Cornelia Funke

by Bücherstadt Kurier

„Für mich ist diese Welt eine Lie­bes­er­klä­rung an die Viel­falt unse­rer Welt.“

Zum drit­ten Mal ver­schlägt es Cor­ne­lia Funke hin­ter die Welt der Spie­gel: Zur Ver­öf­fent­li­chung von „Reck­less – Das gol­dene Garn“ hat die erfolg­rei­che deut­sche Autorin mit Bücher­städ­te­rin Ann-Chris­tin gesprochen.

BK: Frau Funke, lesen Sie selbst gerne Märchen?

CF: Inzwi­schen ja. Als Kind hab ich sie nicht gemocht – und doch stän­dig eine krat­zige LP mit Mär­chen gehört und zwei Bücher mit Mär­chen als gro­ßen Schatz betrach­tet. Ich habe wohl schon damals gespürt, dass da mehr drin­steckt als man auf den ers­ten Blick liest.

BK: Das Schema von Gut und Böse aus der Mär­chen­welt passt nicht auf die Reck­less-Reihe. Ist es eine Hom­mage an die Ursprünge vie­ler Mär­chen und Mythen oder eine Abkehr von den Vor­le­se­ge­schich­ten für Kinder?

CF: Die Spie­gel­welt ist sicher für ältere Leser geschrie­ben als Dra­chen­rei­ter, aber Abkehr würde ich das nicht nen­nen. Kin­der, die sich nicht vor kin­der­fres­sen­den Hexen fürch­ten und roman­ti­sche Ver­wick­lun­gen nicht allzu lang­wei­lig fin­den, sind herz­lich will­kom­men! Ich schreibe immer für alle Alter. Was die Mär­chen betrifft – die Spie­gel­welt ist ja eine Welt, in der unsere moderne Zeit gerade aus dem Ei schlüpft. Die Mär­chen ver­kör­pern da all das, was ver­lo­ren geht, im Guten wie im Schlech­ten. Vor­in­dus­tri­elle Land­schaf­ten, Städte, Herr­schafts­struk­tu­ren, die Ver­bun­den­heit, aber auch das Aus­ge­lie­fert­sein an die Natur... von all dem spre­chen unsere Mär­chen ja. Wir fin­den ver­ges­sene Göt­ter in ihnen, ver­ges­sene Völ­ker, aber oft auch viel über das, was ein Land und Volk geprägt hat.

BK: Die Brü­der Jacob und Will Reck­less beschäf­ti­gen sich in „Das gol­dene Garn“ beson­ders mit ihrer inne­ren Zer­ris­sen­heit und einer Viel­zahl von Erwach­se­nen-Pro­ble­men. War Ihnen von Anfang an klar, wie beschwer­lich der Weg der Reck­less-Fami­lie wer­den und wie weit die Brü­der aus­ein­an­der drif­ten würden?

CF: Ich weiß nie, wo eine Geschichte hin­will. 🙂 Und ich glaube eigent­lich nicht, dass meine Hel­den es in irgend­ei­nem Buch von mir ein­fach haben. Mo und Staub­fin­ger rei­sen sicher­lich auf kei­nem leich­te­ren Weg als Jacob und Will, oder? Aber viel­leicht emp­fin­den viele Leser die Spie­gel­welt als ‚erwach­se­ner’, weil es eine moder­nere Welt ist und meine Hel­den Men­schen unse­rer Zeit sind? Und dann kommt natür­lich hinzu, dass ich älter werde und meine Kin­der ebenso.

BK: Die Bücher beschäf­ti­gen sich mit Mär­chen aus aller Welt. Wäh­rend es in „Stei­ner­nes Fleisch“ vor allem um die Grimm­schen Mär­chen ging, „Leben­dige Schat­ten“ einen Abste­cher nach Frank­reich unter­nahm, steht nun rus­si­sche Folk­lore im Mit­tel­punkt. Wie wäh­len Sie die Mär­chen­vor­la­gen aus und haben Sie kul­tu­relle Unter­schiede dabei entdeckt?

