Auf den Aal gekommen

by Worteweberin Annika

Seid ehr­lich, ihr habt sie euch doch auch schon immer gestellt: die Aal­frage. Oder etwa nicht? Spä­tes­tens, wenn ihr wie Worte­we­be­rin Annika „Das Evan­ge­lium der Aale“ von Patrik Svens­son gele­sen habt, wird sich das schlag­ar­tig ändern.

Aale, das sind diese läng­li­chen Fische, die ein biss­chen wie Schlan­gen aus­se­hen und die sich gerne im Schlamm ver­bud­deln. Viel mehr wusste ich nicht über diese fas­zi­nie­ren­den Tiere, als ich mit der Lek­türe von „Das Evan­ge­lium der Aale“ begann. Doch dann ging es schnell: Patrik Svens­son und der Aal hat­ten mich ab der ers­ten Seite fest im Griff. Bei jeder Gele­gen­heit erzählte ich den Men­schen in mei­nem Umfeld von den Aalen, ihren Beson­der­hei­ten und den Rät­seln, die sie auf­ge­ben. Ich bin auf den Aal gekom­men. Aber wie ist das pas­siert? Müsste ich euch eigent­lich vor die­sem Buch war­nen, weil es nicht nur „Evan­ge­lium“ heißt, son­dern auch ein mani­pu­la­ti­ves Mani­fest ist?

Der Rät­sel­fisch

In sei­nem erzäh­len­den Sach­buch ver­bin­det Patrik Svens­son zwei The­men mit­ein­an­der. Einer­seits beschreibt er aus­führ­lich die Geschichte der Erfor­schung der Aale, ihre Bio­lo­gie – und vor allem ihre gut gehü­te­ten Geheim­nisse. Denn lange wusste man so gut wie gar nichts über die Fort­pflan­zung der selt­sa­men Fische. Aris­to­te­les ver­mu­tete, der Aal werde aus dem Schlamm gebo­ren, spä­ter glaubte man an Urzeu­gung, denn immer­hin hatte man noch nie Aal­eier oder auch nur Fort­pflan­zungs­or­gane gese­hen. Erst viel spä­ter, im 20. Jahr­hun­dert, konnte man den Aal bes­ser ver­ste­hen. Doch die soge­nannte Aal­frage ist noch lange nicht gelöst.

„Ich glaube, dass der Aal auch des­we­gen nach wie vor so viele Men­schen fas­zi­niert. Es liegt etwas Ver­lo­cken­des in die­sem Grenz­land zwi­schen Glau­ben und Wis­sen, wo die Erkennt­nis nicht voll­kom­men ist und des­halb sowohl Fak­ten als auch Spu­ren von Mythos und Fan­ta­sie ent­hal­ten darf.“ (S. 33)

Heute weiß man: Die Euro­päi­schen Aale kom­men als junge Glas­aale aus dem Atlan­tik zu uns. Sie wan­dern Flüsse hin­auf, krie­chen sogar über das Land, um schließ­lich in Seen und Tüm­peln im Schlamm zu leben und sich in Gel­baale zu ver­wan­deln. Irgend­wann – und das kann wirk­lich lange dau­ern – beschlie­ßen sie, dass die Zeit reif ist: Sie ver­wan­deln sich wei­ter in geschlechts­reife Blan­kaale und zie­hen zurück in Rich­tung Ozean. Auch wenn man bis heute noch nie einen Blan­kaal dort gese­hen hat, ver­mu­tet man, dass die Aale sich in der Sargas­so­see vor Nord­ame­rika fort­pflan­zen und dort ster­ben. Wie genau ihr lan­ger Weg von Europa aus­sieht, dar­über gibt es aber noch kaum Informationen.

Aale in der Politik

Neben die­sen wis­sen­schaft­li­chen Fak­ten, bezie­hungs­weise Ver­mu­tun­gen, beschreibt Patrick Svens­son auch, wel­che Rolle die Aale in der euro­päi­schen Kul­tur gespielt haben und teils immer noch spie­len. Er erzählt von Glau­bens­kon­flik­ten in Irland, dem bas­ki­schen Stre­ben nach Unab­hän­gig­keit und schwe­di­schen Küs­ten­fi­schern. Fang­rechte für Aale waren mit Macht ver­bun­den und so frü­her immer ein Poli­ti­kum. Auch heute muss in der EU noch über den Aal dis­ku­tiert wer­den: Sollte man sei­nen Fang ver­bie­ten? Gibt es Tiere, die drin­gen­de­ren Schutz brauchen?

