Adventskalender 2016: Türchen 8

by Bücherstadt Kurier

Mehrfamilienhaus

Meine Mut­ter, Frau Kuhn und Frau Specht haben gemeint, dass man dem Weih­nachts­mann doch ent­ge­gen gehen müsse, um ihm zu hel­fen; man hörte ihn unten im Trep­pen­haus ganz laut röcheln. Immer wie­der haben sich die Müt­ter übers Gelän­der gebeugt, besorgt nach unten gese­hen und gesagt, dass jemand hel­fen müsse, weil der Weih­nachts­mann mit zwei Säcken auf der Treppe fest­sitze und keu­che. Aber der Herr Nuss­bau­mer, Pauls Vater, meinte, dass er Rücken­schmer­zen habe, und mein Papa war gerade nicht da. Er ist noch ein­mal in unsere Woh­nung gegan­gen, auf die Toi­lette oder so.

Meine Mut­ter hat dann zu uns Kin­dern gesagt, dass wir hel­fen sol­len; aber da hat der Weih­nachts­mann von unten her­auf­ge­ru­fen, dass es schon gehe. Am Ende hör­ten wir einen Schrei, ein Kra­chen, lan­ges Rum­peln. Und dann nichts mehr, außer das Gekrei­sche von Mama, Frau Kuhn und Frau Specht.

adventskalender_2016-8Ein paar Tage spä­ter bekam ich von mei­nem Kin­der­zim­mer aus mit, wie meine Mut­ter den Papa anklagte, weil er zurück in die Woh­nung gelau­fen ist.
Sie sagte stän­dig zu ihm: „Und nur, weil du zu faul zum Tra­gen warst!“
Und mein Vater hat jedes Mal: „Aber ich habe doch nicht gewusst ...“ geant­wor­tet. Und dann hat er das Gespro­chene abbre­chen müs­sen, weil die Mut­ter „Nur, weil du zu faul warst!“ dazwi­schen­ge­re­det hat.

Ich habe mich immer wie­der gefragt, warum die Frau Mül­ler den Weih­nachts­mann gespielt hat. Stän­dig habe ich mich fra­gen müs­sen, warum der Weih­nachts­mann nicht selbst gekom­men ist, zu uns ins Haus, mit all den Geschen­ken, die am Schluss total kaputt waren.
Pauls Com­pu­ter war völ­lig im Eimer. Fritz’ elek­tri­scher Hub­schrau­ber auch. Die Pup­pen­stube von Ines Specht hatte kein Dach mehr und über­all lagen ihre Pup­pen und Pup­pen­mö­bel herum. Mein Lap­top hatte einen Sprung bekom­men und alle Scho­ko­la­den­ta­feln und Mar­zi­pan­kar­tof­feln sind zer­drückt gewesen.

Mei­nen Vater habe ich aus dem Bade­zim­mer her­aus sagen hören, dass das alles frü­her nicht pas­siert wäre.
„Frü­her hat jeder Junge ein Spiel­zeug­auto bekom­men“, hat er geplärrt, „und jedes Mäd­chen eine Puppe!“ Sein Uropa, sagte er, habe zu Weih­nach­ten bloß eine Apfel­sine bekom­men; und eine geknallt, weil er sie beim Schä­len zer­matscht hat.
„Aber heute wer­den die Weih­nachts­män­ner von Geschen­ken gera­dezu erschla­gen!“, hat mein Papa noch gesagt und die Bade­zim­mer­tür zugehauen.

Meine Mut­ter hat laut mit Tel­lern und Töp­fen geschla­gen und gefragt, warum über­haupt die arme Frau Mül­ler als Weih­nachts­mann her­hal­ten musste. Meine Mut­ter stürzt sich immer in die Küchen­ar­beit, wenn sie wütend ist.
Mein Vater hat die Bade­zim­mer­türe wie­der auf­ge­macht und geant­wor­tet, dass Frau Mül­ler das gerne getan hat, nach dem Tod ihres Man­nes, und dass es Tra­di­tion war in der Straße, dass Frau Mül­ler Hei­lig­abend die Säcke mit den Geschen­ken zu schlep­pen hatte. Da hörte man die Glä­ser und Pfan­nen noch lau­ter scheppern.

Ich habe bis zu jenem Weih­nach­ten fest an den Weih­nachts­mann geglaubt. Nur ein­mal wurde ich etwas stut­zig, näm­lich als Pauls Vater zu mei­nem Papa sagte, dass die Frau Mül­ler eigent­lich gar kei­nen fal­schen Weih­nachts­mann-Bart brau­chen würde. Das war im letz­ten Som­mer, beim Gril­len hin­term Haus.

Ich muss sagen, dass Frau Mül­ler ein guter Weih­nachts­mann war; sie hatte einen dicken Bauch und eine tiefe Stimme. Im Trep­pen­haus habe ich ein­mal Ines’ Mut­ter zu mei­ner sagen hören, dass die Frau Mül­ler den Bauch vom Sau­fen hätte. Und sie nannte Frau Mül­lers Bauch eigent­lich nicht Bauch, son­dern Wanst.
Frau Mül­lers tiefe Stimme jeden­falls kam von einer Hals­ope­ra­tion; das hat sie mir sel­ber erzählt, weil ich sie extra gefragt habe.

Der Fritz, die Ines, der Paul und ich wis­sen jetzt, dass es kei­nen Weih­nachts­mann gibt. Wenn es ihn gäbe, dann würde er nicht alte Frauen seine Säcke tra­gen las­sen. Außer­dem haben wir alle gese­hen, dass es Frau Mül­ler war, die die Geschenke brin­gen wollte. Nach­dem sie alle Stu­fen hin­un­ter­ge­fal­len ist, sind wir gleich los­ge­lau­fen, um nachzusehen.

Über­all, auf der gan­zen Treppe, sind Spiel­sa­chen gewe­sen; Spiel­sa­chen und Süßig­kei­ten, weil die Säcke auf­ge­gan­gen sind. Frau Mül­lers Bart war im ers­ten Stock; aber sie selbst lag im Erd­ge­schoss. Und obwohl sie auf dem Bauch lag, hat ihr Gesicht an die Decke geguckt.

Marko Stiebritz

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