Daedalus, Ikarus und der Blick hinter die Fassaden

by Buchstaplerin Maike

Mit „Fun Home“ hat Carl­sen die ein­fühl­same auto­bio­gra­phi­sche Gra­phic Novel von Ali­son Bech­del neu auf­ge­legt. Darin geht es um nicht weni­ger als um das Leben und den Tod – erzählt durch eine unge­wöhn­li­che Vater-Toch­ter-Bezie­hung. – Von Buch­stap­le­rin Maike

Eine Klein­stadt in Neu­eng­land: Ali­son wächst in einem unge­wöhn­li­chen Haus auf. Von ihrem gefühls­kal­ten Vater reno­viert, bis es einer prunk­vol­len exzen­tri­schen Villa gleicht, ist das Heim der Fami­lie ein Abbild der sich darin abspie­len­den Ver­hält­nisse. Das Fami­li­en­le­ben ist keine wirk­li­che Fas­sade, aber den­noch bro­deln unter der Ober­flä­che Geheim­nisse, die das Klein­stadt­i­dyll zum Zer­bre­chen brin­gen können.

Als Ali­sons Vater 1980 stirbt, setzt sich die junge Frau mit der Fami­li­en­ge­schichte aus­ein­an­der. War es Selbst­mord? Und warum? Ali­son stößt nach und nach auf so viele Geheim­nisse, dass sie ihre Kind­heit mit ande­ren Augen betrach­ten muss. Sie erin­nert sich an wich­tige Sta­tio­nen in ihrem Leben und muss die Gren­zen der Iden­ti­tät ihres Vaters – und ihrer eige­nen – neu abstecken.

„Fun Home“ ist eine dichte, kom­plexe Erzäh­lung, die in sich meh­rere The­men ver­eint: Fami­li­en­ge­schichte, Com­ing of Age, Com­ing Out, Zeit­ge­schichte und immer wie­der die zeit­lose Wirk­macht der Lite­ra­tur selbst. Die Erzähl­weise ist stel­len­weise sehr lyrisch und ver­knüpft so Text und Bild bes­ser, als beide Medien es ein­zeln könn­ten. Beson­ders schön finde ich, wie das Motiv eines schein­ba­ren Wider­spruchs die Gra­phic Novel durch­zieht und sich im Klei­nen wie im Gro­ßen fin­det. So beginnt es, dass das Fami­li­en­un­ter­neh­men ein Bestat­tungs­un­ter­neh­men (engl. Fun­e­ral Home) ist, wel­ches von den Kin­dern kurz Fun Home genannt wird. Und tat­säch­lich ist eine Gleich­zei­tig­keit bei­der Umstände mög­lich. Die­selbe Gleich­zei­tig­keit schein­bar unver­ein­ba­rer Dinge wie­der­holt sich in der Dar­stel­lung von Geschlech­ter­rol­len und Identitäten.

Zahl­rei­che Ver­weise auf Lite­ra­tur geben der Erzäh­lung mehr Tiefe, indem sie die Geschich­ten der Figu­ren etwa mit den Büchern von Mar­cel Proust, James Joyce oder Fitz­ge­rald ver­knüp­fen. Diese inter­tex­tu­el­len Bezüge kön­nen die Lek­türe manch­mal etwas ver­lang­sa­men. Aber die Ver­weise neh­men auch einen gro­ßen Anteil am Plot – und wer­fen Fra­gen auf, wie sehr Lite­ra­tur das Leben beein­flus­sen und sogar nach­hal­tig ver­än­dern kann.

Die Zeich­nun­gen der Gra­phic Novel unter­stüt­zen die Atmo­sphäre der Geschichte. Wun­der­schöne unru­hig wir­kende Bil­der, die aus­schließ­lich in schwarz, weiß und hell­blau gehal­ten sind, brin­gen den Lesen­den die Figu­ren und das Set­ting näher. Gerade der Ein­satz der blauen Farbe reflek­tiert den küh­len Ton, der die Geschichte durch­zieht. Obwohl die Zeich­nun­gen gerade im Bereich der Figu­ren redu­ziert wir­ken, ist die Dar­stel­lungs­weise kei­nes­wegs kind­lich, son­dern sehr erwach­sen. Das kann einer­seits an den oft mür­ri­schen Gesichts­zü­gen lie­gen, die für Bech­del typisch sind, ande­rer­seits eben auch an der gesam­ten kom­ple­xen The­ma­tik, die in bild­li­cher Form ein­ge­fan­gen wird.

Ali­son Bech­del, die man­cher als Erfin­de­rin des „Bech­del-Tests“ für die Frau­en­freund­lich­keit von Fil­men kennt, legt mit „Fun Home“ ein nach­denk­li­ches, melan­cho­li­sches Buch vor. Sen­si­bel, viel­schich­tig und phi­lo­so­phisch reflek­tiert die Gra­phic Novel das Leben, den Tod und alles dazwi­schen. Wer bis­her noch keine Erfah­run­gen mit dem Medium Comic gemacht hat, sollte unbe­dingt einen Blick in „Fun Home“ wer­fen, denn hier har­mo­nie­ren Bild und Lite­ra­tur per­fekt mit­ein­an­der und schaf­fen ein berüh­ren­des Meis­ter­werk. Die­ses Buch lohnt sich, mehr­mals gele­sen zu wer­den, um alle Nuan­cen zu erfassen.

Fun Home – Eine Fami­lie von Gezeich­ne­ten. Ali­son Bech­del. Über­set­zung: Sabine Küch­ler, Denis Scheck. Carl­sen, 2014. Ab 14.

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1 comment

amethyststurm 31. Januar 2015 - 13:16

Hat dies auf ame­thyst­sturm reb­loggt und kommentierte:
Als ich die Gra­phic Novel von Ali­son Bech­del ent­deckte, in der Weih­nachts­zeit, brachte mein Hirn sie im ers­ten Augen­blick nicht ein­mal mit dem Bech­del-Test in Ver­bin­dung. Umso erfreu­li­cher war die Google-Suche ein wenig später.
Fun Home ist eine Geschichte, die ich nur wei­ter­emp­feh­len kann! Auf jeden Fall mein Favo­rit im Januar. Sehr, sehr viel­schich­tig und berührend.
Bech­del-Test: bestan­den (wen wundert’s?)
Russo-Test: bestan­den (aber so was von!)
5 Sterne, mit Glit­ter obendrauf!

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