Adventskalender 2018: Türchen 18 #litkalender

by Bücherstädterin Kathrin
„Heute Würmer wird’s was geben“ – Neues aus Zamonien

Mit gro­ßer Vor­freude hat Bücher­städ­te­rin Kath­rin auf den Erschei­nungs­ter­min des neuen Buchs aus dem Zamo­nien-Zyklus hin gefie­bert – „Weih­nach­ten auf der Lind­wurm­feste“ von Wal­ter Moers. Sie ist jedoch schon vor­her auf deut­lich nega­tive Rezen­sio­nen gesto­ßen. Warum das Buch aller­dings defi­ni­tiv lesens- und lie­bens­wert ist und was Kri­ti­ker mit einer Bäcke­rei zu tun haben, erklärt sie hier.

Es ist ja immer wich­tig, sich eine eigene Mei­nung zu bil­den, doch zuge­ge­be­ner­ma­ßen haben mich die nega­ti­ven Rezen­sio­nen – die sich größ­ten­teils jedoch auf die Hör­buch­aus­gabe bezie­hen – etwas ver­un­si­chert. Nichts­des­to­trotz konnte ich es als Moer­sia­ne­rin der ers­ten Stunde kaum abwar­ten, die­ses Buch in den Hän­den zu hal­ten und mir selbst ein Urteil zu bil­den. Ich setzte mich also hin und las, ver­schwand für kurze Zeit auf dem Kon­ti­nent Zamo­nien und erfuhr mehr über das Hamouli­mepp­fest der Lind­wür­mer, das unse­rem Weih­nachts­fest nicht unähn­lich ist. Hil­de­gunst von Mythen­metz berich­tet in einem Brief an sei­nen Freund Hach­med Ben Kibit­zer von die­sen Gebräu­chen und klärt ihn über diese auf. So erfahre ich, wie die Lind­wür­mer ihre Geschenke ver­pa­cken, ihre Lind­wurm­feste schmü­cken, spei­sen, sin­gen und alles mit einem krö­nen­den feu­er­lo­sen Feu­er­werk aus­klin­gen lassen.

Mythen­metz nimmt zum Fest selbst eher eine kri­ti­sche Posi­tion ein und ist eini­gen Tra­di­tio­nen gegen­über nicht gerade posi­tiv gestimmt, was auf ein mit Hamouli­mepp ver­bun­de­nes Trauma aus sei­ner Kind­heit zurück­zu­füh­ren ist (wer Nähe­res dar­über erfah­ren möchte, sollte selbst nachlesen).

Wie immer ist das Buch lie­be­voll gestal­tet und auf­ge­macht. Mythen­metz‘ Brief wird von Illus­tra­tio­nen von Lydia Rode unter­malt, wel­che auch schon für den Vor­gän­ger „Prin­zes­sin Insom­nia und der alp­traum­far­bene Nacht­mahr“ den Pin­sel geschwun­gen hat. Dem Brief sind ein Vor­wort von Moers zu sei­nen Über­set­zungs­tä­tig­kei­ten und ergän­zende „Taxo­no­mi­sche Tafeln“ zu im Text beschrie­be­nen Gebräu­chen und Gegen­stän­den bei­gefügt. So fin­den sich zum Bei­spiel Illus­tra­tio­nen zu den Inkar­na­tio­nen von Hamouli­mepp, zu Schup­pen­pup­pen und den bereits erwähn­ten Feu­er­werks­ra­ke­ten – um nur einige zu nen­nen. Diese unter­stüt­zen Mythen­metz‘ Brief optisch wun­der­bar und ver­bes­sern das Ver­ständ­nis von in Zamo­nien ver­tre­te­nen Gege­ben­hei­ten für durch­rei­sende Leser. Denn wer weiß hier­zu­lande schon, wie eine Gäm­sen­pauke, eine dop­pelte Gra­nit­glo­cke oder ein Gonk (übri­gens alles tra­di­tio­nelle zamo­ni­sche Musik­in­stru­mente) aus­se­hen? Jede Seite ist farb­lich auf­wen­dig gestal­tet, was nicht nur der Optik wun­der­bar zuträg­lich ist, son­dern – für die Buch­schnüff­ler unter uns – das Buch auch ganz fabel­haft duf­ten lässt.

