Das letzte Land

by Bücherstadt Kurier

Anfang des 20. Jahr­hun­derts, ein Dorf im Nor­den Deutsch­lands. Ruven Preuk, der jüngste Sohn des Stell­ma­chers Niels Preuk, zeigt schon im Kin­des­al­ter eine große musi­ka­li­sche Bega­bung, die dem Zufall sei Dank ent­deckt wurde.

Ruven ist beses­sen, nahezu abge­kap­selt vom rest­li­chen Gesche­hen und nimmt zuneh­mend eine Son­der­stel­lung im Dorf ein. Anfäng­lich mit Spott über­sät, bleibt ein gewis­ser Stolz auf Kul­tur auf dem Land nicht ver­bor­gen. So gehen die Jahre dahin, die Geige scheint mit dem Jun­gen­kör­per ver­wach­sen, so untrenn­bar sind sie beide. Der erste Welt­krieg bricht aus und Niels Preuk, sowie andere Män­ner des Dor­fes bre­chen auf.

„Dem Bien geht es nicht gut. Pas­sen wir auf uns auf, mein Junge, damit uns nicht auch die Sonne ver­lo­ren geht. Unse­rem Land leuch­tet schon längst nichts mehr.“

Ruven wird erwach­sen, zieht in die Stadt, ver­schreibt sich gänz­lich der Geige, kommt zurück, hei­ra­tet, geht wie­der und zieht nach Ham­burg. Doch der nächste Krieg lässt nicht allzu lange auf sich war­ten. Und nimmt Ruven mit. Seit Kind­heit an ist der Prot­ago­nist ein sehr stil­ler Cha­rak­ter, denkt in Noten, ein Per­fek­tio­nist, unaus­ge­gli­chen, unzu­frie­den mit der Welt. Svenja Lei­ber ver­steht es all die Cha­rak­tere sen­si­bel zu umfas­sen, ihre Skiz­zen las­sen erah­nen, doch schrei­ben nie vor:

„Das war ein ganz und gar ande­rer Ruven, als der, der am Vor­mit­tag in die Stadt auf­ge­bro­chen war. Und etwas kroch sie dabei an, und sie musste ein­mal kurz in die Spei­se­kam­mer und sich mit der Schürze übers Gesicht, weil da die­ser große Abschied also an die Tür klopfte, und abends, als ihr im Bett noch­mals die Augen über­lie­fen, da hat Niels neben ihr gele­gen und an die Decke geschaut, und dann hat er nach ihrer Hand gegrif­fen, wie seit Jah­ren nicht, und sie hat gesagt, das sei eben das Schlimme am Mut­ter­sein, dass man seit der Geburt immer nur Abschied nehme.“

Man wird sanft in die Szene hin­ein­ge­scho­ben, als wäre man betei­ligt, als bräuchte man den exak­ten Wort­laut nicht, dass die Mut­ter weint, denn die Augen sind Zeu­gen genug. Drum wird es umschrie­ben, jedoch durch eine Blume, die zau­ber­haft duf­tet – und dank des Dia­lekts den­noch so boden­stän­dig ist. Eine herr­lich schöne Mischung.

„Nicht Kraft, son­dern Mut braucht man, um wirk­lich anzu­fan­gen. In dem Moment, wo du anfängst, tritt der Ton vor dich hin, und du hörst deine eigene Musik. Du hörst das, was an dir Musik ist. Es kann einen um den Ver­stand brin­gen, weil man plötz­lich ahnt, was wir sind – ja, ich glaube näm­lich, wir sind zum größ­ten Teil Musik!“

Das Jung­ta­lent wird erkannt und geför­dert, ihm haf­tet eine Seele an, die berührt und den­noch bleibt Ruven ein Künst­ler­ge­nie im Stil­len. Trau­rig erin­nert man sich an zahl­rei­che andere Künst­ler­por­traits und möchte ihn berühmt sehen, dass all sein inne­res Leid nicht umsonst gewe­sen war. Oder nicht? Ist es nicht die Stille, die an Wahr­haf­tig­keit allem vor­aus ist?

„Wir glau­ben immer, wir müss­ten uns die Zukunft ein­kau­fen. Aber ich sage dir, die Zukunft, die krie­gen wir umsonst. Die kommt mit lan­gen Beinen.“

So begeg­nen wir in der Lek­türe auch einem Kunst­samm­ler, der zu Zusam­men­künf­ten ein­lädt, die Rei­chen und Schö­nen durch seine Gale­rie führt, auch Maler mit gro­ßem Ver­gnü­gen bei sich spei­sen lässt. Zu letz­te­ren Gäs­ten gehört ein nor­we­gi­scher Künst­ler, der die Atmo­sphäre mit einer dunk­len Melan­cho­lie beschwingt. Phi­lo­so­phie und Poli­tik domi­nie­ren die Tisch­ge­sprä­che, die den Roman im Zeit­ge­sche­hen platzieren:

„Das Ent­schei­dende ist aber, dass man die Lan­ge­weile selbst nur schwer erträgt. Da fängt man lie­ber einen Krieg an, zur Not gegen sich selbst. Man greift an, um nicht von etwas Uner­hör­tem ange­grif­fen zu werden.“

Die Autorin schuf ein Künst­ler­por­trait in der Spanne eines gesam­ten Lebens, beglei­tete den Prot­ago­nis­ten durch jede Lebens­phase hin­durch und beschreibt minu­tiös Gedan­ken, Gefühle, Hand­lun­gen ohne dem Leser je etwas weg­zu­neh­men: seine Phantasie!

Das Gefähr­li­che an Musi­ker­ro­ma­nen ist das Auf­zwän­gen eines Cha­rak­ters in des­sen Instru­ment – Kli­schees, die bedient wer­den und trotz aller musik­wis­sen­schaft­li­chen Kennt­nis­sen des Autors nicht berüh­ren. Doch hier ist es anders. Man wird bela­den mit Apho­ris­men, wir schreien nach Nach­schub, denn wir sind als Leser betei­ligt und genie­ßen den Rausch an Phan­ta­sie, die frei­ge­setzt wird – min­der auf­grund der Geschichte selbst, die ohne Frage sehr berührt – son­dern viel­mehr weil die Autorin die Spra­che auf die Ebene der Kunst erhebt.

„Der Tod ist das Nadel­öhr, durch das der Mensch hin­durch­muss, um an die Sonne zu kommen.“

Der Dia­lekt und all die blu­mi­gen Umschrei­bun­gen im Kon­text unse­res heu­ti­gen Sprach­ge­brauchs sind anfäng­lich gewöh­nungs­be­dürf­tig, doch es ver­zau­bert – lächelnd liest man unge­wohnte Pas­sa­gen ein zwei­tes, drit­tes Mal und ver­sucht sich diese Wort­ver­zwei­gun­gen zu ver­in­ner­li­chen, ein­zu­schlie­ßen in seine Gedan­ken um zur rech­ten Zeit Gebrauch von ihnen zu machen.

Der Tod schleicht sich ver­klei­det immer wie­der heim­lich in die Geschichte hin­ein, hält die Zeit an und kit­zelt den Künst­ler, for­dert ihn her­aus, spielt mit ihm, hält ihm den Spie­gel vor – sehr zum Leid des Künst­lers – doch bewe­gende Höhe­punkte für den Leser. Ein Roman, der mit Vor­sicht zu genie­ßen ist, denn man fühlt, ja lei­det gar mit dem Prot­ago­nis­ten, den man von sei­ner Kind­heit bis ins Toten­bett begleitet.

Nicole (urwort​.com)

Das letzte Land. Svenja Lei­ber. Suhr­kamp. 2014.

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