Das Leben leben

by Zeichensetzerin Alexa

Einen Moment inne­hal­ten, dem schnell­le­bi­gen All­tag ent­flie­hen, mal nicht erreich­bar sein – die­ses Gefühl ver­mit­telt Chris­tian Hal­ler in sei­nem Werk „Die Steck­na­deln des Herrn Nabo­kov“. Hier wid­met sich der Autor den schein­bar Unschein­ba­ren Din­gen des Lebens, zwi­schen Moder­ni­sie­rung und Natur.

Unsere Welt wird durch soziale Netz­werke und Smart­pho­nes beschleu­nigt. Der Kalen­der ist voll­ge­stopft mit Ter­mi­nen, Frei­zeit mit Freun­den und Ver­wand­ten muss erst ein­mal geplant wer­den, stets unter dem Vor­be­halt, dass etwas dazwi­schen kom­men könnte. Bereits das Fin­den eines gemein­sa­men freien Ter­mins ist schwie­ri­ger als gedacht. Hal­ler beschreibt eine Gruppe von Men­schen, die in ihrem Kalen­der blät­tert bzw. dem Smart­phone scrollt, auf der Suche nach einem pas­sen­den Datum. Erfolg­reich ist sie nicht – und so wird beschlos­sen, das Tref­fen auf einen spä­te­ren Zeit­punkt zu ver­le­gen und sich per Mail über das genaue Datum zu verständigen.
„Das Leben ist der Narr der Zeit, und Zeit muss enden“, zitiert Hal­ler Shake­speare. Zeit als kost­ba­res Gut, das uns ver­lo­ren­geht, je mehr wir der beschleu­nig­ten Welt ver­fal­len, Zeit als Aus­tausch gegen Waren, Zeit nur in Ver­bin­dung mit Pro­duk­ti­vi­tät. Wol­len wir wirk­lich so leben? Hal­ler weckt das Gefühl des schlech­ten Gewis­sens und bie­tet in sei­nen nächs­ten Pro­sa­tex­ten eine alter­na­tive Welt. Jene näm­lich, die den Blick auf die schö­nen, klei­nen Dinge des Lebens lenkt, die zeigt, dass es außer­halb der moder­nen Welt noch etwas gibt, wofür es sich zu leben lohnt – und sei es nur für einen Augen­blick des Inne­hal­tens in einer schö­nen Landschaft.

„Einen Augen­blick ver­stummt stan­den wir in der wei­ten, groß­zü­gi­gen Land­schaft: Träg schob sich der Strom zwi­schen fla­chen Ufern an uns vor­über. Das Schilf wiegte sich im Som­mer­wind, wir blick­ten übers Was­ser in die Ebene, wo im Gras­land die Wei­den­bäume ihre Äste neig­ten. Die Wol­ken segel­ten über den weit­ge­spann­ten Him­mel, und lang­sam kam ein Schiff strom­auf­wärts gefahren.“

Was zunächst wie eine banale All­tags­be­schrei­bung wirkt, ent­puppt sich als poe­ti­sche Male­rei des Lebens. Das, was beschrie­ben wird, kann man mit allen Sin­nen begrei­fen. Geweckt wird der Wunsch, jetzt gleich hin­aus­zu­ge­hen, den Regen zu spü­ren, ohne sich unter dem Regen­schirm zu ver­ste­cken, jeden Gras­halm unter die Lupe zu neh­men. Man möchte das Smart­phone aus­schal­ten, den Kalen­der weg­wer­fen und anfan­gen zu „leben“. Der All­tag ist zer­rüt­tet, man fragt sich, wel­chen Sinn die­ses Gehetze über­haupt hat, wenn am Ende unse­res Lebens doch nur eines zählt: dass man das Leben glück­lich gelebt hat. Dies mag kit­schig klin­gen, doch Kitsch fin­det sich in die­sem Werk kei­ner. Sehr klar und tref­fend ist die Spra­che, die Bil­der wer­den durch Beschrei­bun­gen erzeugt, ohne über­trie­bene Aus­schmü­ckun­gen zu ent­hal­ten. Viel­mehr hat man die Frei­heit, sich ein eige­nes Bild zu schaf­fen, bedingt durch unsere eigene Lebenserfahrung.

„Der Him­mel ist von föh­ni­gem Blau, und das Grün des Lau­bes, der Wie­sen hef­tig und fett mit dem Pin­sel auf­ge­tra­gen. Und ich frage mich an die­sem reg­ne­ri­schen Nach­mit­tag, ob ich als Kind viel­leicht durch eine Land­schaft gewan­dert bin, die von den Bil­dern in Groß­va­ters Haus stammte […].“

In 27 Geschich­ten bringt uns Chris­tian Hal­ler dem Leben wie­der näher: Über „Das wun­der­bar Unbe­deu­tende“, „Lär­mige Aus­düns­tun­gen“, „Rad­fah­ren im Park“, „Kochen mit Goe­the“ bis hin zur „leder­nen Uto­pie“ und an den „Rand der wei­ßen Stille“. Hal­ler erzeugt nicht nur gute Unter­hal­tung, son­dern auch Sen­si­bi­li­tät für das kleine Detail, die Aus­ein­an­der­set­zung mit der eige­nen Lebens­weise und tief­grün­dige Gedan­ken. Neben all dem fin­den sich die ein oder andere Anspie­lung und inter­tex­tu­elle Bezüge. Nicht umsonst heißt die­ses Buch „Die Steck­na­deln des Herrn Nabokov“.

Alexa

Die Steck­na­deln des Herrn Nabo­kov, Chris­tian Haller,
Luch­ter­hand Lite­ra­tur­ver­lag, 2010

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