Das Tier um uns herum, das Tier in uns

by Zeichensetzerin Alexa

„Tiere“ ist ein sehr all­ge­mei­ner Titel. Was genau soll man sich dar­un­ter vor­stel­len? Auch der Ver­weis dar­auf, dass es sich bei die­sem Werk um eine Samm­lung von Kurz­ge­schich­ten han­delt, hilft nicht son­der­lich wei­ter. Als Zei­chen­set­ze­rin Alexa das Buch auf­schlug, ahnte sie des­halb nicht, welch tief­sin­nige und viel­fäl­tige Lek­türe sie erwar­ten würde.

Geschich­ten, in denen Tiere als Prot­ago­nis­ten fun­gie­ren, gibt es viele. Aber nicht alle ver­mö­gen es, das Wesen eines Tie­res der­art ein­zu­fan­gen, dass man beim Lesen das Gefühl bekommt, die Welt durch seine Augen zu sehen. Die Kurz­ge­schich­ten in der Antho­lo­gie „Tiere“ schaf­fen das und viel mehr. Sechs nam­hafte Schrift­stel­le­rIn­nen haben sich mit dem Thema Tiere beschäf­tigt und es auf unter­schied­li­che Weise in lite­ra­ri­scher Form umge­setzt. Dabei geht es nicht immer nur um „Tier­ge­schich­ten“, wie man sie ver­mehrt kennt, son­dern auch um das Tier im Men­schen, die Ver­bin­dung zwi­schen Mensch und Tier und glück­li­che Zufälle, die dank Tie­ren eintreffen.

Das Tier in uns

Nataša Dragničs Geschichte „Die Unbe­schwert­heit des Him­mels“ gehört zu mei­nen Favo­ri­ten in die­ser Samm­lung. Gleich zu Beginn des Buches wird man von der Ich-Erzäh­le­rin in ihre Welt geso­gen. Sie beschreibt ihr Leben von der Kind­heit bis zur erwach­se­nen Frau – und ihre Selbst­wahr­neh­mung. Sie glaubt, den Kör­per eines Vogels zu haben. Viel­leicht ist das so. Viel­leicht ist die Welt, in der diese Geschichte spielt, eine fan­tas­ti­sche, in der alles mög­lich ist. Viel­leicht aber ist das nur ihre Wahr­neh­mung, ein Aus­druck ihres Emp­fin­dens und ihrer Iden­ti­fi­ka­tion: „Wenn ich böse war, wurde ich Takahe oder Kaka, blickte hart und gehäs­sig um mich. Ich wech­selte mein Gefie­der wie meine Unterwäsche.“

Im Laufe der Geschichte wer­den Ver­än­de­run­gen sicht­bar – inner­lich wie äußer­lich. Irgend­wann legt sie ihr Gefie­der ab. Zunächst geht es der Prot­ago­nis­tin gut mit die­ser Ent­schei­dung, aber dann wird ihre Sehn­sucht nach Flie­gen und Frei­heit geweckt. Das wahre Ich – und das Tier in uns – kann nie­mals gänz­lich ver­bannt werden.

Glück­li­che Zufälle

Franz Hoh­lers „Die Katze“ unter­schei­det sich von den ande­ren Geschich­ten vor allem in ihrer Form: Beschrie­ben wird ein Tele­fo­nat zwi­schen Mut­ter und Toch­ter. Aller­dings wird nur aus der Sicht der Mut­ter erzählt. Was die Toch­ter sagt, kann nur aus den Äuße­run­gen der Mut­ter geschlos­sen wer­den. Das Tele­fo­nat erin­nert anfangs noch an eine All­tags­si­tua­tion: Toch­ter Renate ist gerade im Prü­fungs­stress und berich­tet ihrer Mut­ter über den Inhalt ihrer Semi­nar­ar­beit. Die Mut­ter jedoch ver­sucht, auf das Anlie­gen ihres Anrufs zu spre­chen zu kommen.
Nach eini­gen Ver­su­chen schafft sie es schließ­lich, ihre Toch­ter um einen Gefal­len zu bit­ten: Sie soll auf die Katze auf­pas­sen. Renate ist über­haupt nicht begeis­tert. Und in Wahr­heit mag sie gar keine Kat­zen. So ent­wi­ckelt sich das Gespräch in eine Rich­tung, die zu Beginn noch nicht abseh­bar war: Ereig­nisse aus der Ver­gan­gen­heit kom­men ans Licht, glück­li­che Zufälle, bei denen Kat­zen eine wich­tige Rolle spie­len – und die Rena­tes Leben auf den Kopf stellen.

In die­ser Geschichte wer­den Tiere als Beglei­ter dar­ge­stellt. Dank­bar­keit und Ver­ant­wor­tung rei­chen sich hier die Hand. Vor­der­grün­dig geht es um die Bezie­hung zwi­schen Tier und Mensch, hin­ter­grün­dig um die Rolle der Tiere im Leben eines Menschen.

