Adventskalender 2016: Türchen 9

by Bücherstadt Kurier

Der Winterprinz

Es war ein­mal ein weit ent­fern­tes König­reich, in dem lebte eine Prin­zes­sin. Eines Win­ter­ta­ges traf sie auf ihrem Spa­zier­gang einen jun­gen Mann. Sein dicker Man­tel reichte bis zum Boden und war so schwarz wie sein Haar. Seine Augen aber waren von einem strah­len­den Blau und seine Haut weiß wie der Schnee, der um ihn herum dich­ter zu fal­len schien.
„Wer bist du und was machst du hier in mei­nem König­reich?“, ver­langte die Prin­zes­sin zu wissen.
Der junge Mann zuckte mit den Schul­tern. „Ich bin der, den ihr durch­wan­delt und mein trau­ri­ges König­reich ist, wo immer ich bin.“
„Wie kann ein König­reich trau­rig sein?“, fragte die Prin­zes­sin verwundert.
Er ant­wor­tete: „Mein König­reich ist trau­rig, weil nie­mand außer mir darin lebt.“
Die Worte des jun­gen Man­nes gin­gen der Prin­zes­sin nah und so wagte sie es, ihn anzu­lä­cheln. Als sich ihre Bli­cke tra­fen, ver­liebte sich der junge Mann unsterb­lich in die Prin­zes­sin, denn er hatte hin­ter ihrem hoch­mü­ti­gen Wesen ihr gutes Herz erkannt. Ebenso ver­liebte sich die Prin­zes­sin unsterb­lich in den jun­gen Mann, denn sie erahnte die Güte und Wärme hin­ter sei­nem abwei­sen­den Verhalten.

Der Vater der Prin­zes­sin jedoch wollte seine Toch­ter mit einem rei­chen Prinz aus dem Nach­bar­land ver­hei­ra­ten, so war es schon vor lan­ger Zeit zwi­schen den Köni­gen der bei­den Län­der ver­ein­bart wor­den. In ihrer Ver­zweif­lung flo­hen die Lie­ben­den. Der König befahl sofort sei­nen Sol­da­ten, seine Toch­ter wie­der nach Hause zu holen. Ihren Gelieb­ten aber ver­fluchte er, auf dass die­ser nie wie­der einen Fuß in sein König­reich set­zen könne.

Die Prin­zes­sin und der junge Mann flüch­te­ten viele Tage lang. Win­ter­stürme zwan­gen ihren Ver­fol­gern den Schnee und das Eis ins Gesicht, so dass diese schließ­lich umkeh­ren muss­ten. Doch auch nach­dem sich der letzte Sturm gelegt hatte, waren Schnee und Eis die stum­men Beglei­ter der Lie­ben­den, und die Prin­zes­sin wurde von Tag zu Tag blas­ser und zit­terte oft vor Kälte.
End­lich fan­den sie in einem weit ent­fern­ten Land Zuflucht in einem Gast­haus. Längst hatte der junge Mann die Prin­zes­sin zur Frau genom­men und als die Stunde ihrer Nie­der­kunft nahte, führte er sie hin­auf in ihr Zimmer.
Dort ent­fachte der junge Mann ein Feuer und sagte: „Wenn ich es schon nicht ver­mag, dich zu wär­men, Liebste, so wird es die­ses Feuer tun.“
Da nahm die Prin­zes­sin seine Hand und sagte: „Liebs­ter, ich weiß, dass du der Win­ter bist!“
Der junge Mann erschrak sehr, hatte er doch gedacht, sein Geheim­nis wohl gehü­tet zu haben!
Doch die Prin­zes­sin sah ihn vol­ler Glück an. „Meine Liebe zu dir brennt so stark, dass mir deine Kälte nichts aus­macht. Aber dir wird ein Feuer nicht wohl tun, also lösche es.“
Doch der Win­ter sorgte sich zu sehr um sie und das unge­bo­rene Kind und ließ das Feuer brennen.

