Adventskalender 2017: Türchen 15

by Poesiearchitektin Lena

Weihnachtsmarkt

Ich erin­nere mich noch ganz genau an die­sen einen Tag, der mein Leben ver­än­dert hat.
Es ist ver­wun­der­lich, denn mit den Jah­ren habe ich sehr vie­les ver­ges­sen. Heute fällt es mir schwer, mir zu mer­ken, wel­che Tablet­ten ich zu wel­cher Tages­zeit neh­men muss und wo ich letz­ten Abend mein Gebiss hin­ge­legt habe. Aber Fred fin­det alles wie­der. Ein­mal ist er eine ganze Stunde mit sei­nem Geh­stock unsere kleine Woh­nung abge­lau­fen, bis er es gefun­den hat. Run­ze­lig und alt – aber immer noch mein per­sön­li­cher Held. Meine Stütze, die Liebe mei­nes Lebens. Oh. Da bin ich schon wie­der vom Thema abge­kom­men. Also, die­ser eine beson­dere Tag...

Es war Mitte Dezem­ber, geschneit hatte es zu mei­ner Ent­täu­schung bis­her noch nicht. Doch ich konnte ihn jede Nacht vor dem Schla­fen­ge­hen bereits rie­chen und meine Vor­freude stieg. Die Nächte waren schon eisig kalt und es war nur eine Frage der Zeit. Mein Mor­gen war mehr als anstren­gend. Ich hatte Früh­schicht auf einem Wochen­markt und die Kun­den hat­ten meine Müdig­keit so schnell wie die Luft mei­nen Kaf­fee hatte kalt wer­den las­sen in schlechte Laune ver­wan­delt. Noch dazu hat­ten meine klei­nen Tanz­ein­la­gen nicht dazu bei­getra­gen, dass die Kälte wie­der aus mei­nen Kno­chen her­aus­ge­schüt­telt wurde. Anschlie­ßend wollte ich mir die Ver­kaufs­stände mit Tan­nen­bäu­men anschauen, aber die Preise schreck­ten mich ab. Auf einer gefro­re­nen Pfütze rutschte ich aus, dabei habe ich mei­nen Kakao ver­schüt­tet – auf mei­nen neuen Kaschmir­pull­over, dank dem ich mir keine Pracht­tanne mehr leis­ten konnte.

Zu Hause erwar­tete mich eine kalte Woh­nung, die aber wun­der­bar weih­nacht­lich geschmückt war, was meine Laune wie­der etwas hob. Eben­falls „Won­der­ful Dream“ von Mela­nie Thorn­ton und das 17. Tür­chen mei­nes Advents­ka­len­ders. Zwei Stun­den soll­ten aus­rei­chen, um mich auf­zu­wär­men, bis ich wie­der in die Kälte musste. Aber dies­mal gewollt. Weih­nachts­märkte sind näm­lich bis heute eine mei­ner Leidenschaften.

Bereits auf dem Weg dort­hin stellte ich mir die vol­len, kleb­ri­gen Glüh­wein­stände vor, die bunt leuch­ten­den Stände mit Lam­pen und Later­nen und gut duf­ten­den Honig­ker­zen in allen Far­ben und For­men. Als ich ankam, blieb ich ste­hen, schloss die Augen und atmete tief ein. Die­ser Duft nach gebrann­ten Man­deln und weih­nacht­li­cher Vor­freude war wie mein per­sön­li­ches Lieb­lings­par­füm. Ich öff­nete die Augen wie­der und sah gestresste Gesich­ter, die schnell wie­der ver­schwan­den und glück­li­che Gesich­ter, die lang­sam an mir vor­bei­gin­gen. Ich machte mich auf den Weg, um meine Freunde zu fin­den. „Wir sind am Stand hin­ten neben dem Schmalz­ge­bäck.“ Guter Witz.

Ich schob mich an leicht ange­hei­ter­ten Jugend­li­chen vor­bei, an klei­nen Kin­dern, die mit gro­ßen Augen vor einem Süßig­kei­ten­stand mit Mar­zi­pan und Nou­gat stan­den, und an zwei älte­ren Damen, die ver­such­ten mit einem ver­klei­de­ten Weih­nachtsel­fen zu flir­ten. Nach gefühl­ten Stun­den fand ich meine Gruppe end­lich. Sie hat­ten einen Tisch ergat­tert, der nicht mit meh­re­ren Schich­ten von ver­schüt­te­tem Kakao, Glüh­wein und Feu­er­zan­gen­bowle ver­ziert war. Pas­cal hatte mir auf­merk­sa­mer­weise bereits Schmalz­ge­bäck gekauft, wofür ich ihm strah­lend dankte und umarmte, bis ich merkte, dass er sich ver­krampfte und ich sah, dass er rot gewor­den war.

