Adventskalender 2017: Türchen 13

by Bücherstädter Peter

Eine Hütte im Schnee

Als der Win­ter kam, wur­den sie in einer Hütte am Fuß einer aus­ge­dehn­ten, leicht bewal­de­ten Hügel­kette von einem nord­wind­ge­trie­be­nen Schnee­sturm über­rascht und bin­nen Stun­den ein­ge­schneit. Sie, die Wan­de­rer zwi­schen Wel­ten, waren ihrem Ziel so nahe gekom­men und konn­ten nun nicht wei­ter. Die Hügel, sanfte Wel­len, die sich erst viel wei­ter – bereits über der Grenze, die sie umga­ben – zu einem Glet­scher­mas­siv auf­türm­ten und dahin­ter steil in die grü­nen Täler abfie­len, waren in den Sturm­näch­ten so unüber­wind­lich wie das Mas­siv selbst.
Die Kran­ken, die Erschöpf­ten konn­ten nicht hof­fen, in der Eises­kälte auch nur die erste Erhe­bung zu bestei­gen und so schloss man die Fens­ter­lä­den, brach fürs erste eine Eck­bank und einen Tisch in Stü­cke, schlug sie ein ums andere Mal anein­an­der und gegen den nack­ten Boden, bis sie bars­ten, und ent­zün­dete in der Mitte des Rau­mes ein Feuer, des­sen Rauch durch das undichte Dach abzog. Sie schar­ten sich um die Flam­men und rück­ten zusam­men. Sie saßen auf schmut­zi­gen Decken und ihren Taschen, doch nichts schützte ihre Rücken vor dem Frost. Die Hände streck­ten sie gegen das Feuer.

Sie waren zu fünft, fünf Ver­irrte, die nicht wuss­ten, was hin­ter den Ber­gen lag, nur dass sie sie bestei­gen muss­ten. Vor­wärts: Es musste voran gehen, nie­mals zurück. Hin­ter ihnen lag ein Schnee­feld, jen­seits davon eine Stadt, ein ver­eis­ter Fluss, über des­sen schmale Brü­cke sie sich des Nachts, bei Nebel und Regen hat­ten steh­len müs­sen, und dahin­ter lagen Wel­ten, die sie bereits zu ver­ges­sen began­nen. Sie waren zu fünft. Der Sol­dat, der Win­zer, die Heb­amme, der Schrei­ber und der Maler. Sie kann­ten ein­an­der nicht. Wenn sie bei Tag, wo es ging, wan­der­ten, ihre Besitz­tü­mer in schwe­ren Ruck­sä­cken und einem maro­den Lei­ter­wa­gen mit sich tra­gend und zer­rend, schwie­gen sie; wenn es dun­kel wurde, schlie­fen sie, um noch ein wenig Kraft zu fin­den. Sie aßen nicht gemein­sam, sie tran­ken im Gehen, sie waren still, bis jetzt, da sie sich gegen­über saßen und nie­mand es wagen durfte ein­zu­schla­fen, wenn er wie­der erwa­chen wollte. Der Win­zer sah von sei­nen Hän­den auf und begann zu erzählen.
„Bevor ich gewan­dert bin, hatte ich einen Wein­berg. Rote Trau­ben wuch­sen an mei­nen Reben und ich habe sie am Sams­tag in der Stadt ver­kauft.“ Sie sahen ihn an. Ihre Pupil­len wei­te­ten sich, als sie sie vom Lodern lös­ten. „Du bist also Win­zer?“ – „Ich bin Wan­de­rer.“ Die Bli­cke ruh­ten eine Weile auf dem Win­zer. „Ich habe Men­schen getö­tet, bevor ich gewan­dert bin“, sagte der Sol­dat. „Du warst also Mör­der?“ In der Stimme des Malers lag keine Angst oder Abscheu. „Ja, ich war Mör­der“, sagte der Sol­dat. Die Heb­amme nickte und hus­tete. „Ich habe Kin­der zur Welt gebracht.“ Nie­mand sagte dar­auf etwas. „Ich habe Kin­der aus den Lei­bern ihrer Müt­ter gezo­gen, in die Welt, die erste Welt, gebracht.“ Der Schrei­ber unter­drückte ein Lachen, das doch einen Moment spä­ter aus ihm brach. „Du warst also Mör­de­rin?“ Die Heb­amme stimmte in das Geläch­ter ein. „Irgend­wie schon!“ – „Das Feuer beginnt aus­zu­ge­hen“, sagte jemand, sagte der Raum.

