Bungalow: Von Verzweiflung, Verwahrlosung und Überforderung Deutscher Buchpreis 2018

by Satzhüterin Pia

Ver­wahr­lo­sung und Abge­klärt­heit, Ver­zweif­lung und Cool­ness – in Helene Hege­manns neu­es­tem Roman „Bun­ga­low“ geht es ins Extreme. Satz­hü­te­rin Pia hat sich den Lon­g­list-Kan­di­da­ten des Deut­schen Buch­prei­ses vor­ge­nom­men und ver­sucht nun, ihn zu begreifen.

Mit etwa 280 Sei­ten ist es beim bes­ten Wil­len kein sei­ten­star­ker Roman. Und den­noch hat er es in sich. In einer dys­to­pisch anmu­ten­den Rah­men­hand­lung beglei­ten wir Char­lie – ein Mäd­chen, das im Begriff ist, zu einer jun­gen Frau her­an­zu­wach­sen. Sie wohnt in einem Vier­tel, des­sen Nach­bar­schaft aus Wohl­ha­ben­den und Armen zusam­men­ge­setzt ist. Von ihren Sozi­al­bau­ten schauen sie auf Bun­ga­lows hinab, deren Bewoh­ner bes­ser situ­iert sind. In einer Art stream-of-con­scious­ness erzählt die Prot­ago­nis­tin ihre Geschichte… von Din­gen, die ihr wich­tig erscheinen.

Außer­halb ihres Fokus‘ ver­schwim­men die kata­stro­pha­len Zustände der Welt drum­herum zu einem düs­te­ren Rau­schen: Öko­lo­gi­sche Kata­stro­phen, wie zu hohe Ozon­werte, die die Men­schen zwin­gen, tags­über in ihren Woh­nun­gen und Häu­sern zu blei­ben. Oder auch ein begin­nen­der Krieg, der nie so rich­tig erklärt oder benannt wird, aber wie eine sche­men­hafte Apo­ka­lypse doch deut­lich da ist… oder war… oder kommt?

Ein Sinn­bild für eine gestörte Gesellschaft?

So wie die Umwelt aus den Fugen gera­ten ist, zeich­nen sich Extreme auch in der Gesell­schaft ab. Mas­sen­hafte Selbst­morde (aus Ver­zweif­lung über die Gesamt­si­tua­tion) zum Bei­spiel. Wenig ist dar­über zu lesen – hier und da ein kon­kre­te­res Bei­spiel, aber irgend­wie wird es ins­ge­samt recht abge­klärt erzählt. Wie eine Tat­sa­che, die eben genannt wird, aber irgend­wie auch keine ent­setz­li­che Kata­stro­phe ist. Doch die Über­for­de­rung aller Men­schen – auch Char­lies – wird den­noch deutlich.

Diese Gestört­heit fin­det sich auch in ande­ren Aspek­ten wie­der: bei­spiels­weise in Char­lies Bezie­hung zu Maria und Georg. Das Ehe­paar zieht eines Tages in einen Bun­ga­low gegen­über ein und fas­zi­niert Char­lie von Beginn an. Diese Fas­zi­na­tion nimmt mit­un­ter arg selt­same Züge an. Die Anfangs gerade mal 12-jäh­rige Char­lie ver­folgt die neuen Nach­barn, sucht ihre Nähe, über­tritt dabei Gren­zen, doch fin­det letzt­end­lich einen Zugang zu den bei­den. Eine sehr merk­wür­dige Drei­er­be­zie­hung entsteht.

„Als Maria auf­stand, um den Fern­se­her aus­zu­schal­ten, haute Georg ihr auf den Arsch und lachte wei­ter. ‚Ich liebe dich‘, sagte er. ‚Natür­lich tust du das‘, sagte sie. ‚Ich zahle deine Miete.‘“ (S. 46)

Ganz neben­bei bricht Hege­mann mit übli­chen Mus­tern und Kon­ven­tio­nen. Ähn­lich wie die Erde ihrem Unter­gang ohne groß­ar­tige The­ma­ti­sie­rung des­sen näher­kommt, wer­den femi­nis­ti­sche The­men ein­ge­bun­den und Ste­reo­ty­pen auf­ge­bro­chen. Starke Frauen, die mit ihrem Job ihre Män­ner ernäh­ren. Junge Frauen, die eine selbst­be­stimmte Sexua­li­tät aus­le­ben. Ein Junge tür­ki­scher Abstam­mung als Klas­sen­bes­ter. Ein sen­si­bler bes­ter Freund, der sich um Char­lie sorgt und küm­mert. Char­lie selbst, die von ihrer jun­gen­haf­ten Sta­tur erzählt, die sie so mag. Ganz selbst­ver­ständ­lich behan­delt Hege­mann die The­men anders.

