Bis der Himmel mich dann ruft

by Bücherstadt Kurier

„Wenn unten dein Herz zer­bricht, komm rauf, weil hier merkst du’s nicht...“
Julian Le Play, „Pilo­ten“, Melodrom

Bild: Cor­ne­lia Kopp, sin­ging nature, piqs​.de

Das sind die Worte, die alles ver­än­dern. Es ist, als ob sich auf ein­mal der Him­mel ver­dun­keln würde; oder klärt er sich etwa auf? Ist das denn über­haupt von Bedeu­tung? Das ist doch die glei­che Dis­kus­sion wie halb-vol­les-halb-lee­res-Glas, oder? Oder doch nicht? Ist doch egal.
Jeden­falls sind es diese paar Worte, die mich frös­teln las­sen. Ich spüre wie sich meine Här­chen auf­stel­len. Gän­se­haut im Anmarsch. Und das auf einem vol­len Kon­zert, wo die Raum­tem­pe­ra­tur locker bei fünf­und­zwan­zig Grad liegt.
Die­ses Frös­teln lässt mich daran den­ken, wer ich bin. Ich liebe die­ses ein­zig­ar­tige Gefühl, wenn mich etwas so berührt, dass ich es am gan­zen Kör­per spüre. Das ist es – unter ande­rem – was Kunst und Künst­ler-Sein für mich bedeu­tet, was Sinn für mich bedeu­tet, was leben für mich bedeutet.
Nur lei­der ist das Gefühl so schnell wie­der ver­schwun­den wie es auf­ge­taucht ist. Der Grund dafür: Ich konnte nicht rich­tig ein­tau­chen, keine rich­tige Ver­bin­dung her­stel­len. Und das wie­derum liegt daran, dass ich hier und jetzt ver­su­che, jemand zu sein, der ich ein­deu­tig, hun­dert­pro­zen­tig, mit abso­lu­ter Sicher­heit nicht bin.

Alles begann mit einer Bemer­kung eines leicht ange­hei­ter­ten Freun­des mei­ner Mut­ter. Er sah mich an und meinte: „Du siehst gar nicht aus wie ein­und­zwan­zig, son­dern wie eine pro­fes­soressa. Wo ist denn die Jugend geblie­ben?“ Er sagte dies im Scherz und mit kei­ner­lei bos­haf­ter Absicht. Doch meine Mut­ter nahm das sehr per­sön­lich. Und so kam der alte Vor­wurf wie­der zum Vor­schein: Ich ver­halte mich über­haupt nicht mei­nem Alter ent­spre­chend, sei lang­wei­lig und prüde. Da ich dies schon öfters und von meh­re­ren Sei­ten zu hören bekom­men hatte, beschloss ich in jenem Moment, dass ich genug hatte. Ich wollte ihnen allen zei­gen, dass ich auch anders sein konnte.

Und nun stehe ich also in einem Kon­zert, es ist ersti­ckend heiß, meine Platz­angst las­sen wir mal bes­ser aus dem Spiel und die Laut­stärke setzt mir so zu, dass ich Angst habe, mein Herz könne jeden Moment zer­sprin­gen. Kurz gesagt, ich fühle mich wie in der Hölle. Gute Musik hin oder her; ich kann sie ein­fach nicht genie­ßen. Bereits nach den ers­ten paar Tak­ten des ers­ten Lie­des ver­spürte ich schon den tie­fen Drang zu flie­hen. Doch das hätte bedeu­tet auf­zu­ge­ben, ihnen Recht zu geben und so stur war ich immer­hin, dass ich das nicht zulas­sen konnte. Also unter­drückte ich den Flucht­re­flex und blieb. Total idiotisch.