Nach­dem ich das Buch gele­sen hatte und aus Zamo­nien zurück in die Wirk­lich­keit geholt wurde, begann ich zu grü­beln. Mir hatte das Buch eine kurz­wei­lige Reise zu eben jenem Kon­ti­nent beschert. Außer­dem konnte mein Wis­sens­durst zu Zamo­nien durch viele neue Gebräu­che der Lind­wür­mer gestillt wer­den. Neben bei uns eben­falls bekann­ten Bräu­chen wie zum Bei­spiel dem Ster­nen­sin­gen, gibt es bei den Lind­wür­mern auch sol­che, die uns fremd sind, wie unter ande­rem das „Bücher-Räum­aus“, wel­ches für Mythen­metz zu den weni­gen posi­ti­ven Akti­vi­tä­ten an Hamouli­mepp gehört. Wäre es nicht für Buch­lieb­ha­ber ein Traum, an Weih­nach­ten die Stra­ßen ent­lang zu schlen­dern und in Bücher­kis­ten zu wüh­len, die die Nach­barn an ihr Gar­ten­tor gestellt haben? Schätze unter aus­sor­tier­ten Büchern zu fin­den, um dann darin zuhause gemüt­lich zu schmökern?

Neben die­sen neuen Infor­ma­tio­nen habe ich einige alte Bekannte wie den Eydee­ten Kibit­zer oder auch die Ros­ti­gen Gnome wie­der­ge­trof­fen. Ich habe mich ein­fach gefreut, Zamo­nien wie­der einen Besuch abstat­ten zu kön­nen. Einige Anek­do­ten Mythen­metz‘ und das Wie­der­erken­nen des eige­nen Weih­nachts­fes­tes in Hamouli­mepp lie­ßen mich durch­aus schmun­zeln. Für Moer­sia­ner ist sicher­lich auch von beson­de­rem Inter­esse, dass Moers sich in sei­nem Vor­wort kurz zu dem für 2016 ange­kün­dig­ten Brief-Roman „Die Insel der 1000 Leucht­türme“ äußert. Hierzu erfah­ren wir, dass Moers die Briefe immer noch „bear­bei­tet und zur Ver­öf­fent­li­chung aus­wer­tet“ – für Zamo­ni­en­fans gibt es also in die­ser Rich­tung Hoffnung.

Ich war und bin des­we­gen nach wie vor ver­wun­dert, warum das Buch doch ver­hält­nis­mä­ßig beschei­den bewer­tet wurde und die Kri­ti­ker nicht wenigs­tens ver­hal­ten mit den Zäh­nen knol­fen. Ver­wun­dert vor allem des­halb, da die Kri­tik­punkte für mich nicht wirk­lich als sol­che zu bezeich­nen sind. An die­ser Stelle sei natür­lich erwähnt, dass Geschmä­cker ver­schie­den sind und jeder seine eigene Mei­nung ver­tre­ten darf, jedoch möchte ich meine Posi­tion erklä­ren, und erläu­tern, was ich damit genau meine.

Haupt­kri­tik­punkt ist ande­ren Lesern nach, dass es sich nicht um einen Roman, eine Novelle oder gar eine Kurz­ge­schichte han­delt, son­dern um einen Brief, der unin­spi­riert ein­fach bekannte Weih­nachts­bräu­che auf Zamo­nien über­trägt. Schaut man sich jedoch den Klap­pen­text genauer an, wer­den hier keine Ver­spre­chun­gen gemacht, die diese Kri­tik recht­fer­ti­gen. Hat man die­sen näm­lich gele­sen, geht dar­aus her­vor, dass es sich um einen Brief von Mythen­metz an Kibit­zer han­delt. Außer­dem wird die ver­blüf­fende Ähn­lich­keit vom Hamouli­mepp­fest der Lind­wür­mer zu unse­rem Weih­nachts­fest ebenso her­vor­ge­ho­ben. In dem Sinne wer­den dem Leser keine fal­schen Ver­spre­chun­gen gemacht, denn Novelle oder Kurz­ge­schichte wer­den hier nicht ange­prie­sen, son­dern man bekommt genau das, was genannt wird: einen Brief.