Die Wan­de­rer ver­brann­ten einen Stuhl. Das lackierte Holz qualmte dun­kel und stank. Sie hiel­ten sich Taschen­tü­cher vor die Mün­der und konn­ten die Augen nicht mehr offen hal­ten, also sahen sie ein­an­der nicht mehr. „Ich habe Geschich­ten geschrie­ben“, rief der Schrei­ber in sein Taschen­tuch. „Du warst also Lüg­ner“, rief der Sol­dat. Dar­auf ant­wor­tete nie­mand. Nur vom all­ge­gen­wär­ti­gen Hus­ten gestört, kehrte eine Weile wie­der Stille ein, doch diese Stille musste gehen, musste ver­schwin­den, musste in den Sturm hin­aus gere­det werden.
Die Fünf hat­ten Gefal­len an dem Lärm ihrer Stim­men gefun­den und als es end­lich nicht mehr qualmte, hob der Maler das Tuch von sei­nen Lip­pen und sagte: „Ich bin Maler.“ Wie zum Beweis zeich­nete er mit dem Fin­ger die Umrisse eines Por­träts vor sich in die Luft. Die Runde nickte aner­ken­nend, als habe er eben ein Meis­ter­werk geschaf­fen, doch eigent­lich fühl­ten sie, wie es in ihren Rücken wär­mer zu wer­den begann und hör­ten gar nicht so sehr auf die Worte des Malers. Erst spä­ter ver­stan­den sie, was er gesagt hatte. Er war Maler. Dann erzähl­ten sie sich, was sie noch wuss­ten, und sie sahen sich, wie sie damals aus­ge­se­hen hat­ten. Dar­über wurde es hell.

Am Mor­gen nahm das Schnee­trei­ben ein wenig ab und der Schrei­ber und der Sol­dat ver­lie­ßen die Hütte, in ihre Decken gehüllt, um nach Brenn­ba­rem zu suchen, wäh­rend der Win­zer über Res­ten der Glut eine Suppe zu kochen ver­suchte und die Heb­amme im Arm des Malers schlief, der mit den Fin­gern über die Kiste auf dem Lei­ter­wa­gen strich. Der Sol­dat umkreiste die Hütte, wo er einen Sta­pel gehack­tes Brenn­holz ent­deckte. Der Schrei­ber ver­suchte sei­nen Namen in den Schnee zu schrei­ben, doch er schaffte es nicht, so sehr zit­ter­ten seine Beine, also malte er Sterne.
Die Sonne sank schon früh wie­der hin­ter die Hügel, hin­ter die Berge und als es Nacht gewor­den war, ver­sam­mel­ten die Wan­de­rer sich erneut und began­nen zu erzäh­len. „Du warst Lüg­ner, also glaube ich dir nicht“, sagte der Sol­dat zu dem Schrei­ber und es wurde gelacht. „Was ich erzähle ist nicht wahr. So genau kann ich mich gar nicht erin­nern. Aber ich weiß, dass es nicht kalt war und dass ich nicht hier war, also ist es eine gute Geschichte.“ Der Maler stand auf, streifte den Arm der Heb­amme ab und holte tief Luft, bevor er sprach. „Stellt euch vor, wir wären auch jetzt nicht hier und es wäre nicht kalt.“ „Und wo soll­ten wir sonst sein?“ „Ich weiß es nicht.“ „Auf einem Raum­schiff“, warf der Sol­dat vol­ler Selbst­ver­trauen in den Raum, als habe er es sich bereits genau über­legt. „Auf einem Raum­schiff auf dem Weg zum Mars. Wir soll­ten eine Auf­klä­rungs­mis­sion sein.“ Die ande­ren nick­ten. Ja genau, das soll­ten sie sein. Sie soll­ten auf­hö­ren, zwi­schen Wel­ten zu wan­dern und statt­des­sen zwi­schen ihnen durch den Raum glei­ten, sanft und schwerelos.