adventskalender_2016-9Als das Kind schließ­lich das Licht der Welt erblickte, hatte es die schnee­weiße Haut sei­nes Vaters und die grü­nen Augen sei­ner Mut­ter. Vol­ler Dank­bar­keit und Liebe küsste der Win­ter seine Frau und sei­nen Sohn und fühlte nichts als reine Freude und Glück. Dann hüllte er die Prin­zes­sin und das Neu­ge­bo­rene in sei­nen schwar­zen Man­tel, denn obschon im Kamin ein hohes Feuer knis­terte und knackte, blieb es im Raum eis­kalt. Wie könnte es auch anders sein mit dem Win­ter darin? Da erkannte er, dass er seine Frau und das Kind ver­las­sen musste, wollte er ihnen nicht den Käl­te­tod bringen.

Er wollte sei­ner jun­gen Frau gerade Lebe­wohl sagen, als er ihre blei­chen Wan­gen und ihre geschlos­se­nen Augen sah. Auch das Kind lag mucks­mäus­chen­still da und der Win­ter erkannte, dass er sei­nen Ent­schluss zu spät gefasst hatte und alles schon ver­lo­ren war.
Aus sei­nen Augen ran­nen gefro­rene Trä­nen und aus sei­nen Fin­ger­spit­zen quol­len Eis­zap­fen, die er wütend von sich schleu­derte. Dann ver­ließ er den Gast­hof und nahm Sturm, Schnee und Kälte mit sich fort.

Mit Men­schen uner­fah­ren hatte der Win­ter nicht bemerkt, dass die Prin­zes­sin nur ein­ge­schla­fen war, denn die Geburt hatte sie sehr geschwächt. Ebenso war auch das Kind tief ein­ge­schla­fen, woh­lig und sicher, das Bäuch­lein voll süßer, war­mer Milch. Als die Prin­zes­sin am nächs­ten Tag erwachte, lag ihr Kind rosig und mun­ter neben ihr. Nichts­ah­nend rief sie nach ihrem Mann, doch er kam nicht.
Sie weinte drei Wochen lang und hoffte, der Win­ter möge zu ihr zurück­keh­ren; doch als die Früh­lings­blu­men blüh­ten, wusste sie, es war ver­ge­bens. Die Prin­zes­sin nahm ihr Kind und zog mit ihm in ein klei­nes Dorf, wo sie sich fortan als Dienst­magd ver­dingte, denn sie hat­ten sonst kei­nen Platz auf der Welt.

Als das Kind her­an­wuchs und immer wie­der nach sei­ner Fami­lie fragte, wuchs auch die Sehn­sucht der Prin­zes­sin und sie nahm ihr Kind und machte sich auf den lan­gen Weg nach Hause.
Längst hatte der König sei­ner ältes­ten Toch­ter ver­zie­hen und längst hatte seine jün­gere Toch­ter den Prin­zen des Nach­bar­lan­des gehei­ra­tet und sie waren ein­an­der in Liebe und Freund­schaft zugetan.
Dem Land aber war es schlecht ergan­gen: Seit der König den Win­ter ver­flucht hatte, war die­ser nicht mehr gese­hen wor­den. Erst hat­ten die Leute gelacht und gesagt: „Wer braucht schon den Win­ter?“ und sich gefreut, kaum mehr Feu­er­holz schla­gen zu müs­sen, dass ihnen nicht mehr die Kälte in die Kno­chen fuhr und dass ihnen nicht mehr die Boote auf dem See ein­fro­ren. Die Kauf­leute hat­ten geju­belt, dass sie das ganze Jahr über Markt hal­ten konn­ten und die Sol­da­ten, dass sie nicht mehr bei Schnee und Sturm Wach­dienst tun mussten.

