Ich denke, jeder Mensch ist allen­falls ver­gleich­bar mit einem Buch von 100.000 Sei­ten, vol­ler Wider­sprü­che und Wie­der­ho­lun­gen, prak­tisch unlesbar.

Nach­dem Vers­e­flüs­te­rin Sil­via von Arno Gei­gers Lesung zu „Selbst­por­trät mit Fluss­pferd“ so begeis­tert war, wollte sie unbe­dingt mehr wis­sen und unter­hielt sich mit ihm über sein jüngs­tes Buch und übers Schreiben.

BK: Das Zwerg­fluss­pferd wirkt wie die ein­zige Kon­stante in Juli­ans Leben, der ein­zige Ruhe­pol. Ist diese Suche nach dem eige­nen Platz in der Welt für Sie etwas Typi­sches des jun­gen Erwach­se­nen­al­ters? Bezie­hungs­weise haben Sie das Gefühl, Ihren Platz in der Welt gefun­den zu haben?

AG: Die aller­meis­ten jun­gen Men­schen ste­hen mehr oder weni­ger beun­ru­higt vor dem Pro­blem, dass sie ver­su­chen müs­sen, ihren Platz in einer Gesell­schaft zu fin­den, die die­sen Platz nicht zwin­gend ein­räu­men will. Das ist eine Kon­stante, die im Raum ste­hende Frage: Was erwar­tet die Gesell­schaft von mir? Was muss ich tun, um bes­ser anzu­kom­men? Ankom­men im dop­pel­deu­ti­gen Sinn, von wegen, wie kann ich ande­ren gefal­len, und im Sinne von, die Reise ist been­det, wenn ich mei­nen Platz gefun­den habe. – Ich sel­ber besitze im Moment etwas sehr Wert­vol­les, innere und äußere Sta­bi­li­tät. Aber ich weiß auch, dass wir immer ver­su­chen, unser Leben in eine bestimmte Form zu brin­gen – und das Leben zer­bricht diese Form, von heute auf morgen.

BK: Ein Autor ist einem Schau­spie­ler nicht so unähn­lich: Er muss sich ebenso in die ver­schie­dens­ten Per­so­nen hin­ein­ver­set­zen kön­nen, damit diese mög­lichst authen­tisch wir­ken. Neh­men Sie dazu eigene Erfah­run­gen, eigene Cha­rak­ter­ei­gen­schaf­ten, bezie­hungs­weise Men­schen aus ihrem Umfeld zur Hilfe?

AG: Was das All­ge­meine betrifft, das Jung­sein, wie man ins Leben hin­ein­ge­stellt ist, plötz­lich eigen­ver­ant­wort­lich, mit der lang ersehn­ten Frei­heit, aber doch auch über­for­dert von die­ser Frei­heit – das kenne ich von mir sel­ber, das hat All­ge­mein­gül­tig­keit. Und wenn man in eine bestimmte Rich­tung hin auf­merk­sam ist, dann arbei­tet der Zufall für einen. Wenn der Fokus ein­ge­stellt ist, dann fällt mir hier etwas auf und dort etwas. Dann suche ich die Gegen­wart von jun­gen Men­schen und bin viel sen­si­bler für Nuan­cen. Und ich ver­su­che dann, die Welt in die­ser Epo­che zu deu­ten, sie vom Stand­punkt des jun­gen Men­schen emo­tio­nal zu erfas­sen. Und in die­sem Pro­zess ent­fal­tet sich der Stoff. – Diese Erfah­rung habe ich immer wie­der gemacht: Je mehr ich mich mit etwas beschäf­tige, desto inter­es­san­ter wird es.

BK: Juli­ans Leben, seine Gedan­ken, sind gekenn­zeich­net durch Unbe­stimmt­heit, durch die „ernste“ Seite des Erwach­sen­wer­dens; sein Freund Tibor hin­ge­gen weist diese anzie­hende, teil­weise aber auch pro­ble­ma­ti­sche Leich­tig­keit auf. Mit wel­chem der bei­den konn­ten Sie sich beim Schrei­ben leich­ter identifizieren?

AG: Ich fühle mich Julian ver­wand­ter, emo­tio­nal, die­ser Per­son, ein wenig ver­lo­ren, ernst­haft, unsi­cher. Ver­lo­ren­heit ist für mich ein gro­ßes Thema, grad auch in die­sem Alter. In die­sem Alter ist man ungleich ver­lo­re­ner als Men­schen, die zehn Jahre älter sind. Und dann... das Gefühl, wie es war, auf eige­nen Bei­nen zu ste­hen... ahh, das fand ich toll! Dort­hin hatte ich mich gesehnt, schon sehr lange. Ich wollte mein eige­ner Herr sein, über mich selbst bestim­men dür­fen. Und gleich­zei­tig hatte ich wie Julian Angst, alles falsch zu machen. „Ich bekomm das nicht hin. Ich bekomme das über­haupt nicht so hin, wie ich mir das vor­ge­stellt habe!“
Tibor wie­derum... ich denke, jeder junge Mensch, auch jede junge Frau, hat einen sol­chen Freund oder eine sol­che Freun­din: einen Men­schen, der alles leich­ter nimmt, an dem die Schre­cken der Welt abpral­len. Davon geht eine große Anzie­hungs­kraft aus. Julian spürt, dass ihm Tibor in man­cher Hin­sicht etwas vor­aus hat. Und umge­kehrt. Aber zuneh­mend spürt Julian auch, dass seine eige­nen Talente, soziale Talente, ein viel­leicht noch grö­ße­res Geschenk sind als Tibors Leichtigkeit.