Als auf der Erde der Win­ter kam und ging, tra­fen sich die fünf Besat­zungs­mit­glie­der der Olym­pus Ascen­ding in der Schiff­messe zum Abend­essen. Der Win­zer, der bei ihrem Abflug eine voll aus­ge­stat­tete Küche und einen Gar­ten für seine Hydro­kul­tu­ren vor­ge­fun­den hatte, trug die Spei­sen auf, deren Rezepte er aus der Hei­mat mit­ge­bracht hatte und ser­vierte dazu Wein, den er selbst gekel­tert hatte. In der Mitte des run­den Tisches loderte ein Flam­men­ho­lo­gramm und gab ihnen ein Gefühl von Wärme. Sie pros­te­ten ein­an­der zu und speis­ten. Dann ver­teil­ten sie sich auf ihre Zimmer.
Im Zim­mer des Malers befand sich eine Staf­fe­lei und ein Fens­ter, das ihm die Weite des Welt­alls zeigte. Jede Nacht ver­brachte er damit, die Erha­ben­heit auf Lein­wand zu ban­nen und sta­pelte die Bil­der auf jene, die er mit­ge­bracht hatte. Im Zim­mer der Heb­amme, die nun, weil sie es sich gewünscht hatte, Schiffs­ärz­tin war, wiegte eine leere Krippe, ange­trie­ben von Elek­tro­mo­to­ren, und ein Wie­gen­lied lag in der Luft, das sie selbst geschrie­ben hatte.
Der Sol­dat, der nun keine Waffe, son­dern einen Werk­zeug­gür­tel trug, schlief im Maschi­nen­raum an der Seite des geräusch­los lau­fen­den Fusi­ons­an­triebs, des­sen Instand­hal­tung er sich zur Auf­gabe erko­ren hatte. Unter sei­nem Bett befand sich eine Maschine, die des Nachts seine Erin­ne­run­gen raubte und die Morde durch Ret­tun­gen ersetzte. Das Zim­mer des Schrei­bers war leer bis auf einen Tisch und eine alte Schreib­ma­schine. Er schlief nicht, statt­des­sen brü­tete er über den Tas­ten und ver­suchte eine Geschichte zu ver­fas­sen, die als ers­tes Werk der neuen Welt gel­ten würde. Er war sich des Gewichts sei­ner Auf­gabe bewusst und beschloss keine Zeile zu Papier zu brin­gen, die es nicht wert war, gele­sen zu wer­den. Eine neue Lite­ra­tur, nicht weniger.

Zum Früh­stück gab es Brot und But­ter, zum Mit­tag­essen Pasta und zum Abend­essen Fleisch in ver­schie­dens­ten Vari­an­ten. Jeden Nach­mit­tag tra­fen sie ein­an­der auf der Brü­cke und besa­hen sich ihre Route, die gestri­chelte Linie, die er Bord­com­pu­ter auf den Bild­schirm zeich­nete, und die Zahl der zurück­ge­leg­ten Mei­len, Licht­se­kun­den. Sie spra­chen mit­ein­an­der dar­über, was sie tun woll­ten, erzähl­ten der Ärz­tin von ihren Gebre­chen, den Kopf­schmer­zen, den stei­fen Kno­chen und lie­ßen sich The­ra­pien verordnen.
Der Maler erzählte von sei­nem neuen Gemälde, er würde es ihnen bald zei­gen und dann auch all die alten Werke. Der Sol­dat berich­tete von den Repa­ra­tu­ren, die er noch zu machen gedachte und beschwerte sich über die Arbeit der Inge­nieure, deren Maschi­nen stän­di­ger War­tung bedurf­ten. Der Win­zer gab ihnen Vor­schau auf den Spei­se­plan der nächs­ten Woche und das Wachs­tum der Wein­re­ben in sei­nem hydro­po­ni­schen Gar­ten. Der Schrei­ber sagte, dass er noch nichts geschrie­ben hatte, doch dass es groß­ar­tig werde, wenn es ein­mal fer­tig sei.
Den Rest des Tages ver­brach­ten sie allein. Tief über seine Schreib­ma­schine gebeugt, gedachte der Schrei­ber den Wor­ten, die er ein­mal gehört hatte. Er sei ein Lüg­ner, und befand, dass es nun ein­mal so sei, und ver­suchte in sei­nem Kopf Lügen zu erfin­den, Lügen mit gro­ßen Bedeu­tun­gen, die es wert waren, auf­ge­schrie­ben zu wer­den. Er trank guten Kaf­fee, begann mit den Füßen zu wip­pen und konnte wie immer nicht schla­fen. Er hatte ja kein Bett.
Der Maler hatte seine Tür ver­sperrt und strich mit dem brei­tes­ten Pin­sel über seine Lein­wand. Die Ärz­tin schlief und träumte davon, die erste zu sein, die ein Kind auf dem Mars an die Welt holen würde und wusste, dass es ihr eige­nes sein musste, nur war sie sich nicht sicher, wen sie denn als Vater für so ein Kind wollte. Nie­man­den. Also beschloss sie eine der Pro­ben an Bord auf­zu­tauen und sich als ein­zi­ges Eltern­teil zur Mut­ter des Mars zu machen.
Die Maschi­nen muss­ten schnel­ler lau­fen, sie muss­ten effi­zi­en­ter sein. Der Sol­dat begann damit, einen Fusi­ons­re­ak­tor zu bauen, der so viel bes­ser sein würde als jener, der sie trieb. Sie tra­fen sich und erzähl­ten ein­an­der davon. Sie erho­ben die Glä­ser auf ihren Erfolg und der Schrei­ber sagte, er sei schon weit gekom­men. Die Olym­pus Ascen­ding glitt durch die Kälte des Alls, blieb nie­mals ste­hen. Vorwärts.

