Bipolare Erzählung beim Deutschen Buchpreis Deutscher Buchpreis 2016

by Erzähldetektivin Annette

Im Grunde hat Tho­mas Mel­les „Die Welt im Rücken“ beim Deut­schen Buch­preis gar nichts ver­lo­ren. Als auto­bio­gra­phi­sches Werk erfüllt es nicht die Vor­aus­set­zung, ein Roman zu sein. Doch liest sich Mel­les Erzäh­lung der­art span­nend, tief­grün­dig und emo­tio­nal auf­wüh­lend, dass die Ent­schei­dung, „Die Welt im Rücken“ auf die kürz­lich ver­öf­fent­lichte Short­list zu set­zen, abso­lut nach­voll­zieh­bar ist. Erzähl­de­tek­ti­vin Annette durfte den manisch-depres­si­ven Autoren in eine Welt vol­ler Wider­sprü­che und Tra­gik beglei­ten und mit­er­le­ben, wie er sich vom eige­nen Schick­sal befreit.

„Ich muss mir meine Geschichte zurück­er­obern, muss die Ursa­chen, wenn sie schon nicht abbild­bar sind, wenn sie sich in den Kon­struk­ti­ons­zeich­nun­gen nicht fin­den, durch exakte Beschrei­bun­gen der Unfälle emer­gie­ren lassen.“

Herr der eige­nen Geschichte sein, Ein­fluss auf Schick­sal und das eigene Leben neh­men – wer von uns hegt keine der­ar­ti­gen Wün­sche? Bei deren Erfül­lung mögen sich dem einen oder ande­ren Steine in den Weg legen oder Schwie­rig­kei­ten stel­len. Doch alles in allem kön­nen wir ganz gut bestim­men, was wir aus unse­rem Leben machen wol­len. Bei Tho­mas Melle sieht dies anders aus. Als jun­ger Erwach­se­ner erkrankte er an der manisch-depres­si­ven Stö­rung, auch Bipo­la­ri­tät genannt, die sein Leben seit­her von innen nach außen gestülpt hat. Was er in den mani­schen Pha­sen tat, schrieb und sagte bestimmt noch heute sein Selbst- und Fremd­bild. In „Die Welt im Rücken“ möchte er nun seine Sicht der Dinge dar­stel­len. Der Ver­such eines Befrei­ungs­schla­ges – aus der Krank­heit und ihren Folgen.

Und diese Krank­heit hat es in sich. Melle beschreibt den Zustand eines der­art umfas­sen­den Selbst­ver­lus­tes, dass es schon wäh­rend des Lesens kaum aus­zu­hal­ten ist. Die erste mani­sche Phase ereilte ihn 1999 – 2006 und 2010 soll­ten wei­tere fol­gen. Wäh­rend die erste Psy­chose den Kran­ken auf einer Woge aus Ener­gie und Glück­se­lig­keit glei­ten lässt, erle­ben Freunde und Fami­lie den plötz­li­chen Sin­nes­wan­del als Tra­gö­die. Und auch für die erkrankte Per­son ver­dreht sich die eigene Wahr­neh­mung und wird sehr bald zu einem ang­st­ein­flö­ßen­den, unbe­greif­li­chen Wahn.

U1_978-3-87134-170-0.indd„Ein Fremd­kör­per im Fremd­kör­per der Welt“

Die Wahn­vor­stel­lun­gen äußern sich in irra­tio­na­lem, lau­tem, effekt­ha­sche­ri­schem, nar­ziss­ti­schem Ver­hal­ten. Und nicht nur der Kranke hat das Gefühl, von allem und jedem getrennt zu sein. Die Irri­ta­tio­nen bei sei­nen Mit­men­schen hal­len noch lange nach. Auch Jahre nach dem Abklin­gen der letz­ten mani­schen Phase begeg­net Melle kaum ein neuer Mensch unvor­ein­ge­nom­men. Zu sehr eilt ihm ein „Ruf“ vor­aus. Die Krank­heit ver­gif­tet Ver­gan­gen­heit und Zukunft, in der wahn­haf­ten Gegen­wart endet sie nicht sel­ten tödlich.

