Der alte König in seinem Exil

by Bücherstädterin Silvia

„Gleich­zei­tig ist Alz­hei­mer ein Sinn­bild für den Zustand unse­rer Gesell­schaft. Der Über­blick ist ver­lo­ren­ge­gan­gen, das ver­füg­bare Wis­sen nicht mehr über­schau­bar, pau­sen­lose Neue­run­gen erzeu­gen Ori­en­tie­rungs­pro­bleme und Zukunfts­ängste. Von Alz­hei­mer reden heißt, von der Krank­heit des Jahr­hun­derts zu reden. Durch Zufall ist das Leben des Vaters sym­pto­ma­tisch für diese Entwicklung. [...]“

Obwohl die Ver­än­de­run­gen im Vater, August Gei­ger, nach sei­ner Pen­sio­nie­rung nicht unbe­merkt blei­ben, denkt da noch nie­mand aus der Fami­lie an eine Krank­heit. Man schiebt es auf sei­nen Cha­rak­ter, das Eigen­bröt­le­ri­sche sei schon immer typisch für ihn gewe­sen. Auch die Tat­sa­che, dass seine Frau ihn nach drei­ßig Jah­ren Ehe ver­lässt, dient als Mit­ver­ant­wort­li­che für seine „Aus­set­zer“: Der Vater gibt nach und nach alle Ver­ant­wor­tung ab, bringt vie­les durch­ein­an­der, scheint auf sein Umfeld immer weni­ger Rück­sicht zu neh­men und ist mit All­täg­li­chem plötz­lich über­for­dert. Seine Kin­der ärgern sich, sie ermah­nen ihn, doch beide Sei­ten füh­len sich unverstanden.

Erst Jahre spä­ter kommt es dann zur „Ein­sicht“; die Dia­gnose „Alz­hei­mer“, das Wis­sen, womit man es zu tun hat, ist für alle eine enorme Erleich­te­rung, doch gleich­zei­tig löst es auch Reue und Bedau­ern aus:

„Die Ein­sicht in den wah­ren Sach­ver­halt bedeu­tete für alle eine Erleich­te­rung. Jetzt gab es für das Chaos der zurück­lie­gen­den Jahre eine Erklä­rung, die wir akzep­tie­ren konn­ten, wir fühl­ten uns nicht mehr so am Boden zer­stört. Nur die Ein­sicht, dass wir zu viel Zeit damit ver­geu­det hat­ten, gegen ein Phan­tom anzu­kämp­fen, war bit­ter – Zeit, die wir tau­send­mal sinn­vol­ler hät­ten nut­zen sol­len. Wenn wir klü­ger, auf­merk­sa­mer und inter­es­sier­ter gewe­sen wären, hät­ten wir nicht nur dem Vater, son­dern auch uns sel­ber vie­les erspart, und vor allem hät­ten wir bes­ser auf ihn auf­pas­sen und noch rasch einige Fra­gen stel­len können.“

Doch auch ab dem Moment, als man die Ver­än­de­rung benen­nen kann, bleibt es span­nend. Die Demenz ver­läuft und zeigt sich bei jedem anders. Bei August Gei­ger ist es vor allem die Suche nach dem „Zuhause“, nach Gebor­gen­heit und einem Ort, wo er hin­ge­hört. Nach und nach „ver­lernt“ er vie­les: Er erkennt sein eige­nes Haus nicht mehr und sitzt vor dem Brot, ohne zu wis­sen, was er damit tun soll. Doch gleich­zei­tig prä­sen­tiert der Vater sei­nem Umfeld auch eine neue, ori­gi­nelle Seite: So wird er in vie­len Momen­ten zum Schöp­fer krea­ti­ver Wort­spiele und erstaun­lich durch­dach­ter und inspi­rie­ren­der Aussagen.

Arno Gei­ger bie­tet mit die­ser Geschichte einen ein­ma­li­gen und per­sön­li­chen Ein­blick in das Zusam­men­le­ben mit einem Demen­ten. Die Schil­de­run­gen der fami­liä­ren Sze­nen, die oft so fern sind von jedem „All­tag“, wer­den tref­fend ergänzt durch Aus­züge aus Gesprä­chen mit dem Vater. Abge­run­det wird das Gesamt­bild durch Ein­bli­cke in die Fami­li­en­ge­schichte der Gei­gers: jene des Vaters, aber auch jene des Groß­va­ters, der eben­falls schon dement war.

Im Hör­buch ist der klare und sehr per­sön­li­che Schreib­stil des Autors, Arno Gei­ger, ideal kom­bi­niert mit der sehr ange­neh­men, zum Mit­fie­bern anre­gen­den Stimme des Spre­chers, Mat­thias Brandt. So wer­den die Zuhö­ren­den mal zum Schmun­zeln, mal zum Nach­den­ken, ab und zu auch zum Inne­hal­ten ange­regt. Es ist eine sehr berüh­rende Geschichte über eine der vie­len Sei­ten des Lebens, die aber nicht weni­ger lebens­wert ist, son­dern ledig­lich andere Auf­ga­ben stellt, dafür aber auch andere Chan­cen bietet.

Vers­e­flüs­te­rin Silvia

Der alte König in sei­nem Exil. Arno Gei­ger. Spre­cher: Mat­thias Brandt. Hör­buch Ham­burg. 2015.

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0 comment

Zwischenzeilenverstecker Marco 28. September 2015 - 13:31

Ich hatte die­ses Hör­buch mal von mei­nen Kol­le­gen geschenkt bekom­men und kann es eben­falls nur emp­feh­len. Der Weg von der Unwis­sen­heit über das lang­same Ver­ste­hen bis hin zum etwas ande­ren Umgang mit der Krank­heit ist sehr nach­emp­find­bar beschrie­ben. Die Geschichte wirkt umso mehr, da sie auf wah­ren Tat­sa­chen beruht.

Klare Emp­feh­lung, auch von mir.

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