Ein gewis­ses Inter­esse an Natur­wis­sen­schaf­ten und unse­rer Umwelt sollte man mit­brin­gen, wenn man „Das Evan­ge­lium der Aale“ lesen möchte. Sonst kön­nen wahr­schein­lich selbst die ver­ständ­li­chen und mit­rei­ßen­den Aus­füh­run­gen Svens­sons einen nicht für den Aal begeis­tern. Begeis­te­rungs­fä­hige Lese­rin­nen und Leser bringt die­ses Buch aber spie­lend leicht dazu, in die Sargas­so­see abzu­tau­chen und die Aal­frage auch nach der Lek­türe wei­ter zu wäl­zen. Trotz­dem ist das Sach­buch mehr als eine bloße Abhand­lung über Aale. Die wis­sen­schaft­li­chen Kapi­tel wech­seln sich mit auto­bio­gra­fi­schen Pas­sa­gen aus dem Leben des Autors ab und sor­gen für Variation.

Vater und Sohn

In jedem zwei­ten Kapi­tel geht es darum, wie Patrik Svens­son mit sei­nem Vater zusam­men im schwe­di­schen Scho­nen Aale fischen ging. Svens­son erzählt, wie diese gemein­sa­men Aus­flüge die bei­den zusam­men­schweiß­ten – ohne dass der Junge eigent­lich gerne Aale geges­sen hätte. Er erzählt von (teil­weise grau­sa­men) Fang­me­tho­den, wie­der­auf­er­ste­hen­den Aalen im Gar­ten­schup­pen und dem Rät­sel­haf­ten am Aal, was Vater und Sohn begeisterte.

„Ich beschloss, dass man das, woran man glau­ben möchte, fin­det, wenn man es braucht. Wir brauch­ten den Aal. Ohne ihn wären wir zusam­men nicht die­sel­ben gewe­sen.“ (S. 203)

Letzt­end­lich wird „Das Evan­ge­lium der Aale“ auch zu einem Buch über den Tod und der Aal zu einem Gleich­nis dafür, dass die Ver­stor­be­nen für ihre Lie­ben erhal­ten blei­ben. Damit ver­bin­den sich die bei­den The­men­kom­plexe Wis­sen­schaft und Bio­gra­fie, die Liebe zum Aal und auch die zum Vater.

Das Aal-Para­do­xon

Doch lei­der kann das nicht schon alles gewe­sen sein, denn der Aal stirbt aus. Damit ist er natür­lich nicht allein. Patrick Svens­son beschreibt, dass immer mehr Tiere vom Aus­ster­ben bedroht sind und dass unser Pla­net auch schon frü­her Mas­sen­aus­ster­ben beob­ach­ten musste. Die­ses Mal jedoch gibt es einen kla­ren Schul­di­gen: den Menschen.

Kann man den Aal noch ret­ten? Das, so Svens­son, ist schwer zu sagen, denn ihm wird seine Rät­sel­haf­tig­keit zum Ver­häng­nis. Einer­seits lässt sich der tat­säch­li­che Aal­be­stand kaum bestim­men. Wahr­schein­lich ist die Zahl der Glas­aale inzwi­schen auf ein bis fünf Pro­zent der Zah­len aus den 1970er Jah­ren zurück­ge­gan­gen. Solange man aber kaum etwas über die Fort­pflan­zung der Aale und ihren Weg in die Sargas­so­see weiß, las­sen sie die Zah­len nicht bestä­ti­gen – und eine Lösung bleibt in wei­ter Ferne. Um den Aal zu ret­ten, muss die For­schung ihn also mög­lichst schnell voll­kom­men ent­rät­seln. Damit wird der Aal zum Paradoxon:

„Wenn wir den Aal schüt­zen wol­len, um uns in einer auf­ge­klär­ten Welt etwas bewah­ren zu kön­nen, das rät­sel­haft und undurch­dring­lich ist, kön­nen wir eigent­lich nur ver­lie­ren. Wer der Mei­nung ist, ein Aal solle ein­fach nur ein Aal blei­ben dür­fen, kann es sich nicht mehr leis­ten, ihn auch ein Rät­sel blei­ben zu las­sen.“ (S. 217)

Ein Sach­buch wie ein Aal

„Das Evan­ge­lium der Aale“ ist viel mehr als ein Mani­fest über den Aal. Es ist ein Buch über die Rät­sel in unse­rer heu­ti­gen Welt, über die Wun­der der Natur und die Zer­stö­rungs­kraft des Men­schen. Es erzählt von Hoff­nung, Ent­de­ckung und gesell­schaft­li­chen Zusam­men­hän­gen und ver­bin­det Per­sön­li­ches mit natur­wis­sen­schaft­li­cher For­schung. Damit ist das Sach­buch so wan­del­bar wie der Aal selbst. Und es ist ebenso fas­zi­nie­rend! Allen, die sich für Umwelt­the­men inter­es­sie­ren, kann ich es nur wärms­tens ans Herz legen!

Das Evan­ge­lium der Aale. Patrik Svens­son. Aus dem Schwe­di­schen von Hanna Granz. Carl Han­ser Ver­lag. 2020.

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