Nach drei Bechern Blau­beer­punsch war mir warm und ich fing an, die umste­hen­den Men­schen zu betrach­ten. Das typi­sche Glüh­wein­volk war vor­han­den. Das Pär­chen, wel­ches sich ver­liebt anschaute und nicht bemerkte, dass der Glüh­wein aus ihren schräg gehal­ten­den Bechern schwappte; die lau­ten Fuß­ball­fans, die sich anbrüll­ten und die Grüpp­chen aus Frauen mitt­le­ren Alters, die gackernd über die Nach­ba­rin läs­ter­ten. Mein Blick blieb an einem Typen hän­gen, der mich förm­lich anstarrte. Als er bemerkte, dass ich zurück blickte, schaute er schnell in eine andere Rich­tung und nahm einen etwas zu gro­ßen Schluck. Er ver­brannte sich. Ich konnte es an sei­nem roten Kopf und den trä­nen­den Augen sehen, aber ansons­ten ließ er sich nichts anmer­ken. Ich musste grin­sen und wandte mich wie­der ab.

Als wir beschlos­sen, uns die Beine zu ver­tre­ten, war ich mehr als froh. Das Gedrän­gel und unter­schwel­lige Gebla­bber war wirk­lich anstren­gend und ich wollte unbe­dingt schauen, ob es die­ses Jahr neue Hüt­ten gab. Tat­säch­lich fand ich einen mit ver­schie­de­nen Gegen­stän­den aus Scho­ko­lade: Ein Ham­mer aus wei­ßer Scho­ko­lade, dazu ein­zelne Nägel und Schrau­ben­zie­her. An einem Stand konnte man Sou­ve­nirs kau­fen. Für die Tou­ris­ten musste natür­lich auch gesorgt wer­den. Mit lang­sa­men Schrit­ten gin­gen wir an sehr vie­len geschmück­ten Tan­nen­bäu­men vor­bei, an ordent­lich glän­zen­dem Lametta und an Boxen, aus denen Weih­nachts­mu­sik dröhnte. Plötz­lich sah ich den Glüh­wein­kerl an einer klei­nen Hütte ste­hen, wo es bel­gi­sche Pra­li­nen gab. Guten Geschmack hatte er anschei­nend. In die­sem Moment fiel mir auf, dass ich meine heiß gelieb­ten selbst­ge­strick­ten Hand­schuhe an irgend­ei­nem Stand ver­ges­sen hatte. Ich benach­rich­tige meine Freunde und machte mich auf den Rückweg.

Nach 10 Minu­ten erfolg­lo­sen Suchens stellte sich mir der Glüh­wein-Pra­li­nen-Mann in den Weg. Er hielt mir die Hand­schuhe ent­ge­gen und lächelte schüch­tern. Ich betrach­tete ihn jetzt ganz genau. Ich schätzte ihn auf 27 und er gefiel mir. Er war ziem­lich groß und braune Haar­sträh­nen schau­ten unter sei­ner Mütze her­vor. Seine Augen hat­ten die glei­che Farbe wie mein Kakao heute Mor­gen. Ich dankte ihm und fragte, ob ich ihn auf eine Kirsch­ta­sche ein­la­den könne. Er grinste jetzt breit und nickte. Wir gin­gen los, aber er redete kein Wort. Ich dafür umso mehr, bis es mir irgend­wann zu anstren­gend wurde. Abrupt blieb ich ste­hen, sodass er abbrem­sen musste, um nicht in hin­ein­zu­lau­fen und ich gab ihm zu ver­ste­hen, dass er seine Kirsch­ta­sche alleine essen könnte, wenn er nicht end­lich am Gespräch teil­nahm. Er wurde rot, guckte mich ver­zwei­felt an und sprach auf­grund der ver­brann­ten Zunge so lus­tig, dass ich mich nicht mehr ein­krie­gen konnte vor Lachen.
Wäh­rend­des­sen fing es an zu schneien…

Seit die­sem Tag an ver­ging nicht einer, an dem ich sei­net­we­gen nicht wenigs­tens ein­mal gelä­chelt habe. Es klingt höchst­wahr­schein­lich kit­schig, aber Fred war mein ver­früh­tes Weihnachtsgeschenk.
Jedes Jahr waren wir auf die­sem Weih­nachts­markt und wur­den zu einem der Pär­chen, denen hei­ßer Rot­wein über die Hand­schuhe läuft und es nicht auf­fällt, da sie viel zu fas­zi­niert von­ein­an­der sind. Heute ist das erste Jahr, in dem ich nicht auf den Markt gehe. Ohne Fred ist es nicht das glei­che. Ich werde ihm statt­des­sen einen Weih­nachts­stern ans Grab brin­gen. Wenn ich bloß wüsste, wo ich ihn hin­ge­legt habe...

Poe­sie­ar­chi­tek­tin Lena

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1 comment

Kitchie 15. Dezember 2017 - 21:41

Herz­er­wär­mend. Der Erzäh­le­rin könnte ich stun­den­lang zuhören!

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