Adventskalender 2016: Türchen 22

by Bücherstadt Kurier

Ein Traum

Joseph K. träumt. In sei­nem Traum hört er das Knis­tern von Streich­holz, wäh­rend er ver­sucht den Geruch von Tan­nen­na­deln zu fin­den. Sein Schnüf­feln erhascht nur den wei­chen Schwe­fel des Hol­zes und dann den kal­ten Rauch, wenn es erlischt. An sei­nem Fens­ter, bemerkt K., kon­den­siert Was­ser und kleine Figu­ren spie­geln sich darin und das Licht von Ker­zen. Aus den Fens­tern an der Straße schauen die grim­mi­gen Gesich­ter zu ihm her­über, die dis­zi­pli­niert drein­schau­en­den Nuss­kna­cker­sol­da­ten und die stren­gen Rauch­män­ner und ‑frauen. K. fühlt sich von ihnen beob­ach­tet, doch er spürt auch groß­vä­ter­li­ches Wohl­wol­len in ihren fes­ten Bli­cken. Erstaunt von ihrer beharr­li­chen Würde wen­det sich K. ab vom Fens­ter und betritt mit ehr­fürch­ti­gen Schrit­ten das Wohn­zim­mer, in wel­chem sich viele Lich­ter ver­sam­melt haben. Sie tan­zen über die Zim­mer­de­cke und wer­fen ein lich­ter­nes Krippenspiel.
Drei hei­lige Könige ste­hen auf dem Kamin und haben den Blick dar­auf gerich­tet, die bekrön­ten Köpfe in den Nacken und ganz leicht schief gelegt. Ihre from­men Hände haben sie mit den Hand­flä­chen anein­an­der vor der Brust und ihre bro­ka­te­nen Män­tel wer­fen lange Fal­ten. K. wun­dert sich über die zier­ra­te­nen Schwer­ter an ihren Gewän­dern. Gleich­sam könig­lich und wach­sam hüten sie von ihrem Sims aus die ruhe Hei­lig­keit des Rau­mes. K. schnüf­felt wie­der, dies­mal sanft und ohne Anstren­gung und es offen­bart sich ihm die ganze warme duf­tende Herr­lich­keit der Tanne, die bis unter die Decke ragt und an deren Spitze sich bedäch­tig ein höl­zer­ner Engel her­nie­der­ge­las­sen hat, die Hände aus­ge­brei­tet wie zu fei­er­li­cher Ver­kün­di­gung. In einen dicken Ohren­ses­sel lässt sich K. dann sin­ken und seine Fami­lie kommt zu ihm, freu­dige Gesich­ter und rote Wan­gen, die Müt­zen vol­ler Schnee, einen Win­ter­hauch mit in die Stube bringend.

Spä­ter dann schläft K. ein auf die­sem Platz, müde gewor­den von Freude und Lachen, zufrie­den und satt.

All das träumt K. drau­ßen und in der Kälte sei­ner Behau­sung aus Pappe und fus­seln­der Decke, in sei­nem Heim aus Kraft­lo­sig­keit und irrer Hoff­nung auf eine Hei­lig­keit, die seine Bli­cke durch hel­ler­leuch­tete Fens­ter in war­men Stu­ben ahnen. Die schwe­ren Augen fal­len ihm zu und durch die Lider erblickt K. den fer­nen und ver­ges­se­nen Stern der Weih­nacht hoch über den Dächern der Stadt und der gan­zen fer­nen Welt.

Wil­helm Sprawe

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