CF: Ich habe vor, hin­ter den Spie­geln ein­mal um die Welt zu rei­sen. Was hieße: Buch 4 Asien, Buch 5 Ame­rika, Buch 6 Afrika. Aber... meine Geschich­ten hal­ten sich sel­ten an sol­che Pläne. Für mich ist diese Welt eine Lie­bes­er­klä­rung an die Viel­falt unse­rer Welt. Was die Unter­schiede betrifft: o ja, natür­lich! Mär­chen sind phan­tas­ti­sche Rei­se­füh­rer – man sollte eigent­lich immer ein oder zwei lesen, bevor man ein neues Land besucht. Land­schaf­ten, Geschichte, Wert­vor­stel­lun­gen, Träume und Ängste einer Region... sie sind Schatz­kis­ten, gefüllt mit all dem. Und dann gibt es natür­lich auch die Motive, die man in allen Mär­chen der Welt fin­det und die uns daran erin­nern, wie sehr wir uns bei aller Unter­schied­lich­keit glei­chen – etwas, an das es in die­ser Zeit wie­der ein­mal unend­lich wich­tig ist zu erinnern.

BK: Und wie wirkt sich die Zusam­men­ar­beit mit dem Film­pro­du­zen­ten Lio­nel Wigram auf die Aus­wahl der Mär­chen­mo­tive aus? Sie haben ein­mal in einem Inter­view erzählt, dass die Vater­su­che dadurch stär­ker in den Fokus gerückt sei.

CF: Lio­nel hat nur am ers­ten Buch inten­siv mit­ge­ar­bei­tet. Beim zwei­ten hat sich das schon auf ein paar (anre­gende) Gesprä­che beschränkt, und seit mehr als drei Jah­ren arbeite ich allein an der Spiegelwelt.

BK: Rit­ter und Prin­zes­sin­nen? Fehl­an­zeige in Reck­less. Jacob besitzt einige Makel, er will gar kein Held sein, ist rast­los, win­det sich mit Tricks aus der Schlinge oder springt von der Schippe des Todes. Wes­halb bevor­zu­gen Sie die Grau­zone, in der sich Jakob, Fuchs und die ande­ren immer wie­der bewegen?

CF: In der Spie­gel­welt sind Mär­chen his­to­ri­sche Wirk­lich­keit. Das heißt, dass sie nicht von Arche­ty­pen, son­dern ech­ten Men­schen erlebt wer­den. Zusätz­lich befin­det diese Welt sich im Umbruch UND Jacob stammt aus unse­rer Welt und dem 21. Jahr­hun­dert. Für mich macht es den Reiz die­ser Welt aus, dass ich mit all die­sen Ele­men­ten spie­len kann – und dass Jacob all diese Wider­sprü­che verkörpert.

BK: Und dann wäre da noch Jacobs klei­ner Bru­der Will. Ein gut­mü­ti­ger Kerl, von der Sta­tur eines poten­zi­el­len Mär­chen­hel­den. Er bringt die Geschichte ins Rol­len, als er in Band eins die Spie­gel­welt betritt und durch einen Zau­ber zum Goyl wird. Inter­es­sant ist aber, dass er dort immer wie ein Fremd­kör­per wirkt: Obwohl er ein Haupt­cha­rak­ter ist, tritt er kaum als Kapi­tel­erzäh­ler auf. Sie beschrei­ben ihn häu­fig aus den Augen Ihrer ande­ren Figu­ren. Was ist der Sinn dahinter?

CF: Will ver­steckt sich gern. Vor sich selbst – aber auch vor mir! Ich kann es nicht erwar­ten, her­aus­zu­fin­den, was noch aus ihm wird. Ich glaube, in Buch 3 ist er sich selbst etwas näher gekom­men, aber wir wer­den sehen. Und ja, ich glaube, er hat tat­säch­lich das meiste Poten­tial zum klas­si­schen Mär­chen­hel­den. Sie sind ja oft naiv, unschul­dig, blind... um dann wah­ren Hel­den­mut und sogar Weis­heit zu beweisen.

BK: Dass in Ihren Büchern viele unter­schied­li­che Figu­ren zu Wort kom­men ist aller­dings nichts Neues. Bereits in Dra­chen­rei­ter oder der Tin­ten­blut-Tri­lo­gie erzäh­len auch Böse­wichte. Was ist ihr Erfolgs­re­zept, damit es span­nend bleibt, obwohl der Leser in die Pläne Ihrer Schur­ken ein­ge­weiht ist?

CF: Ich habe kein Rezept. Das wäre ja ent­setz­lich lang­wei­lig. Für mich und meine Leser. Ich hoffe, ich höre auf zu schrei­ben, wenn ich die Lust ver­liere, es immer wie­der ein biss­chen anders zu machen.

