Adventskalender 2018: Türchen 3 #litkalender

by Bücherstadt Kurier

Operation „Joker“ (Teil 1)

Ein ver­häng­nis­vol­les Telefonat

Wenn Darius Kolb mor­gens eins nicht lei­den konnte, war es die­ser Klang von pseudo-gut­ge­laun­ten Men­schen, die in der Poli­zei­wa­che beflis­sen in ihren Kaf­fee­pöt­ten rühr­ten und dabei so taten, als wäre die Welt völ­lig in Ord­nung. Hinzu kam in der Vor­weih­nachts­zeit noch der Geruch von Spe­ku­la­tius und Leb­ku­chen, der sich hart­nä­ckig im Büro hielt.
Er atmete noch ein­mal tief durch, bevor er schwung­voll die Tür zum Büro auf­stieß, wo sein Chef, Dr. Brum­mer, nebst Kol­le­gen schon auf ihn zu war­ten schien. „Kol­lege Kolb, guten Mor­gen“, Brum­mer lächelte höchst unangenehm.
„Mor­gen zusam­men“, nuschelte Darius und ging direkt zu sei­nem Schreib­tisch. Er strich mit den Fin­ger­spit­zen über das Holz­imi­tat und blen­dete die ande­ren Anwe­sen­den ein­fach aus. Nach der ver­patz­ten Aktion ges­tern fragte er sich, ob er sich nicht gene­rell in den Innen­dienst ver­set­zen las­sen sollte. Die Büro­ein­rich­tung konnte ihm nicht weh tun und er hätte gewisse Aufstiegschancen.
Brum­mer riss ihn jäh aus sei­nen Gedan­ken: „Kolb, wir reden jetzt noch­mal über die miss­glückte Ope­ra­tion! Das nächste Mal möchte ich alle diese Spin­ner in einer Zelle sehen! Also, was genau war da drau­ßen los?“
Darius seufzte gegen das nerv­tö­tende Geklap­per der Kaf­fee­löf­fel an. „Ich sagte Ihnen doch ges­tern schon, dass ich zu spät mit den Jungs vor Ort war. Die Typen waren bereits über alle Berge.“ Er schloss die Hand, in der sich die am Tat­ort gefun­dene Ansteck­na­del befand.
„Das stimmt!“, warf ein jün­ge­rer Kol­lege ein, „Als wir kamen, haben wir in jeden Schrank geschaut, jede Matratze umge­dreht und sogar unter dem Tep­pich nach­ge­se­hen, da war nicht mal mehr eine Waffe! Nur eine komi­sche Nadel!“
„Etwa in einem Heu­hau­fen?“, Brum­mer wurde unan­ge­nehm. Und sar­kas­tisch; kein gutes Zeichen.
Irri­tiert schaute der Jung­spund weg.
„Wis­sen Sie“, ergriff Darius wie­der das Wort, „da war nie­mand mehr. Ich meine, weder Per­so­nen, noch Waf­fen, noch Pläne – ein­fach nichts.“
Brum­mer bewegte sich zwei Schritte auf Darius’ Schreib­tisch zu und blickte ihm direkt in die Augen. „Sie wis­sen aber schon, was diese Aktion gekos­tet hat? Da ist Nichts etwas zu wenig!“
Das wusste Darius, klar. Trotz­dem würde er nicht klein bei­geben. Heute nicht! „Ent­schul­di­gen Sie, das nächste Mal passe ich bes­ser auf, mit wel­chen Aktio­nen ich unsere Steu­er­gel­der verschleudere.“
Zwei Kol­le­gen kicherten.
Hoch­rot im Gesicht schrie Brum­mer: „Sie fah­ren da ein wei­te­res Mal vor­bei! Der Typ könnte jeder­zeit wie­der zuschlagen!“
„Was? Aber das ist doch …“
Brum­mers Faust don­nerte auf den Schreib­tisch. „Nichts aber, neh­men Sie sich ihren Nadel-im-Heu­hau­fen-Sucher mit“, er wies auf den Jung­spund, „und gehen Sie mir aus den Augen!“
In dem Moment klopfte es an der Büro­tür. Darius’ Neffe schaute irri­tiert in den Raum. „Passt es gerade nicht? Ich kann auch spä­ter noch mal wiederk…“
Darius setzte sich betont läs­sig auf sei­nen Büro­dreh­stuhl und warf die Ansteck­na­del auf den Tisch. Erleich­tert rief er: „Nein, alles gut. Komm rein, wir sind gerade fertig.“
An der Tür drehte sich Brum­mer noch ein­mal um. „Brin­gen Sie mir bald diese Typen, Kolb!“ Dann ver­schwan­den er und die ande­ren Kol­le­gen auf den Gang.