Das alles hätte ich viel­leicht sogar noch ertra­gen kön­nen. Doch als ich dann diese Worte hörte, ich die­ses ver­traute Gefühl auf­kom­men spürte, es im nächs­ten Augen­blick aber schon wie­der wie weg­ge­wischt war, war es aus. Und just in die­sem Moment rea­li­sierte ich: Es ist alles eine Lüge.
Eine sol­che Erkennt­nis ist echt hef­tig. Es trifft dich wie ein Blitz­schlag und jagt mit hun­dert­tau­send Volt durch dei­nen gan­zen Kör­per. Es ist, als ob die Luft immer dün­ner wer­den würde, dein Herz­schlag immer lau­ter und deine Mus­keln immer schwä­cher. Wie ein Karus­sell, das sich immer schnel­ler und schnel­ler dreht, ein Flug­zeug, das abstürzt, ein Schiff, das an einem Eis­berg zer­schellt, ein Glas, das zu Boden fällt und in tau­send Scher­ben zerspringt.
Und was noch viel schlim­mer ist: Ich bin daran Schuld. Daran, dass alles nur ein Lüge ist, ein Thea­ter­spiel, ein Ver­ber­gen und Vor­gau­keln. Denn ich bin es, die nicht authen­tisch ist. Ich bin schon längst nicht mehr die, die ich bin. Die ich sein sollte. Sein will. Es liegt an mir, dass ich das Gän­se­haut-Gefühl ver­lo­ren habe. Ich schaffte es nicht ein­zu­tau­chen wegen all der Men­schen um mich herum. Ich kann das nur, wenn ich alleine bin. Oder in der Gesell­schaft ganz weni­ger bestimm­ter Men­schen. Es liegt an mir.
Und auf ein­mal wird mir klar, wie sehr ich mich eigent­lich vor der Welt ver­schlos­sen habe. Wie wenig meine Mit­men­schen, meine Fami­lie, meine Freunde eigent­lich von mir wis­sen. Sie ken­nen mich eigent­lich gar nicht. Und das liegt an mir.
Ich ver­su­che mich an den Weg­wei­ser zu erin­nern; an die Weg­kreu­zung, an der ich falsch abge­bo­gen bin. Doch da ist nichts, nur Leere. Und Trauer. Ein­sam­keit. Verlassenheit.
Ich könnte der Welt die Schuld geben. All denen, die mich zu oft ver­letzt haben. Die mir das Gefühl gege­ben haben, nicht in Ord­nung zu sein. Die mich glau­ben lie­ßen, ich müsse mich anpas­sen, mich ändern. Die mich dazu gezwun­gen haben, mich zu ver­schlie­ßen. Meine Gefühle vor ihnen zu ver­ber­gen. Aber das hilft mir auch nicht wei­ter. Wut hilft nicht wei­ter. Zorn ebenso wenig. Und Hass schon gar nicht.
Ich frage mich, ob ich denn noch umkeh­ren kann... Nein, es gibt kein Zurück. Kann ich mich denn noch ändern? Kann ich mich so ver­hal­ten, wie ich es möchte? Kann ich jemand sein, den plötz­lich nie­mand mehr erkennt? Was ist mit denen, die ich schon mein hal­bes oder gan­zes Leben lang kenne? Wie soll ich ihnen erklä­ren, was in mir vor­geht? Wer­den sie es akzep­tie­ren, wer­den sie es ver­ste­hen? Wer­den sie mir ver­zei­hen, dass ich ihnen so lange etwas vor­ge­macht habe? Und wer­den sie mich noch ken­nen wol­len, wenn ich ganz anders bin?

„Und ich weiß, dass du bleibst bis der Him­mel mich dann ruft...“
Julian Le Play, „Wir haben noch das ganze Leben“, Melodrom

Da ist es wie­der, die­ses Gefühl. Ich greife danach, ver­su­che mich zu ent­span­nen und tat­säch­lich bleibt es einige Augen­bli­cke län­ger als zuvor. Und da rea­li­siere ich: Ich bin es, die mit mir leben muss. Es ist wich­ti­ger, dass ich mich selbst erkenne, als dass die ande­ren das tun. Dies ist mein Leben. Mein Selbst. Meine Ent­schei­dung. Ich kann es ändern, wenn ich will; ich kann mich ändern. Selbst wenn das bedeu­ten würde, dass ich alleine da stünde. Dass es kein „du“ geben würde, kein „wir“. Doch dann hätte ich immer­hin mich. Das habe ich im Moment nicht. Keine leichte Ent­schei­dung. Es braucht ganz schön viel Mut dafür.
Ich schließe für einen Moment die Augen und rufe mir diese Worte in Erin­ne­rung. Nur dass mein Gehirn da etwas durch­ein­an­der bringt und es auf ein­mal heißt: „Und ich weiß, dass ich bleib‘ bis der Him­mel mich dann ruft...“
Ich lächle. Die Ent­schei­dung ist gefallen.

Sil­via

Weiterlesen

1 comment

Gabryon 29. Mai 2014 - 1:06

Hat dies auf Aller­lei Kun­ter­bunt... reb­loggt und kommentierte:
Bücher, Bücher, Bücher...

Reply

Leave a Comment

Diese Seite verwendet Cookies. Mit der Nutzung unserer Website erklärst du dich damit einverstanden, dass wir Cookies verwenden. OK Erfahre mehr