BK: Wie behal­ten Sie bei all den Figu­ren und Per­spek­ti­ven eigent­lich den Über­blick? Pla­nen Sie vor­her genau, wer wel­ches Kapi­tel erzählt oder ent­steht es im Schreib­fluss? Hat sich dabei schon ein­mal ein Cha­rak­ter als Erzäh­ler auf­ge­drängt, der nur für eine kleine Rolle vor­ge­se­hen war?

CF: Ja, das ändert sich alles stän­dig wäh­rend des Schrei­bens. Oft plane ich, nur um dann alles umzu­wer­fen. Ich schreibe jedes Buch min­des­tens sechs Mal um, oft öfter. Es kom­men Figu­ren hinzu, Per­spek­ti­ven wech­seln, hun­dert Sei­ten flie­gen raus...

BK: Wenn Sie sich eine Welt, in der Sie leben könn­ten, aus­su­chen, wür­den Sie sich für die Tin­ten­welt oder ein Leben hin­ter den Spie­geln aus Reck­less ent­schei­den? Wel­che Vor­züge hätte die eine oder die andere? Wel­che wäre die grausamere?

CF: Ich glaube, die Tin­ten­welt wäre gefähr­li­cher für mich. In einer mit­tel­al­ter­li­chen Welt würde man mich sicher als Hexe ver­bren­nen. 🙂 Und ich glaube, der Spie­gel reizt mich sehr, weil ich da leich­ter vor und zurück könnte. Ich liebe unsere Welt und Zeit und habe eigent­lich kein Bedürf­nis, sie allzu lange zu ver­las­sen. Ande­rer­seits würde ich natür­lich gern mal einem mit­tel­al­ter­li­chen Buch­ma­ler zusehen!

BK: Stimmt es, dass Sie gerade an einer Fort­set­zung von Dra­chen­rei­ter arbei­ten? Kön­nen Sie schon etwas ver­ra­ten? Wer­den wir alte Bekannte, wie den Dra­chen Lung, sei­nen Rei­ter Ben oder das Kobold­mäd­chen Schwe­fel­fell wiedersehen?

CF: Ja, das stimmt. Mein Arbeits­ti­tel ist DIE FEDER EINES GREIFS und alle ver­trau­ten Figu­ren wer­den vor­kom­men. Und viele neue.

BK: Gibt es noch andere Pro­jekte, die Ihnen im Kopf herumschwirren?

CF: O ja. Ich arbeite seit Jah­ren par­al­lel an ande­ren Pro­jek­ten – meist Kurz­ge­schich­ten, Kol­la­bo­ra­tio­nen mit visu­el­len Künst­lern oder Musi­kern – das macht die eigene Arbeit so viel rei­cher. Zur­zeit bereite ich zusätz­lich eine Kurz­ge­schichte zu einer Aus­stel­lung des Getty Rese­arch Insti­tu­tes über Lud­wig den Vier­zehn­ten vor. Außer­dem habe ich zuge­sagt, dem Gün­ter Grass Haus Texte zu schrei­ben, die jün­ge­ren Besu­chern die Aus­stel­lung und das Werk und Leben von Grass näher brin­gen. Und... ich arbeite an einem Bil­der­buch, als Schrei­ber­ling und Illustratorin.

BK: Und zum Abschluss: Stel­len Sie sich vor, Sie wären ein Buch – wel­ches wären Sie?

CF: Oh, wun­der­bare Frage! Ein Aben­teu­er­buch, wie die Schatz­in­sel oder Die Braut­prin­zes­sin von Wil­liam Goldman.

Die­ses Inter­view erschien erst­mals in der 16. Aus­gabe des Bücher­stadt Kuriers.
Foto © Dress­ler / Joerg Schwalfenberg

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Gespensterjäger, Drachenreiter und Wilde Hühner im Wasserschloss Strünkede | Bücherstadt Kurier 27. April 2015 - 15:23

[…] Nata­lie haben bei einem Besuch des Was­ser­schlos­ses Strün­kede in Herne die Aus­stel­lung zu Cor­ne­lia Funke und ihren Wer­ken ent­deckt. Seit über 20 Jah­ren schreibt sie Kin­der- und Jugend­bü­cher und gehört […]

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