Adventskalender 2018: Türchen 14 #litkalender

by Bücherstadt Kurier

Gospels in der Steppe

Mirko schaute sich um. Die Sonne war schon seit eini­ger Zeit unter­ge­gan­gen, aber die Lich­ter des Zuges sorg­ten noch für ein wenig Beleuch­tung auf dem Bahn­steig in Nami­bia, an dem nor­ma­ler­weise nur drei­mal in der Woche eine Eisen­bahn hielt; die Gegend war dünn besie­delt. Hier, an die­ser alten Platt­form im Süd­wes­ten Afri­kas, mit­ten im Nir­gendwo, hatte jetzt aber der Tra­di­ti­ons­zug „Star of Africa“ gehal­ten, mit dem eine grö­ßere Zahl von Rei­sen­den aus Europa Afrika erkun­dete. Man war von Steppe umge­ben, die ver­ein­zelt mit Büschen und Bäu­men durch­setzt war. Die ande­ren Zug­pas­sa­giere, die auf eben­die­sem Bahn­steig an einem Braai, also einem für Süd­afrika und Nami­bia typi­schen Grill­fest, teil­ge­nom­men hat­ten, waren in der Mehr­zahl ältere Semes­ter. Viele von ihnen hat­ten bereits ihre Abteile auf­ge­sucht. Dazu gehörte auch Jens, Mir­kos Rei­se­ge­fährte, der zu müde war, um ihm Gesell­schaft zu leis­ten. Nur ein paar andere Rei­sende saßen noch bei Ker­zen­schein an der Bar des Salon­wa­gens, bedient von dem Kell­ner Sbu­s­iso, ver­such­ten wohl so etwas wie fest­li­che Stim­mung zu erzeugen. 

Das ein­hei­mi­sche Cate­ring-Team, wel­ches für das Gril­len alles Not­wen­dige, also auch Klapp­ti­sche und –stühle mit Jeeps und Anhän­gern her­ge­schafft hatte, war bereits abge­fah­ren. Die befan­den sich auf dem Weg nach Hause, einem klei­nen Ort namens Small­font­ein, ein paar Mei­len ent­fernt, für sie konnte es heute noch fei­er­lich werden ... 

Es war der 24. Dezem­ber, in Deutsch­land war jetzt Hei­lig­abend, denn man befand sich in der­sel­ben Zeit­zone. Für die aus­schließ­lich süd­afri­ka­ni­schen Zugan­ge­stell­ten aber, die dem bri­ti­schen Brauch folg­ten, war der mor­gige Tag der eigent­li­che Weih­nachts­tag, an dem es die Geschenke gab, doch auch den würde das Team nicht zu Hause ver­brin­gen können.

Eigent­lich hätte die Reise am 23. in Windhoek enden sol­len, was den Mit­glie­dern des Zug­teams, die min­der­jäh­rige Kin­der hat­ten, die Mög­lich­keit gege­ben hätte, einen güns­ti­gen Flug nach Kap­stadt zu neh­men. Die nächste Zug­fahrt mit neuen Tou­ris­ten, die in umge­kehr­ter Rich­tung von Windhoek nach Kap­stadt statt­fin­den sollte, war näm­lich erst für den sieb­ten Januar geplant. Doch sie konn­ten vor­erst noch nicht nach Hause flie­gen. Sand­ver­we­hun­gen an der Zug­stre­cke hat­ten den Rei­se­plan über den Hau­fen gewor­fen. Erst mor­gen stand daher die nami­bi­sche Haupt­stadt und damit das Ende der Reise an, die Mirko und seine Mit­rei­sen­den von Kap­stadt aus hier­her nach Süd­west­afrika gebracht hatte. 

