Der gefallene Engel

by Bücherstadt Kurier

Der gefallene Engel

oder:
„Von Zeit zu Zeit seh‘ ich den Alten gern“ (*)

Gries­grä­mig starrte ich aus dem Fens­ter. Ich wusste nicht, was in mich gefah­ren war, doch schon seit dem heu­ti­gen Mor­gen fühlte ich mich so. Unwohl, genervt, fehl am Platz. Ich, der ansons­ten in sei­nem Job regel­recht auf­ging: die Macht, den Zorn und die Wut spü­ren, Angst und Schre­cken ver­brei­ten, fies und gemein sein. Um es mit den Wor­ten die­ses Schrei­ber­lings, die­ses …. „Men­schen“ zu sagen (übri­gens ein Ter­mi­nus, den ich nur mit den Fin­ger­spit­zen anfasse): „Ich bin der Geist, der stets ver­neint. Denn alles was ent­steht, ist wert, dass es zugrunde geht. Drum bes­ser wär’s, dass nichts ent­stünde. So ist denn alles, was ihr Sünde, Zer­stö­rung, kurz das Böse nennt, mein eigent­li­ches Element.“ (*)

„M....m....Meister?“, kam es stot­ternd von hin­ter mir. Fuchs­teu­fels­wild fuhr ich herum. Wer war so bescheu­ert, mich zu stö­ren, wenn ich in einer mei­ner Lau­nen war? Ich wollte schreien, doch offen­bar reichte allein der Anblick mei­ner Fun­ken sprü­hen­den Augen aus, um den Stö­ren­fried in die Flucht zu schlagen.
Zufrie­den mit mir selbst wandte ich mich wie­der dem Fens­ter und damit auch mei­nem inne­ren Mono­log zu. Was war die­ses Gefühl? Es erin­nerte mich irgend­wie an letz­tes Jahr, wo es mir etwa zur sel­ben Zeit ähn­lich ergan­gen war. Grrr, es machte mich ganz wahnsinnig!!
Ich beschloss, mich ein wenig abzu­len­ken und mei­nem abso­lu­ten Lieb­lings-Hobby nach­zu­ge­hen: Ich würde einen Aus­flug zur Erde machen. Viel­leicht fand sich ja einer die­ser „Men­schen“, der dumm genug war, mir seine Seele zu verkaufen.

Als ich die Erde betrat, schneite es. Natür­lich! Und ich hatte schon gedacht, meine Laune könne nicht noch schlech­ter wer­den. Bah! Ich hasste Schnee!! Und über­haupt fand ich den gan­zen Win­ter, ins­be­son­dere die Weih­nachts­zeit absto­ßend. Ich war Feuer gewöhnt, Hitze, Gebor­gen­heit. Und nicht die­ses nasse, kalte Etwas.
Knur­rend schlug ich mei­nen Man­tel­kra­gen hoch und steu­erte ziel­stre­big das nächst­ge­le­gene Café an. In einer Ecke, etwas abseits, saß ein etwas älte­rer Mann, zei­tungs­le­send, Tee trin­kend, offen­bar ohne jeg­li­che Gesell­schaft. „Eine Her­aus­for­de­rung wahr­schein­lich, aber mach­bar“, dachte ich mir, teuf­lisch grin­send. Und, eine Unschulds­miene auf­set­zend, trat ich an den Alten heran.
„Ich setze mich zu Ihnen?“ Zuge­ge­ben, Höf­lich­keit war nicht meine starke Seite, aber ich hielt auch nicht allzu viel davon. Der Alte schien über­rascht zu sein, aber nicht erschro­cken. Aus sei­nem Grin­sen wurde ich nicht wirk­lich schlau, doch es hielt nur einen Moment an; dann meinte er, auf den Stuhl ihm gegen­über deu­tend: „Bitte. Seien Sie mein Gast.“
Ich setzte mich. Augen­blick­lich fal­tete er die Zei­tung zusam­men und legte sie bei­seite. Er wid­mete sich sei­nem Tee und sah sich ein wenig um. Offen­bar wollte er höf­lich sein. Men­schen...! Inner­lich ver­drehte ich die Augen. Was für eine abson­der­li­che Schöp­fung! Da merkte ich, dass mich der Alte ansah. „Ver­zei­hen Sie bitte, wenn ich Sie so anstarre“, meinte er ent­schul­di­gend. „Es ist nur so, Sie schauen so aus, als hät­ten Sie etwas auf dem Herzen.“