Dann hatte das erste Jahr ohne Win­ter begon­nen und die Leute hat­ten schnell gemerkt, dass die Bäume weni­ger Früchte tru­gen, das Getreide spär­li­cher wuchs und die Bee­ren an den Büschen aus­blie­ben. Auch gab es von Jahr zu Jahr weni­ger Läm­mer, Käl­ber und Zick­lein und vie­ler­orts ver­en­de­ten Tiere. Da hatte es den Men­schen lang­sam gedäm­mert, dass sie den Win­ter brauch­ten. Denn Neues kann nur ent­ste­hen, wenn Altes geht und Jun­ges Zeit hat, sich zu erho­len. Aber daran hatte der König natür­lich nicht gedacht, als er vol­ler Wut den Win­ter ver­bannt hatte.
Weil der König ein guter König war, über­wand er sei­nen Stolz und ging Jahr für Jahr hin­aus zum Fluss und flehte dort auf Knien den Win­ter an, er möge zurück­kom­men. Doch der Win­ter war vor Kum­mer taub für die Bit­ten ande­rer gewor­den und blieb stumm.

So lit­ten die Men­schen des König­reichs Hun­ger und Not, als die Prin­zes­sin mit ihrem Sohn nach Hause kam. Den­noch freu­ten sie sich und jubel­ten ihr zu.
Das Herz der Prin­zes­sin pochte wild, als sie vor ihren Vater trat, wusste sie doch nicht, ob er ihr je ver­zie­hen hatte! Doch kaum, dass er sie sah, rannte der König auf seine älteste Toch­ter zu und drückte sie an sein Herz. Aller Groll war ver­ges­sen und mit den letz­ten Lecker­bis­sen, die die könig­li­chen Spei­se­kam­mern noch her­ga­ben, fei­er­ten sie ein gro­ßes Fest, zu dem jeder ein­ge­la­den war. Der Sohn der Prin­zes­sin saß dabei die ganze Zeit auf dem Schoß sei­nes Groß­va­ters, umringt von sei­ner Groß­mutter, der Tante, dem Onkel und sage und schreibe acht Cou­sins und Cou­si­nen und strahlte voll seli­gen Glücks.

Am nächs­ten Tag bat der König seine Toch­ter, nach ihrem Gemahl, dem Win­ter, zu rufen. Doch auch die Bemü­hun­gen der Prin­zes­sin blie­ben ver­ge­bens. Denn der Win­ter war fest davon über­zeugt, dass ihm die Stimme sei­ner Liebs­ten nur im Traum erschie­nen war und blieb stumm.
Da füg­ten sich der König und mit ihm seine Unter­ta­nen in ihr Schick­sal: Die Vor­räte aus guten Zei­ten waren fast zur Gänze auf­ge­braucht und nun, da nicht ein­mal die Prin­zes­sin ihren Mann zu rufen ver­mochte, gab es keine Hoff­nung mehr. Viele Men­schen pack­ten ihre Sachen und mach­ten sich auf die Suche nach einem bes­se­ren Leben.
Der König ließ sie zie­hen, denn er war ein guter König und wünschte sei­nem Volk nur das Beste.

Dann geschah etwas Merk­wür­di­ges: Inmit­ten des Früh­lings, der nun auf den Herbst folgte, fand die Prin­zes­sin eine Eis­blume an der Fens­ter­scheibe ihres Gemachs.
„Wie kommt diese Eis­blume hier­her?“, fragte sie sich mit klop­fen­dem Her­zen. War ihr Mann etwa end­lich zu ihr zurückgekehrt?
„Das war ich, Mama“, erklang die Stimme ihres Soh­nes. „Ich habe die Eis­blume gemacht! Sag, Mama, ist sie nicht wunderschön?“
Die Prin­zes­sin nahm ihr Kind und drückte es an ihr Herz und weinte vor Sehn­sucht und Kum­mer, denn sie ver­misste ihren Mann noch immer.