Die Tou­ris­ten ver­such­ten das Ganze locker zu neh­men, offen­bar zeigte sich hier der Ein­fluss Afri­kas am Ende eines schö­nen Urlaubs ... Die Rei­se­lei­te­rin hatte dank der moder­nen Kom­mu­ni­ka­ti­ons­mit­tel Groß­ar­ti­ges geleis­tet, Umbu­chun­gen waren erfolgt, Kos­ten­er­stat­tun­gen zuge­si­chert wor­den ... Die Zugan­ge­stell­ten zeich­nete ohne­hin eine große Gelas­sen­heit ange­sichts der Ver­spä­tung aus – nicht nur die Schwarz­afri­ka­ner mit ihrem fröh­li­chen Natu­rell, son­dern auch die wei­ßen Ange­hö­ri­gen der Regen­bo­gen­na­tion Süd­afrika, die­ser Mélange aus allen mög­li­chen Eth­nien. Weiße Buren (Nach­kom­men von refor­mier­ten Nie­der­län­dern und Fran­zo­sen) und Bri­ten, Kap­ma­laien, Busch­män­ner, Xhosa, Zulu, was für ein Mix, die­ses Südafrika! 

Nun war zwar selbst seit dem Ende der Apart­heid nicht alles frei von Span­nun­gen, aber die Zug­be­sat­zung hielt zusam­men, das hat­ten die Rei­sen­den in den ver­gan­ge­nen zwei Wochen mit­be­kom­men. Wie die Spring­boks, das berühmte Rug­byteam Süd­afri­kas, in dem ver­schie­de­nen Eth­nien auch an einem Strang zogen, so dass sie bereits zwei Welt­meis­ter­ti­tel errun­gen hat­ten. Sie waren benannt nach den Spring­bö­cken, die man in der süd­afri­ka­ni­schen Steppe sehen konnte, hell­braun und weiß mit schwar­zem Streifen.

Das Zug­team hatte sich mit Aus­nahme von Sbu­s­iso am Ende des Bahn­steigs ver­sam­melt. Ob es nun der Zug­ma­na­ger Arthur Nya­kane war, stäm­mig, glatz­köp­fig, mit sei­nem run­den dun­kel­brau­nen Gesicht oder die hoch­auf­ge­schos­sene Kell­ne­rin Grace Kolisi, mit hell­brau­nem Teint unter einer Rast­afri­sur. Auch der Koch Jac­ques Pienaar mit den ruhi­gen grauen Augen und das blonde Zim­mer­mäd­chen Dani­elle Cra­ven sowie all die ande­ren – sie befan­den sich als Gruppe ein Stück­chen ent­fernt von Mirko. Sie hat­ten ein Radio und lausch­ten der Über­tra­gung eines Got­tes­diens­tes in eng­li­scher Spra­che, wie Mirko fest­stellte. Ste­ven Nkosi, sonst als Kell­ner tätig, schlank, jung und mit einer Bibel in den fein­glied­ri­gen schwar­zen Hän­den, sprach für sich laut­los die Worte mit, die aus dem Äther kamen; Mirko sah die Lip­pen­be­we­gun­gen. Der ein­same Tou­rist schaute auf­merk­sam hin­über zu den Zugan­ge­stell­ten. Mirko war ein gebür­ti­ger Serbe, doch seit Kin­des­bei­nen in Deutsch­land ansäs­sig. Von ser­bi­schen Män­nern sagte man, dass sie drei­mal im Leben das Innere einer Kir­che erle­ben: Anläss­lich der eige­nen Taufe, Hoch­zeit und Beerdigung ... 

Nun hatte Mirko in jün­ge­ren Jah­ren an der Hand sei­ner Mut­ter schon des Öfte­ren eine ortho­doxe Kir­che auf­ge­sucht, aber er war nicht son­der­lich reli­giös. Trotz­dem hatte er sich ein gewis­ses Gefühl dafür bewahrt und gerade jetzt machte ihn die Fröm­mig­keit der Afri­ka­ner ziem­lich nach­denk­lich. Irgend­wie benei­dete er sie um ihren tie­fen Glauben. 

Mirko hatte Krebs. Ein Tumor in der Lunge. Er hatte zwar vor drei Jah­ren – mit 50 – das Rau­chen end­gül­tig erfolg­reich ein­ge­stellt. Vor drei Mona­ten war dann die Dia­gnose gekom­men, der Fluch des fal­schen Han­delns! Im Januar sollte die Che­mo­the­ra­pie begin­nen. So war das Ange­bot sei­nes alten Kum­pels Jens, für des­sen bes­sere Hälfte Yvonne ein­zu­sprin­gen und diese Zug­fahrt an ihrer Stelle mit­zu­ma­chen, äußerst güns­tig gewe­sen. Mirko hatte ein seit lan­ger Zeit bestehen­des Spar­konto auf­ge­löst – sollte er das Geld mit ins Grab neh­men? – und war mit nach Afrika gereist. Er hatte ein­fach alles andere bei­seite gestellt, wobei der Vor­teil darin bestand, dass er als Immo­bi­li­en­mak­ler selbst­stän­dig war. 