Die Beschrei­bung der mani­schen Pha­sen ist das Kern­stück des Buches. Melle spricht von einem „Gefühls­über­schuss“, mit dem alles anfange – und ver­deut­licht im wei­te­ren Ver­lauf mit sehr gelun­ge­ner Wort­wahl und Gram­ma­tik wie sich die­ser Über­schuss für den Betrof­fe­nen anfühlt. Wer nicht selbst eine mani­sche Phase am eige­nen Leib und Geist zu spü­ren bekom­men hat, der wird mit Mel­les Erzäh­lung so nah an die­ses Erleb­nis gelan­gen, wie mög­lich. Und das ist bereits fast zu nah. Denn die Wucht, mit der die Ener­gie, die Anspan­nung, der Wahn über den Betrof­fe­nen her­ein­bre­chen, fängt der Autor gran­dios ein: Die gleich­zei­tige Sinn­lo­sig­keit und die Erup­tion eines neuen Sinns, der völ­lig auf das wahn­hafte Indi­vi­duum gemünzt ist. Sätze sprin­gen unkon­trol­liert durch sei­nen Kopf, Wer­be­slo­gans, Song­text­zei­len, die sich zu einem wahn­haf­ten Gedan­ken­ge­bäude ver­bin­den. Er wird zum Mit­tel­punkt der Welt und ent­fernt sich gleich­zei­tig immer wei­ter von die­ser. Eine spä­tere Manie wird Melle mit den Wor­ten beschrei­ben: „Da war auch keine Sam­mel­stelle namens Ich mehr. Da waren nur noch Qua­lia, Sin­nes­ein­drü­cke, um einen tie­ri­schen Instinkt herum, und Gott.“

Die 1999 aus­ge­bro­chene Manie ist es, die Melle erst­mals in die Psych­ia­trie bringt. Die Länge einer der­ar­ti­gen Phase ist von Pati­ent zu Pati­ent unter­schied­lich, kann einige Stun­den, Tage, Wochen oder Monate dau­ern. In Mel­les Fall dau­ert sie über ein Jahr. Der Psych­ia­trie-Auf­ent­halt wird nicht sein letz­ter sein und doch scheint er eine beson­ders trau­ma­ti­sche Wir­kung gehabt zu haben. Und in der Tat stellt sich die Frage, wie ein Kran­ker in die­sem „Sam­mel­su­rium von Fehlex­em­pla­ren“, wie Melle seine Mit­pa­ti­en­ten nennt, gesun­den soll. Wie soll er zur Ruhe kom­men, wenn er stän­dig von Krank­heit, Gewalt, Wut, Angst, Hass und Wahn umge­ben ist? „Mit einem Schlag betritt man das Reich des Wahns, seine Gerü­che, Gesichte, Gesich­ter und Phänotypen.“

Auf den Höhen­flug folgt der Absturz

Wenn spä­ter auf die mani­sche die depres­sive Epi­sode folgt, wird Melle den Zustand der Psych­ia­trie als noch furcht­ba­rer emp­fin­den. Vor allem jedoch geht ihm nach der Über­an­stren­gung der Manie nun völ­lig die Luft aus. Die Depres­sion bringt die gesamte Gefühls- und Gedan­ken­welt des Erkrank­ten unter Kon­trolle und es brei­tet sich eine Leere aus, die kei­nen Raum für irgend­wie gear­tete Gefühle lässt. Ein­drück­lich und intim schil­dert Melle den unge­heu­ren Drang, das eigene Leben zu been­den, der stünd­lich schlim­mer wird und sich jedes Gedan­kens bemäch­tigt. Wie schwer es ihm gefal­len sein muss, ent­spre­chende Ver­su­che zu beschrei­ben, lässt sich kaum erahnen.