Nor­ma­ler­weise hätte ich dem wohl ein „Das geht Sie gar nichts an“ oder Ähn­li­ches ent­ge­gen geschleu­dert, aber irgend­et­was an die­sem alten Mann hielt mich davon ab. Sollte ich mit ihm dar­über reden, über das Gefühl? Ich war schon meist ziem­lich ein­sam dort, wo ich lebte. Ich hatte schon mehr­mals mit dem Gedan­ken gespielt, mit jeman­dem zu reden, aber es war nun mal nicht so, dass es in der Hölle beson­ders viele Psy­cho­lo­gen gab. Zumin­dest nicht sol­che, mit denen ich reden wollte. Viel­leicht war das also die per­fekte Gelegenheit.
„Na ja, ich fühle mich heute irgend­wie selt­sam. Anders als an ande­ren Tagen“, begann ich.
„Wie füh­len Sie sich denn?“, fragte der Alte schein­bar inter­es­siert nach. „Viel­leicht kann ich Ihnen ja helfen.“
„Ich bin nicht wirk­lich gut in die­sem Gefühls-Erklä­rungs-Dings­bums“, sträubte ich mich.
„Ver­su­chen Sie’s“, ermun­terte er mich.
„Also... nor­ma­ler­weise habe ich nur mei­nen Beruf im Kopf; er for­dert wirk­lich 110 Pro­zent mei­ner Auf­merk­sam­keit. Und ich liebe mei­nen Job, aber so was von! Doch jedes Jahr zu die­ser Zeit fühle ich mich so... anders. Meine Gedan­ken drif­ten dau­ernd in die Ferne ab, ich kann mich nicht kon­zen­trie­ren. Es ist so, als ob etwas falsch wäre; als wäre ich Teil eines unvoll­stän­di­gen Gan­zen. Als würde ein Teil von mir feh­len.“ Aus sei­nem Lächeln schloss ich, dass ich offen­bar rhe­to­risch nicht ganz so unbe­gabt war, wie ich manch­mal glaubte.
„Da, wo ich her­komme, nennt man die­ses Gefühl ‚ver­mis­sen‘“, meinte der Alte. „Könnte das denn zutref­fen? Dass Sie jeman­den vermissen?“
„Ja, kann das sein?“, fragte ich mich selbst. Zunächst sträubte ich mich gegen die­sen Gedan­ken. Aber war es wirk­lich so abwe­gig? Ich erin­nerte mich an eine Zeit, in der ich mich noch nicht so gefühlt hatte. Das war damals gewe­sen, noch vor mei­nem... Umzug. Vor mei­ner beruf­li­chen Neu­ori­en­tie­rung. Doch allein der Gedanke an diese längst ver­gan­gene Zeit machte das Gefühl schlim­mer. Konnte es tat­säch­lich sein, dass ich ihn ver­misste? Dass ich Gott, mei­nen Ex-bes­ten-Freund, ver­misste? Diese Ein­sicht, dass es mir tat­säch­lich mög­lich war, etwas der­art Mensch­li­ches zu emp­fin­den, regte mich nicht ein­mal son­der­lich auf. Es war eine völ­lig neue Seite, die ich da an mir ent­deckte. Oder viel­leicht eine alte, die ich ver­ges­sen hatte.
„Tut mir Leid, wenn ich zu neu­gie­rig war“, ent­schul­digte sich mein Gegen­über schon wie­der und riss mich damit aus mei­nen Gedan­ken. „Ich lasse Sie jetzt in Ruhe.“ Er machte Anstal­ten aufzustehen.
„Nein! Ich... blei­ben Sie doch“, bat ich. „Geht es denn wie­der vor­bei, die­ses Gefühl?“
„Wenn Ihnen die­ser Jemand sehr nahe stand, dann muss ich Sie lei­der ent­täu­schen“, kam die Ant­wort. „Ich zumin­dest habe diese Erfah­rung gemacht... War es denn ein Abschied für immer?“
„Ich weiß nicht; kann schon sein“, erwi­derte ich zer­streut. „Ich hoffe nicht...“ Nach­denk­lich starrte ich aus dem Fens­ter; konnte dabei aber nicht umhin zu bemer­ken, dass der Alte lächelte. Er schien sich über irgend­et­was zu freuen, doch ich war zu sehr mit mir selbst beschäf­tigt, um näher dar­auf ein­zu­ge­hen. Außer­dem hatte ich so lang­sam genug von die­sem Gefühls-Erin­ne­rungs-Trip. Immer­hin hatte ich einen Ruf zu verlieren!
Jetzt wollte ich auch mal wie­der mei­nen Spaß haben und beschloss, den Alten aus­zu­trick­sen. Dass er mir gerade noch ziem­lich sym­pa­thisch gewe­sen war, hielt mich von mei­nen fins­te­ren Machen­schaf­ten nicht ab; ich war nun mal der, der ich war, und kannte weder Mit­leid noch Güte.
„Es gibt doch sicher etwas, das Sie vom Leben wol­len, aber noch nicht haben, oder?“, wech­selte ich also das Thema.
„Ja, da wäre tat­säch­lich etwas...“ Der Alte war offen­bar leich­ter zu haben, als ich gedacht hatte. „Ich würde mich gerne mit einem guten, alten Freund aus­söh­nen, mit dem ich vor lan­ger Zeit gebro­chen habe.“
„Was sagen Sie zu fol­gen­dem Deal: Ich will Ihnen in die­sem Leben jeg­li­chen Dienst erwei­sen; Sie wer­den mir dafür das­selbe im nächs­ten Leben tun“, unter­brei­tete ich mein Ange­bot. „Ich könnte Ihnen auch einen Jugend­trunk anbie­ten, um Ihr Leben zu ver­län­gern und dies Ange­bot für Sie lohn­rei­cher zu machen...“
„Ein­ver­stan­den!“, meinte der Alte ohne lange nach­zu­den­ken, sodass ich ganz über­rascht war – im posi­ti­ven Sinne. „Aber Sie, ver­söh­nen Sie sich mit dem­je­ni­gen, den Sie ver­mis­sen. Sonst ergeht es Ihnen wie mir und Sie wer­den älter und älter ohne Aus­sicht dar­auf, alte Strei­tig­kei­ten bei­le­gen zu kön­nen. Machen Sie nicht den­sel­ben Feh­ler wie ich; war­ten Sie nicht zu lange. Ich bitte Sie.“