Auch dem Win­ter war es schlecht ergan­gen. Fast wahn­sin­nig vor Trauer – er dachte ja, seine geliebte Frau und sei­nen Sohn getö­tet zu haben – war sein Herz immer mehr zu Eis gewor­den. Er wütete und tobte in den Lan­den, die er noch besuchte, und ließ dort die schlimms­ten Schnee­stürme und die käl­tes­ten Eis­re­gen toben. Schon lange hatte er sich keine neuen Schnee­flo­cken mehr aus­ge­dacht oder Eis­blu­men an die Fens­ter der Men­schen gemalt.
Umso erstaun­ter war er, als er eines Tage auf sei­nem Weg durch die Welt in der Ferne eine Eis­blume fun­keln sah. Ver­wun­dert ging er näher und näher, bis er an die Grenze zu dem König­reich kam. Durch die Reue des Königs war der Fluch schon längst gebro­chen und so konnte der Win­ter ohne wei­te­res die Grenze über­schrei­ten. Wie magisch wurde er von der Eis­blume ange­zo­gen, die so wun­der­schön war, so ein­zig­ar­tig, so kühn in ihrem Mus­ter und so anmu­tig zart, dass es ihm die Spra­che verschlug.
Als er schließ­lich vor dem Fens­ter ange­langt war, an dem die Eis­blume wuchs, und von außen ehr­fürch­tig seine Hand dar­auf legte, legte sich von innen her­aus eine klei­nere, aber ebenso schnee­weiße Hand gegen die Fens­ter­scheibe. Der Win­ter blickte auf und erkannte sei­nen Sohn und hin­ter ihm seine Frau.
Als die Prin­zes­sin ihren Mann sah, rannte sie her­aus und fiel ihm um den Hals und er drückte sie fest an sich und ließ sie nie wie­der los.

Fortan kam der Win­ter wie­der jedes Jahr in das König­reich und sicherte wie­der rei­che Som­mer­ern­ten, und so kehr­ten auch die Men­schen wie­der zurück. Der König erklärte den klei­nen Win­ter­prin­zen zu sei­nem Nach­fol­ger und die­ser lernte fortan unter Anlei­tung sei­nes Groß­va­ters das Regie­ren – wenn er nicht gerade unter­wegs war und mit sei­nem Vater Eis­blu­men an die Fens­ter­schei­ben malte.

Monika Loerch­ner

Monika Loerch­ner, stu­dierte Reli­gi­ons­wis­sen­schaft­le­rin, lebt mit ihrem Mann und den bei­den Söh­nen im schö­nen Sauer­land. Erste Schrei­ber­fah­run­gen sam­melte sie bereits zu Schul­zei­ten als freie Mit­ar­bei­te­rin einer Tages­zei­tung. Seit 2015 nimmt sie an Schreib­wett­be­wer­ben ver­schie­de­ner Genre teil. Am 1. März 2017 erscheint ihr Debüt­ro­man „Hexen­herz – Eisi­ger Zorn“ im Aca­bus Ver­lag (bereits vor­be­stell­bar). Autoren­blog: moni​k​alo​erch​ner​site​.wor​d​press​.com / Monika bei Acabus

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4 comments

Winterstimmung | Monika Loerchner 9. Dezember 2016 - 22:31

[…] sorgt der Lite­ra­ri­sche Advents­ka­len­der des Bücher­stadt­ku­riers; heute mit mei­nem Mär­chen „Der Win­ter­prinz„. Viel Spaß beim […]

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Monika 9. Dezember 2016 - 22:38

Liebe Bücher­städ­ter!
Ich freue mich sehr, dass meine Geschichte Ein­gang in euren wun­der­schö­nen Lite­ra­ri­schen Advents­ka­len­der gefun­den hat!
Liebe Grüße,
Monika

Reply
Bücherstadt Kurier 13. Dezember 2016 - 0:58

Liebe Monika,
und wir freuen uns, dass du mit­ge­macht hast! Viel­leicht nächs­tes Jahr wie­der? 😉 Liebe Grüße!
Alexa

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Spezial: Zitatinterview mit Monika Loerchner - Leveret Pale 16. September 2017 - 17:31

[…] „Der Win­ter­prinz“ , Win­ter­mär­chen im Lite­ra­ri­schen Advents­ka­len­der des Bücher­stadt­Ku­riers, dort kos­ten­los lesbar. […]

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