Adventskalender 2016: Türchen 20

by Bücherstadt Kurier

Ein Hund zu Weihnachten

Chico [1], ein Misch­ling mit kur­zen Schlapp­oh­ren und strup­pi­gem grauem Fell, schaute aus sei­nem Zwin­ger in der Hun­de­ab­tei­lung des Tier­heims. Der Ver­lauf des Tages war bis­lang ent­täu­schend gewe­sen. Nach und nach waren andere Hunde von Men­schen abge­holt wor­den, mehr als sonst, aber für ihn hatte sich wie­der ein­mal nie­mand inter­es­siert. Was Chico nicht wusste: Es war der Vor­mit­tag des 24.12. und zu Hei­lig­abend schenkte man gerne Haus­tiere oder „schaffte sich wel­che an“ (was für eine Wort­wahl, als ob es sich um eine Sache han­delte); meis­tens natür­lich nicht aus dem Tier­heim, hier­her kamen eher die Leute mit erns­tem Inter­esse. Lei­der wur­den dann aber jedes Jahr nach Weih­nach­ten von gar nicht weni­gen Leu­ten die tie­ri­schen Geschenke wie­der im Tier­heim abgeliefert...

Erneut öff­nete sich die Tür und wie­der betra­ten drei Men­schen den Gang. Chico erblickte die nette Tier­pfle­ge­rin sowie eine wei­tere Frau und einen bär­ti­gen Mann. Sie inspi­zier­ten die Boxen, in denen sich noch Hunde befan­den. Deren Reak­tion war unter­schied­lich. Einige waren ängst­lich, andere phleg­ma­tisch, einige bell­ten, andere win­sel­ten, um anzu­zei­gen, dass sie mit­ge­nom­men wer­den woll­ten. Chico hin­ge­gen guckte interessiert.
Die Men­schen began­nen zu reden, wäh­rend sich die Hunde all­mäh­lich wie­der beru­hig­ten. Wenn Chico ver­stan­den hätte, was sie sag­ten, hätte er gewusst, dass sie keine gewöhn­li­chen Besu­cher waren, son­dern von einer Schule für Blin­den­hunde kamen.

„Komi­sche Idee, ansons­ten wäh­len wir unsere künf­ti­gen Blin­den­hunde unter Wel­pen aus. Aber unsere Che­fin meint, wir soll­ten zu Weih­nach­ten hier nach­schauen. Viel­leicht schla­gen wir zwei Flie­gen mit einer Klappe, hat sie gesagt: ein gutes Werk und prak­ti­scher Nut­zen für uns.“ Das führte der Bär­tige an, und die Frau in sei­ner Beglei­tung ergänzte: „Die hier sind aber fast alle zu unru­hig oder zu ängst­lich oder zu alt, wir hin­ge­gen brau­chen ruhige, aus­ge­gli­chene Hunde, die noch form­bar sind.“ Die Tier­pfle­ge­rin wies auf Chico: „Der ist doch recht ruhig und noch jung. Ist noch nicht völ­lig aus­ge­wach­sen und jetzt schon groß genug.“ Der Bär­tige sagte: „Ach, die­ser Häss­li­che, ich weiß ja nicht ...“ Die Tier­pfle­ge­rin meinte: „Blin­den kann wohl das Aus­se­hen ihrer Hunde egal sein.“ Die bei­den ande­ren waren jedoch nach wie vor skeptisch.

Chico schaute nach­denk­lich und ein biss­chen trau­rig zu ihnen her­über, als fühlte er deren Ableh­nung, da kam ihm ein Geruch in die Nase. Er sprang auf, blickte die drei Men­schen an und bellte kurz, schaute dann auf­for­dernd zu der nahen Tür, durch die sie gekom­men waren. Dann bellte er noch ein­mal, als wollte er mit den dreien kom­mu­ni­zie­ren. Jetzt fin­gen auch die ande­ren Hunde an, durch Chico ani­miert, laut zu werden.
„Was hat er denn?“, wun­derte sich die Tier­pfle­ge­rin, „als wollte er uns was sagen!“ „Etwas hin­ter der Tür“, meinte die Frau von der Blin­den­schule. Sie zuckte mit den Ach­seln und wandte sich um. Die bei­den ande­ren folg­ten ihr unwill­kür­lich, Chico und die ande­ren Hunde zurück­las­send. Die Frau öff­nete die Tür. Hin­ter die­ser führte ein Gang zum Büro, hin­ter dem der Aus­gang lag. Nun fiel auch den Men­schen der Geruch auf. „Der Weih­nachts­schmuck!“, rief die Tier­pfle­ge­rin, als sie sich der geöff­ne­ten Büro­tür näherte. Geis­tes­ge­gen­wär­tig griff der Bär­tige zum Feu­er­lö­scher, der an der Wand hing.

Eine Vier­tel­stunde spä­ter konnte man durch­at­men und fest­stel­len, dass alles noch ein­mal glimpf­lich aus­ge­gan­gen war, wenn auch der Büro­tisch nicht mehr zu ret­ten war und das Büro selbst einen neuen Anstrich brauchte.
Nach­denk­lich sagte der Bär­tige: „Ohne die­sen häss­li­chen Hund hätte das übel aus­ge­hen kön­nen, die ande­ren haben nicht so schnell reagiert wie er.“ Die drei schau­ten sich an, und der Bär­tige meinte: „Nun gut, mit dem Aus­se­hen haben sie wohl recht, das ist uner­heb­lich. Wir ver­su­chen es.“ Und so kam es, dass Chico einige Zeit spä­ter glück­lich und zufrie­den in dem Auto saß, das ihn zur Blin­den­schule brin­gen sollte. „Fröh­li­che Weih­nach­ten“, rief die Tier­pfle­ge­rin noch, dann fuhr das Auto mit Chico los.

Jür­gen Rösch-Brassovan

Über den Autor:
geb. 1966, ver­hei­ra­tet, 1 Sohn, Stu­dium Geschichte/Politik (Magis­ter), Kurzgeschichten/Gedichte (letz­tere meist humo­ris­tisch); seit lan­gem schrei­bend, in jün­ge­rer Ver­gan­gen­heit inten­si­ver; Meri­ten (u.a.): 2014 Gewinn einer Text­ver­to­nung für den Lite­ra­ri­schen Advents­ka­len­der von 1001​buch​.net, 2015 „Beson­dere Wür­di­gung“ durch die Jury der „Aktion Deutsch­land Hilft“ für eine Kurzgeschichte.

[1] gespro­chen: Schiko

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Adventskalender 2017: Türchen 19 – Bücherstadt Kurier 19. Dezember 2017 - 8:01

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