Der erweiterte Literaturbegriff wird salonfähig

by Bücherstadt Kurier

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Was für eine Schlag­zeile: Bob Dylan erhält den Lite­ra­tur­no­bel­preis! Das könnte direkt aus einem Mär­chen­buch für Jour­na­lis­ten stam­men. Dies­mal aller­dings ist es Rea­li­tät und die schreibt ja bekannt­lich die bes­ten Geschich­ten. Also ran an die Schreib­ma­schine! Diese Gele­gen­heit lässt sich auch der Bücher­stadt Kurier nicht entgehen!

Es ist gut vor­stell­bar, dass sich nun einige Ver­tre­ter und Ver­fech­ter der soge­nann­ten hohen Lite­ra­tur blau ärgern. Schließ­lich ist Bob Dylan kein Autor. Schon gar kei­ner von tief­schür­fen­den Gesell­schafts­ro­ma­nen. Lie­der sind doch keine Lite­ra­tur! Oder doch?
Was ist das denn eigent­lich, diese Lite­ra­tur? Ein zusam­men­hän­gen­der Text von – sagen wir – min­des­tens drei Sei­ten? Etwas, das zwi­schen zwei Buch­de­ckel passt? Aber durch diese Lite­ra­tur­de­fi­ni­tion wür­den sowohl sehr kurze Kurz­ge­schich­ten sowie Thea­ter­stü­cke und Gedichte raus­fal­len. Aber das ist, wie wir alle aus der Schule wis­sen, ein­deu­tig Literatur!
Wor­aus besteht nun ein Lied? Noten natür­lich. Und – sofern es kein rei­nes Instru­men­tal­stück ist – dem Text. Geschrie­be­nes Wort. Meist auch Wör­ter, die in Zusam­men­hang zuein­an­der ste­hen, einen Sinn erge­ben und nicht sel­ten sogar eine Geschichte erzäh­len. Im Prin­zip also eine Art Gedicht. Manch­mal auch gereimt, oft­mals nicht, aber auf jeden Fall mit Rhyth­mus und Beto­nung. (Kom­men da Erin­ne­run­gen an die Lyrik­ein­heit im Schul­un­ter­richt auf?)
Im his­to­ri­schen Kon­text gese­hen ist es auch ver­wun­der­lich, dass wir zwi­schen Tex­ten zum Sin­gen und Tex­ten zum Lesen so strikt unter­schei­den. In Zei­ten, als es weder Inter­net, Tele­fon, Fern­se­hen, ja nicht ein­mal Zei­tung gab, Prä-Buch­druck also, war es Gang und Gäbe Geschich­ten vor­zu­tra­gen. Aus­wen­dig ver­steht sich. Und damit sich die Bar­den die Texte leich­ter mer­ken konn­ten, wurde gereimt. Und auch gesun­gen. Mit jedem neuen Medium, das ent­wi­ckelt wurde, nahm das dich­tende, sin­gende Vor­tra­gen ab.
Lied­texte als Lite­ra­tur zu betrach­ten, ist daher eigent­lich gar nicht abwe­gig. Über­ra­schend ist bloß, dass aus­ge­rech­net eine alt­ein­ge­ses­sene Instanz wie das Nobel­preis­ko­mi­tee beschließt, das all­ge­mein gebräuch­li­che Ver­ständ­nis des Begriffs Lite­ra­tur zu erweitern.
Über die Aus­wahl des/der Preis­trä­ge­rIn wird ohne­hin jedes Jahr im Nach­hin­ein dis­ku­tiert. Warum nicht diese, warum nicht jener? Auf der „War­te­liste“ ste­hen viele AutorIn­nen, die Jahr um Jahr erneut nicht aus­ge­wählt wer­den. Ob sie nun von einem der Ihren „über­holt“ wer­den oder von einem Musi­ker ist da doch eher nebensächlich.
Bob Dyl­ans Musik trifft nicht jeden Geschmack. Auch seine Texte wer­den nicht allen gefal­len. Aber wel­ches Gedicht, wel­cher Roman, wel­ches Thea­ter­stück gefällt schon allen Men­schen? Daher ist die Ver­gabe von Lite­ra­tur­prei­sen und ande­ren Kunst­aus­zeich­nun­gen ja auch so sub­jek­tiv. Wes­halb der Sinn sol­cher­lei Aus­zeich­nun­gen ebenso häu­fig ange­zwei­felt wie ver­tei­digt wird.
Die Begrün­dung des Komi­tees für seine Ent­schei­dung liegt vor allem in Dyl­ans lang­jäh­ri­gem und inten­si­vem Werk, mit dem er nicht nur die US-Ame­ri­ka­ni­sche Musik­welt beein­flusst hat. Seine viel­fäl­ti­gen Ver­weise auf Romane, antike Sagen und ähn­li­ches in sei­nen Song­tex­ten wur­den sicher­lich auch berücksichtigt.

Den Lite­ra­tur­no­bel­preis einem Musi­ker zu ver­lei­hen, stellt sich dem typisch schu­lisch-aka­de­mi­schen Lite­ra­tur­be­griff ent­ge­gen. Das ist inter­es­sant und begrü­ßens­wert. Denn womit könnte ein Lite­ra­tur­preis bes­ser sei­nen Zweck erfül­len als damit, eine Dis­kus­sion dar­über anzu­re­gen, was Lite­ra­tur ist?

Und übri­gens: Herz­li­chen Glück­wünsch, Mr. Dylan!

Zei­len­schwim­me­rin Ronja
Bild: Worte­we­be­rin Annika

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2 comments

Erzähldetektivin Annette 17. Oktober 2016 - 0:06

Ich finde Dyl­ans Texte groß­ar­tig! Man­che Lie­der sind nicht auf den ers­ten Blick zu ver­ste­hen und bie­ten Raum für Inter­pre­ta­tio­nen (All Along the Watch­tower). Andere Stü­cke erzäh­len eine klare Geschichte (Hur­ri­cane). Außer­dem hat er doch kürz­lich den ers­ten Teil sei­ner Memoi­ren ver­öf­fent­licht, die hoch gelobt wur­den, wenn ich mich recht erin­nere. So abwe­gig ist die Ent­schei­dung also nicht – und ich stimme Ronja zu: Zu Begrü­ßen ist sie allemal!

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Satzhüterin Pia 17. Oktober 2016 - 13:08

Schö­ner Text, Ronja! Ich find’s auch ziem­lich span­nend, dass der Begriff „Lite­ra­tur“ end­lich mal erwei­tert wurde. Auf der Welt wird sowieso zu vie­les in enge Sche­mata gezwängt...
Jetzt bin ich aber mal gespannt, ob wir auch in Zukunft Song­wri­ter in die­ser Kate­go­rie der Nobel­preise fin­den werden 🙂

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