„Ich geh mir noch mal schnell ein beleg­tes Baguette holen“, mur­melte der Jung­spund und ver­ließ eben­falls das Büro.
„Ganz schön was los hier!“ Darius’ Neffe Moritz zog sich einen Stuhl heran.
Darius kochte inner­lich, meinte aber läs­sig: „Nur der übli­che Wahn­sinn. Was ver­schafft mir die Ehre dei­nes Besuchs? Ich habe lei­der nicht viel Zeit.“
Moritz beugte sei­nen Ober­kör­per etwas vor. „Es dau­ert nicht lange. Marian ist seit ges­tern Nach­mit­tag wie vom Erd­bo­den ver­schluckt. Er geht nicht ans Handy und hat keine Nach­richt hin­ter­las­sen, ich mache mir ernst­hafte Sorgen.“
„Ver­miss­ten­an­zeige gestellt?“ Darius fuhr sei­nen Dienst-PC hoch.
„Nein, es sind noch keine 24 Stun­den. Ich habe seine Eltern, Geschwis­ter, Freunde, von denen ich die Num­mer habe, ange­ru­fen … nichts.“ Ver­zwei­felt warf er die Arme in die Höhe. „Aller­dings ver­hielt sich einer von denen merkwürdig.“
„Inwie­fern denn merk­wür­dig?“ Darius klickte in sei­ner Ein­ga­be­maske herum.
Moritz holte tief Luft. „Er sagte, er wüsste nicht, wo der Joker sich rum­treibt und kicherte dabei irre. Dann rief er noch in den Hörer, dass ich mich nicht ein­mi­schen soll.“
Irgend­wie gefiel Darius das alles gar nicht. „Wieso nennt er ihn Joker?“
„Das ist sein Cos­play-Cha­rak­ter. Weißt schon, der Typ aus Batman.“
„Hm. Ist er mög­li­cher­weise auf einem Weih­nachts­markt versackt?“
„Die haben nor­mal nicht so lange auf und selbst betrun­ken hätte er sich gemeldet.“
„Viel­leicht hat er für euch eine Weih­nachts­über­ra­schung geplant.“
Moritz winkte ab. „Das ist nicht anzunehmen.“
„Hat es bei euch gekri­selt? Viel­leicht ist er ja durch­ge­brannt.“ Darius glaubte sel­ber nicht daran, aber mög­lich war alles. Das hatte er in sei­nem Job schnell ler­nen müs­sen. Meist war es die unwahr­schein­lichste Inter­pre­ta­tion eines Fal­les, die zutraf.
„Nein! Also … nicht, dass ich wüsste.“ Moritz nahm die Ansteck­na­del vom Schreib­tisch. „Ein Dolch? Warte mal …“ Sein Neffe zückte das Smart­phone und zeigte Darius kurz dar­auf ein Foto. „Marian und seine neuen Freunde“, erklärte er. Im Hin­ter­grund des Fotos prang­ten die Buch­sta­ben RAC, die auch auf den Anste­cker gra­viert waren, auf einem gro­ßen, mit Dol­chen deko­rier­ten Ban­ner. Einen davon kannte Darius. Mehr­fach vor­be­straft. „Der neben dei­nem Freund nennt sich Ridd­ler“, sagte er gedankenverloren.
„Ja, ist seine Rolle“, bestä­tigte Moritz und schaute ver­wirrt, dann schien ihm ein Gedanke zu kom­men. „Oh Mann, bin ich blöd! Heute ist die Comic­Con! Even­tu­ell ist Marian schon da, wir woll­ten zusam­men hin!“
Darius stampfte mit dem Fuß auf. „Scheiße, ver­fluchte! Das ist die Lösung! Da wer­den noch ein paar mehr rum­lau­fen.“ Er schnappte sich den Tele­fon­hö­rer. „Sofort ein paar Kol­le­gen zum Messe-Gelände am Kanal schi­cken und bei der kleins­ten Gefahr die Leute eva­ku­ie­ren – selbst, wenn ihr sie nur wit­tert! Ich bin unter­wegs!“ Er krachte den alt­mo­di­schen Hörer auf das Gerät.
Moritz zuckte zusam­men. „Was ist los?“
„Die neuen Freunde dei­nes Liebs­ten gehö­ren zu einer Unter­grund-Orga­ni­sa­tion. Sie stif­ten Unruhe und haben schon mehr­fach in der Stadt für Chaos gesorgt. Ich könnte wet­ten, die haben auf der Comic­Con etwas vor!“ Beide spran­gen gleich­zei­tig auf.
„Ich komme mit! Wenn Marian wirk­lich da ist, will ich dabei sein!“