Ohne eine Reak­tion mei­ner­seits abzu­war­ten nahm er mir den Ver­trag aus der Hand und unter­schrieb. Dann erhob er sich, legte mir zum Abschied eine Hand auf die Schul­ter und wünschte mir „Viel Glück und Alles Gute“. Und dann war er auch schon ver­schwun­den, noch bevor ich irgend­et­was tun oder sagen konnte. Er wusste ja nicht mal, wie er mich her­bei­ru­fen konnte...
Wie hieß der Alte über­haupt? Als ich sah, was er unter den Ver­trag gesetzt hatte, hielt ich instink­tiv die Luft an:

Nein, das konnte nicht sein. Das war nicht mög­lich. Der Alte konnte unmög­lich... Nein, auf kei­nen Fall!
Die­ses Zei­chen, ich hatte es schon so lange nicht mehr gese­hen. Es stammte aus einer ande­ren Zeit. Und es war nicht nur irgend­ein Zei­chen, es war mei­nes. Eine Hand, die ein Licht trägt. lux + ferre = der Licht­trä­ger = Luzi­fer. Ich.
Außer mir hatte nur ein ein­zi­ges Wesen die­ses Zei­chen jemals gekannt: mein Ex-bes­ter-Freund, Gott.

(*) … aus Goe­thes „Faust I“

Sil­via

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