Adventskalender 2016: Türchen 7

by Bücherstadt Kurier

Die Winkekatze

Am Hei­lig­abend stand Anne­liese vor dem Schau­fens­ter eines Asia-Ladens und betrach­tete die Aus­la­gen: Fächer, Tee­ser­vice, Gin­seng-Liköre, bunte Plas­tik-Bud­dhas — und in deren Mitte, eine gol­dene, win­kende Katze. Anne­liese ver­zog die Mund­win­kel. Wie­der ein­mal hatte sie es nicht geschafft, für Timmy recht­zei­tig ein Geschenk zu besor­gen. Wie immer auf den letz­ten Drü­cker! Schon jetzt konnte sie die hin­ter halb vor­ge­hal­te­nen Hän­den gezi­schel­ten Kom­men­tare der Fami­lie ihres fei­nen Schwie­ger­sohns Peter, ins­be­son­dere von Oma Karla, hören: »Anne­liese, die Raben-Oma! Denkt ja doch nur an sich!« Dabei hatte sie sich dies­mal fest vor­ge­nom­men, es bes­ser zu machen, sich wirk­lich ein schö­nes Geschenk für ihren Enkel ein­fal­len zu las­sen. Doch wie­der kam es anders …

adventskalender_2016-5Noch ein­mal blickte sie auf die bun­ten Bud­dhas und die win­kende Katze, wollte eigent­lich gehen, doch der Zeit­druck ließ sie ihre Hand nach der Klinke aus­stre­cken. Rechts, an einer alten Kasse, saß der in mat­tes Neon­licht getauchte Ver­käu­fer und tippte geis­tes­ab­we­send auf sei­nem Handy herum. Leise drückte Anne­liese sich an ihm vor­bei. Vor­bei an den Rega­len mit den Por­zel­lan-Ele­fan­ten und Klang­ku­geln, vor­bei an den selt­sa­men Süßig­kei­ten, den Ess­stäb­chen und den Reis­ko­chern. Erst jetzt fiel ihr der bei­ßende Geruch auf: Sie musste an ihre dama­lige Arbeit den­ken, als sie sich um die Bahn­hofs­toi­let­ten zu küm­mern hatte. Mit ein­ge­zo­ge­nen Schul­tern lief sie wei­ter. Am Ende des Gangs stand ein Regal mit Spiel­zeug. Etwa ein Dut­zend Plas­tik­kat­zen wink­ten ihr vom obe­ren Reg­al­bo­den aus zu. Irgend­wie fühlte sie sich dadurch an ihre Schwie­ger-Fami­lie erin­nert. Timmy … Ob sie Timmy eine Win­ke­katze schen­ken sollte? Würde er sich dar­über freuen? Sie nahm einen der Kar­tons; ihre Augen irr­ten durch das Laby­rinth der chi­ne­si­schen Schrift­zei­chen. Dort! 4,95€ … Anne­liese strich lang­sam über das rote Preis­schild. Mit einem flauen Gefühl im Magen ging sie zur Kasse. Müde blickte der Ver­käu­fer auf und sprach mit asia­ti­schem Akzent: »Win­ke­katze, ja? 6,95€!«

Anne­liese über­legte, ihn auf den zu hohen Preis hin­zu­wei­sen. Sie spürte, wie ihr das Blut ins Gesicht stieg. Schnell legte sie 7€ auf die Theke und huschte, ohne das Wech­sel­geld abzu­war­ten, aus dem Laden. Sie schluckte schwer und machte sich auf den Weg zur Weihnachtsfeier.

Sie saßen im Wohn­zim­mer und blick­ten auf Timmy, der vor sei­nem Gaben­tisch stand und ganz auf­ge­regt mit den Armen fuch­telte. Von Anne­liese nahm, wie
immer, nie­mand Notiz — außer ihrer Toch­ter Sil­via, die ihr wenigs­tens einen Stuhl hin­ge­stellt hatte. Vol­ler Erwar­tung hielt Timmy einen in rotes Geschenk­pa­pier ver­pack­ten Kar­ton in den Hän­den und wandte sich sei­nen Eltern zu.

»Nein nein. Das ist von mir!«, mel­dete sich laut­hals Oma Karla und blickte in die Runde.

Timmy riss den Kar­ton auf, und zum Vor­schein kam …

… eine Winkekatze!

Anne­liese stockte der Atem.

»Na? Na?«, rief Oma Karla und presste selbst­ge­fäl­lig ihre Lip­pen zusam­men. »Gefällt sie dir?«

Timmy sah ent­täuscht auf das win­kende Stück Plas­tik, zuckte mit den Schul­tern und ließ es auf den Boden fal­len. Dann griff er nach dem nächs­ten Kar­ton. Oma Karla lachte hys­te­risch auf und stürmte aus dem Zim­mer. Timmy’s Vater lief hinterher.

»Ich ver­steh‘ das ein­fach nich‘!«, hallte es aus dem Flur. »Es war doch — per­fekt! Ver­steh‘ den Jun­gen nich‘! Undank­ba­rer … Ver­steh‘ ich ein­fach nich‘!«

»So beru­hig dich doch, Mut­ter! Er meint es ja nicht böse.« »Nein nein nein!«, keifte Oma Karla.

Die Woh­nungs­tür knallte. Schritte. Peter kam aus dem Flur zurück.
»Tja, …«, sagte er. »Oma Karla war­tet dann mal im Auto.«

Anne­liese dachte an die Win­ke­katze in ihrem Beu­tel, der immer noch unter ihrem Stuhl lag. Leise lächelte sie vor sich hin. Mit dem Fuß schob sie den Beu­tel wei­ter nach hin­ten. Timmy hatte mitt­ler­weile schon die meis­ten sei­ner Geschenke ausgepackt.
»Timmy?«, sagte Anne­liese; der Kopf des Jun­gen lugte aus dem Geschenk­pa­pier her­vor. »Möch­test du mit der Oma nächste Woche mal in den Zoo gehen? Da gibt es echte Kat­zen. Riesenkatzen …«

Timmy strahlte über das ganze Gesicht. »Ja, Oma! Ja!«

Irgend­je­mand musste Timmy‘s Win­ke­katze aufs Fens­ter­brett gestellt haben, von wo aus sie freund­lich auf die Straße hin­aus winkte. Anne­liese stellte sich vor, wie Oma Karla vom Auto aus das win­kende Teil ver­ächt­lich beobachtete.

F.A. Peters

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1 comment

Bianka-Maria Rehle 8. Dezember 2016 - 10:37

Eine sehr schö­ne Ge­schich­te. Zeit die man ge­mein­sam ver­brin­gen kann, ist das be­s­te Geschenk.
Dan­ke an den Autor

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