Als die Wan­de­rer nach Mona­ten des ste­ten Glei­tens die Umlauf­bahn des Mars‘ erreicht hat­ten und war­te­ten, dass der Com­pu­ter ihre Lan­de­ko­or­di­na­ten berech­nete, hat­ten sie schon seit einer Woche nicht mehr mit­ein­an­der gespro­chen. Sie hat­ten ein­fach damit auf­ge­hört, denn es gab nichts mehr zu erzäh­len. Die Pflan­zen wuch­sen und der Wein reifte. Bil­der wur­den gemalt und nie­mals gezeigt. Der Fusi­ons­re­ak­tor hatte einen Zwil­ling bekom­men, doch der funk­tio­nierte nicht. Die Ärz­tin war nicht schwan­ger und die Besat­zungs­mit­glie­der gesund. Das Blatt in der Schreib­ma­schine war leer.
In der letz­ten Nacht vor ihrer Lan­dung – sie wuss­ten, dass es Nacht war, weil die Uhr in der Messe über dem Flam­men­ho­lo­gramm das sagte – ver­ließ der Schrei­ber seine Kam­mer. Er schlich durch die dunk­len Kor­ri­dore, denn er konnte nicht mehr sit­zen. Schlich, um nie­man­den zu wecken. In der Nacht war er stets der ein­zige, der wachte. Er hatte seit drei Mona­ten nicht mehr geschla­fen. Seine Lügen lie­ßen ihm keine Ruhe. Keine davon war der Nie­der­schrift wert.
Zuerst erreichte er das Zim­mer des Win­zers, des­sen Tür offen stand. Er konnte ihn schnar­chen hören und trat ein, an sein Bett an, an des­sen Seite eine Wein­kiste geöff­net stand und eine wei­tere voll Fer­tig­nah­rung. Beide hatte der Win­zer mit einem Tuch abge­deckt, doch der Schrei­ber sah sie.
Dann kam er an die Tür des Maschi­nen­raums, wo er den Sol­da­ten schla­fend auf dem Fuß­bo­den fand, an der Seite des zwei­ten Reak­tors, der keine Ener­gie pro­du­zierte, trotz­dem lief und eine Digi­tal­an­zeige antrieb, eine Uhr, die ste­tig nach unten zu zäh­len schien. Es blie­ben ihnen noch wenige Tage.
Als nächs­tes erreichte er die Ärz­tin, deren Bauch gewach­sen war, doch darin lebte nichts. Sie hatte sich selbst einen Ultra­schall gemacht und das Herz des Kin­des hatte nicht geschla­gen. Die Wippe stand still. Die Mut­ter hielt die Arme um ihren Bauch und weinte, ohne aufzuwachen.
In der Gale­rie des Malers fand der Schrei­ber ein­hun­dert Lein­wände über die Sei­ten des Rau­mes ver­teilt, in Rei­hen bis zur Decke auf­ge­stellt und gehängt. Sie alle waren schwarz. Mit brei­ten Pin­sel­stri­chen über­malt, nur eines nicht. Das Bild auf der Staf­fe­lei in der Mitte war das einer Stadt, an die sich der Maler nicht erin­nern konnte. Die Häu­ser stan­den schief, ganz falsch, als hätte man sie aus Rui­nen, mit ver­bun­de­nen Augen, wie­der zusam­men­ge­setzt. Diese Stadt hatte es nicht gege­ben und am unte­ren Bild­rand streck­ten sich bereits drei schwarze Pin­sel­stri­che über die Breite, began­nen die Stadt zu ver­schlin­gen. Das Bild war noch nicht fer­tig. Da atmete der Schrei­ber auf und kehrte in seine Kam­mer zurück.
Er setzte sich an sei­nen Tisch, legte die Fin­ger auf die Tas­ten und begann zu schrei­ben, keine Lügen, nein, es waren nie­mals Lügen gewe­sen. Er hatte noch nie gelo­gen, und jede Wahr­heit war groß genug, am Anfang einer neuen Welt zu ste­hen. Der Schrei­ber begann eine Geschichte zu erzäh­len, an die er sich erin­nerte, von der er wusste, wie sie gesche­hen war, von fünf Wan­de­rern um ein Möbel­feuer, in einer Hütte im Schnee.

Code­jä­ger Peter
Illus­tra­tion: Sei­ten­künst­ler Aaron

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