Den Kri­tik­punkt der zamo­ni­sier­ten Weih­nachts­bräu­che und deren ver­meint­li­che Nicht-Inspi­ra­tion kann ich eben­falls nicht nach­voll­zie­hen, denn so funk­tio­nie­ren ver­ein­facht dar­ge­stellt die Zamo­nien-Romane nun ein­mal: Viele Lebe­we­sen und Gege­ben­hei­ten sind von unse­rer Wirk­lich­keit inspi­riert und wer­den auf den zamo­ni­schen Kon­ti­nent über­tra­gen. In vie­len Situa­tio­nen ent­steht gerade dadurch der Witz, eben weil eine sol­che Ähn­lich­keit besteht, die die Über­spit­zung betont, Par­odie und Satire her­vor­hebt und so gän­gige Nor­men auf­zeigt. Auch das Prin­zip der Fan­tasy funk­tio­niert ver­ein­facht genau so: Viele Wesen, Wel­ten oder auch Bräu­che sind dort von unse­rer Welt inspi­riert und wer­den dann in irgend­ei­ner Form abge­wan­delt, wodurch das Fan­tas­ti­sche als Ele­ment erst ent­steht. Eben das wird hier auf das Weih­nachts­fest ange­wandt, ist des­we­gen aber nicht als unin­spi­riert zu bezeich­nen, denn an vie­len Stel­len ist Moers‘ Liebe zum Detail erkenn­bar, wenn zum Bei­spiel krea­tive zamo­ni­sche Wort­neu­schöp­fun­gen kre­iert und sinn­voll in den Kon­text ein­ge­bun­den werden.

Die alte Leier, Moers solle doch bitte end­lich den lang­ersehn­ten drit­ten und abschlie­ßen­den Teil zum „Laby­rinth der Träu­men­den Bücher“, näm­lich „Das Schloss der Träu­men­den Bücher“ schrei­ben, kann ich eben­falls nicht mehr hören. Dazu sage ich nur: Gut Ding will Weile haben. Statt­des­sen könnte man sich ja ein­fach mal ganz unbän­dig und ver­rückt dar­über freuen, gene­rell etwas Neues aus Zamo­nien zu erfah­ren und die Ideen­viel­falt und die Detail­liebe die­ses Man­nes zu sei­nen ande­ren Zamo­nien-Pro­jek­ten würdigen.

Aber ich möchte hier eine Abschwei­fung a là Mythen­metz ver­mei­den, also zurück zur weih­nacht­li­chen Lek­türe: Wer bei einem klei­nen Büch­lein mit etwas über 100 Sei­ten eine „aus­ge­wach­sene“ Geschichte aus Zamo­nien im Stile von „Die Stadt der Träu­men­den Bücher“ oder „Die 13 ½ Leben des Käpt’n Blau­bär“ erwar­tet, braucht sich im Nach­hin­ein nicht zu wun­dern, wenn diese über­di­men­sio­na­len Ansprü­che nicht erfüllt wer­den. Noch dazu ist es ja ein Brief und keine Geschichte im eigent­li­chen Sinne, nicht mehr und nicht weni­ger. Den­noch ist die­ses Buch lesens­wert und wird bei einer ange­mes­se­nen Erwar­tungs­hal­tung auch nicht ent­täu­schend sein. Ich muss zuge­ben, dass ich als Moer­sia­ne­rin natür­lich nicht kom­plett objek­tiv an diese Rezen­sion her­an­ge­hen kann, denn aus mei­ner Per­spek­tive könnte Herr Moers wahr­schein­lich auch das Zamo­ni­sche Tele­fon­buch ver­öf­fent­li­chen und ich würde es ver­schlin­gen. Den­noch denke ich, dass ich zwi­schen einem „schwä­che­ren“ Moers und einem vom Orm geküss­ten und mit dem Alpha­bet der Sterne geschrie­be­nen Moers unter­schei­den kann – wobei hier ange­merkt sei, dass sich ein schwä­che­rer Moers im Ver­gleich zu vie­len ande­ren auf dem Markt kur­sie­ren­den Büchern immer noch abhebt, vor Ideen­reich­tum sprüht und von einem Autor zeugt, der sein Hand­werk versteht.