Das Pri­vat­le­ben stellte auch kein Hin­der­nis dar. Mirko war geschie­den, der Kon­takt zu sei­ner Toch­ter Branka spär­lich. Das war die Folge einer unschö­nen Tren­nung, aber auch des Lebens­stils Bran­kas. Zu sei­ner Mut­ter und sei­ner Schwes­ter hatte er häu­fi­ger Kon­takt. Dass seine Mama es mög­li­cher­weise erle­ben musste, wie ihr Sohn vor ihr abtrat, berei­tete ihm zusätz­li­chen Kummer. 

Und so saß er hier und blickte hin­über zu den Zugan­ge­stell­ten. Es ver­spürte eine weh­mü­tige Trauer. Die Reise hatte so viel zu bie­ten gehabt – end­lose Hori­zonte, gran­diose Schluch­ten, impo­sante Berge, die Tier­welt – doch mög­li­cher­weise musste er diese Welt bald ver­las­sen. Irgend­wie war es aber tröst­lich, dass diese Ange­hö­ri­gen der Regen­bo­gen­na­tion an die­sem Hei­lig­abend so fried­lich ver­eint ihren Glau­ben pflegten. 

Der Got­tes­dienst, dem die Zugan­ge­stell­ten lausch­ten, beinhal­tete andere musi­ka­li­sche For­men als Mirko sie vom euro­päi­schen Weih­nach­ten her kannte. Hatte was von Gos­pel. Das Zug­team begann in den Gesang ein­zu­stim­men und zu klat­schen. Schön, dass wenigs­tens diese Leute Har­mo­nie kann­ten! Mirko musste unwill­kür­lich an Jugo­sla­wien den­ken, an das Zer­bre­chen eines mul­ti­eth­ni­schen und mul­ti­re­li­giö­sen Gemein­we­sens, das er als seine Hei­mat betrach­tet hatte, obwohl er in Deutsch­land lebte. Hier schien die­ser Zusam­men­halt trotz Diver­si­tät zu funk­tio­nie­ren. Seine Stim­mung begann sich all­mäh­lich zu bessern.

Mir­kos Gedan­ken schweif­ten zu sei­ner Toch­ter. Was zählte es ange­sichts sei­ner Krank­heit jetzt noch, dass Branka mit einer Frau zusam­men­lebte? Na und?! Sie war sein Fleisch und Blut! Sollte sie doch machen was sie wollte! 

Da bemerkte er, dass die stäm­mige Alice, die in der Bord­kü­che arbei­tete, eine ein­la­dende Geste machte. Er sollte zu ihnen hin­über­kom­men. Mirko fühlte sich ange­sichts der sin­gen­den und tan­zen­den Alice an den Film „Sis­ter Act“ erin­nert und musste lächeln. Wieso eigent­lich nicht? Er mochte Blues- und Soul­mu­sik. Wieso nicht auch diese Art Gos­pel? Und so bewegte er sich auf diese bunte Gruppe zu und schloss sich ihr an. War doch eigent­lich ganz natür­lich, oder? Dann begann Mirko sogar in den eng­li­schen Gesang so gut wie mög­lich ein­zu­stim­men. Er fühlte sich bei­nahe glück­lich, irgend­wie gelöst und leicht. Mirko konnte sich nicht erin­nern, jemals so ein Weih­nach­ten erlebt zu haben, ohne Kitsch und Konsum ... 

Viel spä­ter, nach­dem er sich von dem Zug­team gera­dezu dank­bar ver­ab­schie­det hatte, griff er in sei­nem Abteil zum Lap­top. Und dann begann er eine Email zu schrei­ben, was auf­grund der WLan-Ver­bin­dung des Zuges via Satel­lit mög­lich war: „Liebe Branka ...“

Jür­gen Rösch-Brassovan

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