„Jeder Mensch birgt wohl einen Abgrund in sich, in wel­chen er bis­wei­len einen Blick gewährt; eine Manie aber ist eine ganze Tour durch die­sen Abgrund, und was Sie jah­re­lang von sich wuss­ten, wird inner­halb kür­zes­ter Zeit ungül­tig. Und danach fan­gen Sie nicht bei null an, nein, Sie rut­schen ins tiefste Minus, und nichts mehr ist mit Ihnen auf ver­läss­li­che Weise verbunden.“

Beson­ders ein­drück­lich ist dabei die Beschrei­bung der drei­ge­teil­ten Per­sön­lich­keit des Manisch-Depres­si­ven. Nach den Taten des Mani­kers gesellt sich zu der ohne­hin alles erfas­sen­den Trauer ein stünd­lich schlim­mer wer­den­des Gefühl von Scham; je mehr Erin­ne­run­gen hoch­kom­men, desto wei­ter zieht es einen hinab. Ein­sich­ten in die Gedan­ken­gänge des Mani­kers sind nicht mehr vor­han­den und der Depres­sive geht an dem hin­ter­las­se­nen Scher­ben­hau­fen zugrunde. Wer das Glück hat und auch diese dunkle Phase hin­ter sich las­sen kann, der wird auch die hier herr­schende Trauer und Leere nicht mehr ver­ste­hen können.

Was bleibt, ist eine Grundzerstörtheit

Auch nach der ver­meint­li­chen Gesun­dung wird Melle die Krank­heit nicht mehr los. Nicht nur ist das eigene Fun­da­ment ver­lo­ren, mög­li­cher­weise für immer. Dar­über hin­aus ist die Bipo­la­ri­tät eine rezi­di­vie­rende Krank­heit. Zwar tritt sie nur schub­weise auf, das heißt, dass es durch­aus beschwer­de­freie Pha­sen geben kann. Doch besteht die Gefahr, in eine depres­sive oder mani­sche Phase zurück­zu­fal­len, ein Leben lang, was eine medi­ka­men­töse The­ra­pie für den Rest des Lebens not­wen­dig macht. Den­noch setzt Melle die Tablet­ten zunächst nach eini­ger Zeit wie­der ab, denn er glaubt an ein ange­schla­ge­nes, aber von jetzt an doch krank­heits­freies Leben. Die fol­gen­den mani­schen Epi­so­den wer­den ihn noch näher an den Abgrund bringen.

Von der letz­ten Manie 2010 erholt er sich nicht mehr ganz, behält eine „Grund­zer­stört­heit“ zurück. Sein Leben sei von einer Tris­tesse durch­zo­gen, die zwi­schen undurch­dring­li­chem Schwarz und leich­tem Grau­fil­ter chan­giert, jedoch nie­mals ver­schwin­det. Der Ein­fluss auf seine schrift­stel­le­ri­sche Arbeit ist extrem: Auf der einen Seite hat ihn die Krank­heit Dinge erle­ben las­sen, die er im gesun­den Zustand nie­mals erfah­ren hätte. Auf der ande­ren Seite dämp­fen die Medi­ka­mente Wahr­neh­mung und Wort­fin­dung und las­sen ihn auch beim Schrei­ben mög­li­che Gefühls­wal­lun­gen unter­drü­cken. Den­noch ermög­li­chen ihm eben diese Medi­ka­mente ein Stück Nor­ma­li­tät, auf die er andern­falls keine Chance hätte.