„Boah, wieso konnte dein Kos­tüm nicht ohne Cape sein?“, fragte Mona genervt und ver­suchte, das wider­spens­tige Stück Stoff zurecht zu zupfen.
Nach­dem sie eine ganze Weile gebraucht hat­ten, um über­haupt eine Behin­der­ten­toi­lette zu fin­den, muss­ten sie das Kos­tüm von Lisa wie­der so her­rich­ten, dass es sich nicht in den Roll­stuhl­rä­dern ver­hed­derte. Das Cape erwies sich dabei als eine Her­aus­for­de­rung mit erhöh­ter Schwierigkeitsstufe.
„Es gehört nun mal zu Bat­girl!“ Die stör­ri­sche Ant­wort wurde galant von einem Schnau­ben begleitet.
„Ja, aber Edna wäre auch dage­gen gewe­sen!“, wider­sprach Mona vehement.
„Edna Mode hat das nicht desi­gned. Und Ver­bre­chen bekämp­fen will ich damit sowieso nicht.“
Noch immer grum­melte Mona, aber end­lich legte sich der Stoff so über die Lehne des Roll­stuhls, wie sie es wollte.
„Außer­dem war es ent­we­der Cape oder Gum­miglatze, die du mir alle paar Minu­ten wie­der zurecht­rü­cken müss­test“, erin­nerte Lisa sie mit einem Grin­sen im Gesicht.
Mona beugte sich zu ihrer Freun­din her­un­ter, um ihr direkt ins Ohr zu flüs­tern: „Ich hätte dir aber genauso gut die Haare abra­sie­ren können …“
„Als ob ich dich nur ansatz­weise in die Nähe mei­ner Haare las­sen würde …“, erwi­derte diese und schüt­telte den Kopf.
Gerade als Mona anset­zen wollte, etwas zu sagen, hob Lisa ihre Hand. Sie legte den Zei­ge­fin­ger an die Lip­pen und bedeu­tete ihrer Freun­din zu lau­schen. „Hörst du das auch?“
Vor der Toi­lette sprach eine laute Stimme. Sie klang wütend.
„Was heißt das? Der Typ ist abge­sprun­gen?! Es muss heute gesche­hen!“, drang es an ihre Ohren, wei­tere Worte wur­den von der Tür verschluckt.
„Dann muss ich es ihnen sel­ber zei­gen! Die wer­den sich hüten, mich zu unter­schät­zen! Ridd­ler … und Co wer­den sich umse­hen … pah!“
Der Ton wurde immer schär­fer, immer auf­ge­brach­ter und die Freun­din­nen sahen sich besorgt an. Wer war die­ser Mann, der vor der Tür hin und her schritt? Vor allem, was hatte er vor? Und mit wem?
„Sie wer­den sehen! Ich bin der RAC wür­dig!“, war das letzte, das sie hör­ten, bevor es still wurde.