Char­lie und ihre Mutter

Nicht nur die Umwelt und die Gesell­schaft zei­gen sich zer­rüt­tet. Extrem gestört ist auch das Ver­hält­nis von Char­lie und ihrer Mut­ter. Diese ist alko­hol­ab­hän­gig, scheint leicht schi­zo­phren zu sein. Stim­men sagen ihr bei­spiels­weise, sie solle ihrer Toch­ter ein hei­ßes Bügel­eisen auf den Rücken drü­cken. Voll­kom­men über­for­dert mit sich selbst, der Erzie­hung ihrer Toch­ter, hilf­los dem Alko­hol erle­gen ist sie fast immer eine totale Katastrophe.

„Dann pin­kelte sie auf den Fuß­bo­den und legte sich zurück ins Bett. Ich war fas­sungs­los. Das hier war der Zustand, in dem Män­ner ihren Ehe­frauen das Gesicht zer­fleisch­ten und danach Teile ihres rohen Flei­sches auf­aßen.“ (S. 104)

Char­lie schwankt dabei zwi­schen Fas­sungs­lo­sig­keit und Hilf­lo­sig­keit, aber auch einer abge­klär­ten Cool­ness, die ihre Taub­heit und Ohn­macht widerspiegelt.

„Ich befand mich zu die­sem Zeit­punkt zu Hause, in der Nähe mei­ner Mut­ter, die in ihrer eige­nen Kotze lag und heulte. Oder drau­ßen oder in der Schule oder im Wald, in dem es phä­no­me­nal hübsch gezeich­nete Steine gab, mit denen konnte ich den gan­zen Som­mer lang reden.“ (S. 17)

Der Schreib­stil passt gut zu den Memoi­ren des Mäd­chens – wann genau Char­lie das auf­schreibt, ist mir jedoch unklar. Rück­bli­ckend? Dafür ist es zu detail­reich. Den­noch heißt es in einem kur­zen Absatz, dass sie heute sel­ber Kin­der habe. Der Text springt in den Zei­ten und erzählt von Char­lies Leben zwi­schen 12 und 17 Jah­ren. Der Haupt­teil dreht sich um die Zeit, in der sie Maria und Georg ken­nen lernt. Aber der Strang wirkt auf mich etwas dazu gedich­tet – zu abge­dreht –, wäh­rend es sich doch eigent­lich um ihr Leben mit einer kran­ken Mut­ter dreht.

„Jeder, der einen Säu­fer zu Hause sit­zen hat oder sel­ber einer ist, kann sich den­ken, dass aus den Vor­komm­nis­sen die­ser Nacht keine nen­nens­wer­ten Kon­se­quen­zen gezo­gen wor­den sind, weder von mir noch von mei­ner Mut­ter noch von Gott oder dem Jugend­amt oder von sonst irgend­wem, es ging wei­ter, wie immer. Wir rede­ten nicht dar­über, dass wir uns gegen­sei­tig abste­chen woll­ten.“ (S. 174)

Die gesamte Erzäh­lung von öko­lo­gi­schen und gesell­schaft­li­chen Kata­stro­phen spie­gelt im Grunde den Rah­men der kaput­ten und krank­haf­ten Bezie­hung mit der Mut­ter wider.

„Der Schleier, der sie von der rea­len Welt trennte, ver­schwand dann für einen kur­zen Augen­blick. Und als befän­den wir uns in einer aus­weg­lo­sen Kriegs­ku­lisse, in der sich der viel­ver­spre­chende Held als Ers­ter umbringt, legt sich die­ser Schleier zum fal­sches­ten Zeit­punkt wie­der über sie.“ (S. 78)

Der Fokus wirkt ver­schlei­ert. Geht es um eine unter­ge­hende Welt? Eine obs­zöne Bezie­hung zwi­schen einer jun­gen Frau und einem erwach­se­nen Ehe­paar? Oder doch ein­fach nur um ein ver­wahr­los­tes Mäd­chen und eine alko­hol­kranke Mut­ter? Die Quint­essenz ist wohl eine Gemein­sam­keit aus allem: Ver­zweif­lung, Extre­mes, Selbst­über­for­de­rung. Ein biss­chen stehe auch ich nach der Lek­türe so da. Was mache ich nun mit die­sem Text, der mir einen so gru­se­li­gen Ein­blick in eine dys­to­pi­sche Rea­li­tät gege­ben hat, aber nichts so rich­tig zu Ende führt? Auf jeden Fall sticht Hege­mann mit ihren The­men und ihrem Schreib­stil aus der Masse an deut­schen Lite­ra­ten her­aus und stand mei­ner Mei­nung nach zu Recht auf der Lon­g­list des Deut­schen Buchpreises.

Wer von euch hat „Bun­ga­low“ gele­sen und was hal­tet ihr davon? Hat es euch gefes­selt, fas­zi­niert, im Regen ste­hen las­sen oder ein­fach nur gut unterhalten?

Bun­ga­low. Helene Hege­mann. Han­ser Ber­lin. 2018.

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