Unter­halt­same Märchen

Neben „Die Unbe­schwert­heit des Him­mels“ und „Die Katze“ hat mich das Tier­mär­chen „Der die Schlan­gen tötet“ von Michael Köhl­meier beein­druckt. Von sei­nen sechs Tier­mär­chen, die in die­sem Buch ent­hal­ten sind, ist dies das – mei­ner Mei­nung nach – span­nendste und inter­es­san­teste Mär­chen. Dies liegt zum einen an der Umset­zung, wel­che sprach­lich an bibli­sche Texte erin­nert, und zum ande­ren an der Geschichte. Stil und Inhalt pas­sen wun­der­bar zusam­men und bie­ten gro­ßen Unter­hal­tungs­wert. Teils ist der Text der­art absurd, dass einem ein Lachen – oder min­des­tens ein Schmun­zeln – ent­lockt wird.

„Bald war das ganze Haus voll Schlan­gen. Da saß die Frau mit ihrem Kind, und sie waren umge­ben von Schlan­gen. Wenn sie ins Bett gin­gen, waren da Schlan­gen, wenn sie in den Gar­ten gin­gen, waren da Schlan­gen, wenn sie am Tisch saßen und aßen, war der Tisch bedeckt mit Schlangen. […]“

„Von Men­schen und ande­ren Tieren“

Auch wenn ich nur drei Texte näher vor­ge­stellt habe, so sind alle ande­ren nicht weni­ger lesens­wert. Monika Hel­fer schrieb über „Cosima und ich“, Root Leeb hat sich mit „Meta­mor­pho­sen“ beschäf­tigt und der Her­aus­ge­ber der Antho­lo­gie, Rafik Schami, mit der „Augen­spra­che der Hunde“ und der „Ein­sam­keit“. Im Nach­wort ver­sucht die­ser, sich dem Ver­hält­nis zwi­schen Mensch und Tier anzu­nä­hern. Unter­teilt sind die unter­schied­li­chen The­men in Kapi­tel, die mit ins­ge­samt acht Far­ben beti­telt sind.

Rafik Schami erzählt eine alte ara­bi­sche, vor­is­la­mi­sche Geschichte nach, wie Gott die Lebens­dauer der Tiere bestimmte und den Men­schen all jene Jahre gab, die die Tiere nicht haben woll­ten. Mit die­ser Geschichte zeigt er, wie viel der Mensch vom Tier in sich hat. In wei­te­ren Kapi­teln geht er unter ande­rem den Fra­gen nach: Was ist ein Tier? Wel­che Rechte haben Tiere? Wie wer­den die Tiere in der Lite­ra­tur dar­ge­stellt? Warum wer­den bestimmte Tier­ar­ten (wie Hunde und Kat­zen) bes­ser behan­delt als andere? Und warum schrei­ben die Men­schen Tie­ren Eigen­schaf­ten (wie „frech wie ein Dachs“, „mutig und gefähr­lich wie ein Löwe“) zu?

„Die drei klügs­ten Säu­ge­tiere, die Ratte, der Affe und das Schwein, beset­zen die unterste Lei­ter­stufe der Ernied­ri­gung durch Schimpf­wör­ter. Hier ent­larvt sich der Mensch. Und in der Umkeh­rung dich­ten wir Tie­ren ober­fläch­lich mensch­li­che Eigen­schaf­ten wie Treue, List, Ver­lo­gen­heit, Gefrä­ßig­keit, Jäh­zorn und Schüch­tern­heit an.“

„Tiere“ ist eine beein­dru­ckende Antho­lo­gie mit viel­schich­ti­gen Kurz­ge­schich­ten, die auf unter­schied­li­che Art und Weise das Thema Tiere beleuch­ten. Ganz neben­bei wer­den ethi­sche Fra­gen ange­ris­sen, die – vor allem durch das Nach­wort – zum Wei­ter­den­ken anre­gen. Und am Ende der Lek­türe ist der Titel „Tiere“ auf ein­mal doch nicht mehr so all­ge­mein und platt, son­dern tref­fend. Denn durch die Geschich­ten zeich­net sich eine bunte Col­lage aus Bedeu­tun­gen, Bil­dern und Gedan­ken ab, die in einem ein­zi­gen Begriff gebün­delt wird.

Tiere. Rafik Schami, Franz Hoh­ler, Monika Hel­fer, Root Leeb, Michael Köhl­meier, Nataša Dragnić. ars vivendi. 2016.

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1 comment

Schmerzliche, unerfüllte, utopische Sehnsucht – Bücherstadt Kurier 20. Februar 2019 - 19:52

[…] der letz­ten Antho­lo­gie zum Thema „Tiere“, geht es im aktu­el­len Band nun um ein Gefühl, das sich einer kla­ren Definition […]

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