„Ähm … wir …“, setzte Mona an, war sich jedoch unsi­cher, ob es schon sicher war, die Toi­lette zu verlassen.
Die bei­den nick­ten sich zu und Mona betä­tigte den Tür­öff­ner. Vor­sich­tig schob sie ihre Freun­din auf den lee­ren Flur hin­aus. Leer, bis auf einen Mann, der an einem der gro­ßen Fens­ter stand und auf sein Handy starrte. Er trug her­un­ter­ge­kom­mene Klei­dung und ver­lau­fene Schminke, die an einen Clown erin­nerte. Sein knal­li­ges Kos­tüm stand im Kon­trast zum Schnee­trei­ben hin­ter ihm.
Er öff­nete das Fens­ter und warf das Tele­fon hinaus.
Lisa rollte mit den Augen und winkte Mona zu sich her­un­ter: „Meinst du, der Pseudo-Joker-Spin­ner-Typ da drü­ben war das eben?“
„Ich hoffe nicht …“, flüs­terte Mona. Ihr Blick glitt erneut zu dem Cos­player, der sie ver­wun­dert anschaute. Sie ver­suchte ihre Unsi­cher­heit mit einem Lächeln zu über­spie­len. Der andere reagierte nicht darauf.
„Lass uns abhauen …“, schlug Lisa knapp vor und sogleich setz­ten sie sich in Bewegung.
Sie hat­ten den Haupt­saal noch nicht wie­der erreicht, als Mona sich unauf­fäl­lig umdrehte. Tat­sa­che, da war er, nur einige Meter hin­ter ihnen.
„Oh Gott, er ver­folgt uns …“, ver­kün­dete sie ihrer Freun­din verängstigt.
„Dann mach gefäl­ligst schnel­ler!“, befahl Lisa ungeduldig.
„Damit er denkt, wir lau­fen vor ihm weg? Sehr cle­ver …“, wider­sprach Mona, beschleu­nigte ihre Schritte dennoch.
Schließ­lich kamen sie an der Stufe an, die sie in den nächs­ten Messe-Bereich füh­ren würde. Mona stellte den Roll­stuhl gerade an die Kante und trat beherzt auf den Fuß­he­bel, um ihn anzu­he­ben. Sie schaffte es nicht hoch genug. Daher ver­suchte sie es erneut. Die Räder ver­hak­ten sich.
„Die­ses ver­kackte Drecks­mist-Ding!“, fluchte sie und setzte zu einem wei­te­ren Ver­such an, wobei sie den Hebel vor Auf­re­gung kom­plett verfehlte.
„Mach schon!“, drängte Lisa und ver­suchte an ihrer Freun­din vor­bei zu schielen.
„Sitz still, sonst wird das nie was!“, fuhr Mona sie an.
Der Roll­stuhl wurde immer stör­ri­scher und mit einem Wut­schrei ließ sie ihn los. Das durfte doch alles nicht wahr sein! Sie drehte sich um und erschrak. Der Joker stand direkt hin­ter ihr. Sie schrie auf und wich ein Stück zurück.
„Mona? Was ist los?“, fragte Lisa und ver­suchte erneut über ihre Schul­ter zu gucken.
„Na sieh mal einer an: Bat­girl und Robin in Schwie­rig­kei­ten – was sonst“, begrüßte der Joker-Typ sie mit einem süf­fi­san­ten Grin­sen auf den schief geschmink­ten Lippen.
Ein kal­ter Schauer lief den bei­den Frauen den Rücken hinab. Es war ein­deu­tig die Stimme, die sie durch die Tür gehört hat­ten. Und er wusste offen­sicht­lich Bescheid.

June Is (@ypical_writer) & Anne Zandt (ran​dom​poi​son​.com)

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3 comments

Fragefreitag: Was waren eure schriftstellerischen Highlights des Jahres 2018? – Nornennetz 4. Januar 2019 - 8:23

[…] defi­ni­tiv dazu. Und natür­lich die von mir und Mit-Norne June Is geschrie­bene Geschichte „Ope­ra­tion ‚Joker‘“ für den Bücher­stadt Kurier. So viele tolle Sachen pas­siert letz­tes Jahr […]

Reply
Unter dem Mistelzweig (Teil 1) – Bücherstadt Kurier 7. Dezember 2019 - 10:00

[…] einige Comic-Cha­rak­tere rea­lis­tisch in ihre Welt zu brin­gen. Letz­ten Monat musste Marian in einer Prü­fung unter Beweis stel­len, ob er dem Man­tel des „Jokers“ wür­dig war. Dies wurde ihm nicht nur […]

Reply
Unter dem Mistelzweig (Teil 2) – Bücherstadt Kurier 15. Dezember 2019 - 12:56

[…] einige Comic-Cha­rak­tere rea­lis­tisch in ihre Welt zu brin­gen. Letz­ten Monat musste Marian in einer Prü­fung unter Beweis stel­len, ob er dem Man­tel des „Jokers“ wür­dig war. Dies wurde ihm nicht nur […]

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