Die­ses kleine Büch­lein ist viel­leicht nicht direkt vom Orm durch­drun­gen, wurde aber immer­hin gestreift und ist so immer noch mit Wort­witz und Erfin­dungs­reich­tum gespickt, sodass es für echte Zamo­ni­en­fans zur Samm­lung dazu­ge­hört – ebenso für sol­che, die es noch wer­den wol­len. Außer­dem kann auch von einem Mythen­metz nicht erwar­tet wer­den, jede Zeile mit dem Alpha­bet der Sterne zu schrei­ben – zumal es sich hier – ich möchte es noch­mal beto­nen – um einen Brief handelt.

Die Stim­men, die Moers‘ Orm als erlo­schen bezeich­nen, weise ich aber bestimmt zurück (da ich mich beherr­schen kann, schreibe ich an die­ser Stelle nicht, dass sie mir alle­samt die Schere spü­len kön­nen!). Auch jene, denen das Buch nicht gefal­len hat und die sich dadurch ent­täuscht von Moers abwen­den wol­len, möchte ich an Mythen­metz‘ Ver­gleich zwi­schen Kri­ti­ker und Bäcker aus „Ensel und Krete“ erin­nern. Mythen­metz setzt sich hier mit dem unglei­chen Leis­tungs­ver­hält­nis von Schrift­stel­ler und Kri­ti­ker aus­ein­an­der. Wäh­rend ein Autor teil­weise Jahre an einem Buch arbei­tet, würde ein Kri­ti­ker das Buch dann in weni­gen Stun­den quer lesen „wobei er die bes­ten Stel­len über­springt, um sich die schlech­te­ren bes­ser mer­ken zu kön­nen.“ Mythen­metz zieht dar­auf­hin das Bei­spiel sei­nes Bäckers heran:

„Mein Bäcker backt leckere Hefe­teil­chen. Meis­tens sind sie köst­lich, aber manch­mal nimmt er zu viel Mehl oder zu wenig Zucker, und sie wer­den pap­pig oder unbe­kömm­lich. Gehe ich des­we­gen hin und ver­öf­fent­li­che im Gral­sun­der Kul­tur­ku­rier eine ver­nich­tende Hefe­teil­chen­kri­tik, um seine Bäcke­rei an den Rand des Ruins zu brin­gen? Nein, ich denke mir, dass er einen schlech­ten Tag hatte, viel­leicht sind seine Kin­der krank, oder er war über­mü­det vom vie­len Teil­chen­ba­cken. Ich erin­nere mich an all die lecke­ren Teil­chen, mit denen er mich schon erfreut hat, ich denke an seine harte und nächt­li­che Arbeit am Back­ofen und gehe am nächs­ten Tag wie­der zu sei­ner Bäcke­rei, um ihm eine neue Chance zu geben.“

Wem „Weih­nach­ten auf der Lind­wurm­feste“ also nicht gefal­len hat, sollte dem Meis­ter noch eine Chance geben, denn schon Ende Februar 2019 ist ein neuer Zamo­nien-Roman ange­kün­digt: „Der Bücher­dra­che“. Neben­bei bemerkt, lässt sich von eben die­sem schon eine Lese­probe in dem klei­nen Weih­nachts­büch­lein fin­den. Wem das nicht genug Anreiz ist, liest sich diese Rezen­sion ein­fach noch­mal von vorne durch ...

Weih­nach­ten auf der Lind­wurm­feste. Wal­ter Moers. Illus­triert von Lydia Rode. Pen­guin Ver­lag. 2018.

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