sie wohl ver­passt. Wenn die­ser dun­kel­haa­rige junge Mann mit den ver­schmitzt leuch­ten­den grü­nen Augen über­haupt Iwy sein mochte. Iris brachte nach einer gefühl­ten Ewig­keit ein Nicken zustande, wäh­rend ein Gefühl von Benom­men­heit in ihr auf­stieg. Ihr Gegen­über dra­pierte sei­nen Man­tel mög­lichst knit­ter­frei über die Lehne des Stuh­les und setzte sich. „Also... wow“, gab er von sich, wäh­rend er Iris‘ Blick begeg­nete. Ein Lächeln floh über sein Gesicht. „Dein Gesicht ist ein offe­nes Buch.“
„Ach so?“, ent­geg­nete die Blon­dine und lehnte ihren Kopf nach rechts, wie um ihre Gedan­ken in einem Fluss zu hal­ten. Iwy nickte. „Wenn man genau genug hin­sieht, kann man neue Wel­ten ent­de­cken“, erklärte er ernst, und Iris fühlte sich an die vie­len phi­lo­so­phisch ange­hauch­ten Gesprä­che in ihrem Forum und dem dazu­ge­hö­ri­gen Chat­room erin­nert, die sie beide geführt hat­ten, „Wie hätte ich dich sonst erken­nen kön­nen?“ – „Was macht dich so sicher, dass ich die­je­nige bin, die du tref­fen willst?“, erwi­derte Iris spitz­bü­bisch, und ein Lächeln schlich sich auf das Gesicht ihres Gegen­übers. „Nur dir steht in die­sem Raum ‚Grinch‘ ins Gesicht geschrie­ben“, er lächelte besänf­ti­gend, „Und du sahst aus als wür­dest du jeman­den erwar­ten. Außer­dem wirkt in die­sem Café nie­mand sonst so, als würde er sich in ‚unse­ren Krei­sen‘ bewe­gen.“ Der junge Mann zwin­kerte ver­schmitzt, und Iris lachte amü­siert auf, wäh­rend sie etwas in sich schmel­zen fühlte.
„Habe ich denn rich­tig gera­ten?“, erkun­digte er sich nun, und eine Spur von Unsi­cher­heit schlich sich in seine Züge. Iris war kurz ver­sucht, das Spiel­chen wei­ter­zu­füh­ren. Sie gab das Vor­ha­ben jedoch sogleich auf und nickte. „Höchst­per­sön­lich. Meine Fami­lie, die mich zum Grinch gemacht hat, nennt mich Iris“, sie streckte ihre Hand aus und fing Iwys Blick ein, ein freund­li­ches Lächeln auf ihren Zügen. Ihr lang­jäh­ri­ger Freund ergriff die ihm ange­bo­tene Hand und lächelte fröh­lich. Iris fühlte, wie etwas in ihr erwärmt wurde. „Ema­nuel“, stellte nun auch er sich vor.

Tue, Dec 24th, 2013. 11.34 p.m.

[Iwy ist dem Chat beigetreten.]
 [Night_Owl ist dem Chat beigetreten.]

Es war mir eine Freude, heute laut mit dir zu denken.:)
 Du hast morgen nicht zufällig wieder nichts vor wie heute? Meine Familie treibt mich in den Wahnsinn.

Wort­klau­be­rin Erika

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