Letzt­end­lich kommt Melle zu kei­nem sehr posi­ti­ven Schluss: „Die bipo­lare Stö­rung hat sich zwi­schen mich und alles gestellt, was ich sein wollte. Sie hat das Leben ver­un­mög­licht, das ich leben wollte, selbst wenn ich von die­sem kaum einen Begriff hatte.“ Tref­fen­der wäre jedoch zu sagen: Die Ver­an­la­gung zur Krank­heit war schon immer da. Eine Grund-Vul­nera­bi­li­tät, eine Grund-Ver­letz­lich­keit, zeich­nete den jun­gen Melle schon immer aus. Von klein auf hat er das Gefühl, nicht in die Welt zu pas­sen, anders zu sein als alle ande­ren, „stän­dig einen Abstand zwi­schen der Welt und [sich selbst] über­win­den zu müs­sen“. Sich eupho­risch in Dinge hin­ein­zu­stei­gern, die dann ebenso schnell wie­der fal­len gelas­sen werden.

logo_dbp16Mehr als nur die Krankheit

Melle setzt sich detail­liert und so ehr­lich, weil intim, wie mög­lich, mit der Krank­heit, ihrem Ursprung und ihren Fol­gen aus­ein­an­der. Dabei lässt er sich jedoch nicht rein über seine Bipo­la­ri­tät defi­nie­ren. Denn obwohl er mitt­ler­weile eine Ein­sicht in sein Krank­sein erlangt hat, ist für ihn nicht klar, was tat­säch­lich Krank­heit, was hin­ge­gen die gesell­schaft­li­che Zuschrei­bung angeb­lich abnor­ma­len Ver­hal­tens ist. Ist die Vul­nera­bi­li­tät mög­li­che Ursa­che, viel­leicht auch Sym­ptom oder ein­fach Teil sei­ner Wesens­art? Er berich­tet aus sei­ner dra­ma­ti­schen Kind­heit ebenso wie von der früh erblü­hen­den Liebe zur Lite­ra­tur, die ihm über diese Trau­mata hin­weg­hilft. Der Buch­ti­tel bezieht sich einer­seits auf die­sen posi­ti­ven Aspekt der gro­ßen Biblio­thek im Rücken sei­nes Arbeits­ti­sches. Ande­rer­seits bezieht sich der Titel auch auf das manisch-wahn­hafte Gefühl, „die ganze Welt (…), die ganze Geschichte“ im Rücken zu haben.

Her­vor­zu­he­ben ist noch der immense Wis­sens­schatz, über den Melle ver­fü­gen muss. Wäh­rend der Lek­türe ent­steht bei­nahe der Ein­druck, er habe sämt­li­che Lite­ra­tur gele­sen und Musik gehört, sämt­li­che Live-Kon­zerte und Thea­ter­stü­cke besucht und Filme gese­hen. Immer wie­der spickt er den Text mit ent­spre­chen­den Anspie­lun­gen und Zita­ten, die ich selbst nur zu einem Bruch­teil ver­stan­den oder erkannt habe. Umso trau­ri­ger, dass er mitt­ler­weile kaum noch Begeis­te­rung für die alten Lie­ben auf­brin­gen kann.

Wer Tho­mas Mel­les „Die Welt im Rücken“ lesen möchte, braucht starke Ner­ven. Leser soll­ten in sich gefes­tigt sein, zu leicht könn­ten die Beschrei­bun­gen von Wahn und Leid der­ar­tige Gefühle und Gedan­ken trig­gern. Wer sich auf die Grenz­erfah­rung eines Manisch-Depres­si­ven ein­las­sen kann, wird belohnt mit einer prä­zi­sen, cle­ver ein­ge­setz­ten Spra­che, einem rei­chen Bou­quet pop­kul­tu­rel­ler und lite­ra­ri­scher Refe­ren­zen und der sen­si­blen Beschrei­bung einer Per­son die so viel mehr ist, als nur eine mar­kerschüt­ternde Krankheit.

Die Welt im Rücken. Tho­mas Melle. Rowohlt Ber­lin. 2016.

Tho­mas Melle kommt mit „Die Welt im Rücken“ auf Lese­reise. Ter­mine und wei­tere Infos fin­det ihr hier:
rowohlt​.de/​a​u​t​o​r​/​t​h​o​m​a​s​-​m​e​l​l​e​.​h​tml

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