BK: Juli­ans Erwach­sen­wer­den wird erschwert durch Schre­ckens­nach­rich­ten aus aller Welt. So ent­steht das Bild einer „schlech­ten“ Welt, einer „sich selbst zugrunde rich­ten­den“. Haben Sie das in Ihrer Jugend­zeit auch so emp­fun­den bezie­hungs­weise wie sehen Sie das jetzt?

AG: Als ich zwei­und­zwan­zig war, 1990, unmit­tel­bar nach Ende des Kal­ten Krie­ges und nach dem Fall des Eiser­nen Vor­hangs, herrschte Auf­bruch­stim­mung, ein biss­chen hatte ich damals das Gefühl, aha, die Welt wird bes­ser. Inso­fern gehöre ich einer ande­ren Epo­che an. Zum jet­zi­gen Zeit­punkt, als Schrift­stel­ler, der im Heute lebt, hat mich das nicht inter­es­siert. Die Ver­un­si­che­rung, die heute in der Luft liegt, und dass sehr viele Men­schen das Gefühl haben, in einer schei­tern­den Welt zu leben – das betrifft mich ja auch sel­ber. Wenn jemand zudem noch jung ist, also in einem Lebens­al­ter der Ver­un­si­che­rung, hin­ein­ge­stellt in eine ver­un­si­cherte Welt – ich fand, dar­über will ich schreiben.
Die Genera­tion der soge­nann­ten 68er zum Bei­spiel war extrem zukunfts­gläu­big, ins­ge­samt zuver­sicht­lich, auf dem emo­tio­na­len Stand­punkt: Die Welt gehört uns! – Da kann ich rück­bli­ckend nur lachen. Wir wis­sen alle, die Welt wird uns nicht gehö­ren. Und so, wie sie ist, wol­len sie auch die wenigs­ten. – In mei­nen Augen sind das mehr als nur feine Unterschiede.

BK: Wie sind Sie zum Schrei­ben gekom­men? Wel­ches sind Ihre gro­ßen Vorbilder?

AG: Ich habe mein Talent nie „ent­deckt“. Es hat mich ganz bei­läu­fig zur Spra­che und zum Schrei­ben hin­ge­zo­gen, schon als Kind. Schrei­ben ist etwas, das mei­nem Natu­rell ent­spricht, also viel­mehr eine Lei­den­schaft als ein Talent.
Vor­bil­der habe ich keine. Es gibt viele Autorin­nen und Autoren, die ich bewun­dere, aber ich bin mir des­sen bewusst, dass ich sie auch des­halb bewun­dere, weil sie eigen­stän­dige Künst­ler sind. Also mache ich als Künst­ler meine Sache, halte mich von Vor­bil­dern fern, und das Urteil über meine Arbeit sol­len andere sprechen.

BK: Gibt es einen Ort, an dem Sie beson­ders gerne schreiben?

AG: In der Küche. Ich schreibe fast aus­schließ­lich in der Küche. Ob in mei­nem Eltern­haus in Vor­arl­berg oder in Wien, in der Küche fühle ich mich beim Arbei­ten am wohlsten.

BK: Und noch eine letzte Frage: Stel­len Sie sich vor, Sie wären ein Buch. Wel­ches wären Sie?

AG: Ich denke, jeder Mensch ist allen­falls ver­gleich­bar mit einem Buch von 100.000 Sei­ten, vol­ler Wider­sprü­che und Wie­der­ho­lun­gen, prak­tisch unles­bar. Sol­che Bücher gibt es nicht. Am nächs­ten kom­men dem viel­leicht Bücher wie „Ulys­ses“ von James Joyce. „Auf der Suche nach der ver­lo­re­nen Zeit“. Aber ich fände es auch schön, ein Buch zu sein, das nur von Weni­gen gele­sen wird.

Foto: Heri­bert Corn

Zum Bericht über die Lesung von Arno Gei­ger gelangt ihr hier.

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0 comment

Jule 4. Juni 2015 - 18:54

Hallo 🙂
Ich habe gerade „Selbst­por­trät mit Fluss­pferd“ been­det und befinde mich in die­ser Leere, die ich immer emp­finde, wenn ich ein wirk­lich gutes Buch been­det habe. Und dann bin ich hier gelan­det. Bei dei­nem wun­der­ba­ren Inter­view mit Arno Gei­ger. Ich höre noch immer seine Stimme, denn ich hatte eben­falls das Glück eine Lesung von ihm zu sehen. Sogar zwei. Ich bin im quasi auf der Leip­zi­ger Buch­messe hinterhergelaufen. 😀
Liebe Grüße
Jule

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Bücherstadt Kurier 4. Juni 2015 - 20:06

Liebe Jule,
vie­len Dank für dei­nen Kom­men­tar und das Kom­pli­ment! Wie man sicher bereits gemerkt hat, bin ich ein Rie­sen-Fan von Arno Gei­ger. Ich habe ihn auch auf der Buch­messe gehört, schon zum zwei­ten Mal die­ses Jahr. Hast du auch andere Bücher von ihm gelesen?
Liebe Grüße, Silvia

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Jule 5. Juni 2015 - 15:05

Liebe Sil­via,
lei­der nein. Ich hatte schon viel von ihm gehört und war dann froh ihn auf der Buch­messe mal sehen und hören zu kön­nen. Natür­lich habe ich mir dann gleich das Fluss­pferd gekauft und finde die­ses Buch wunderbar.
Liebe Grüße
Jule

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