Der längste Tag des Jahres

by Zeichensetzerin Alexa

Wie lang einem der Tag vor­kom­men kann, wenn man vom Tod eines Fami­li­en­an­ge­hö­ri­gen erfährt, zeigt Tanja Dückers in ihrem Roman „Der längste Tag des Jah­res“. Ein­dring­lich erzählt sie aus der Sicht von fünf Betei­lig­ten, die unter­schied­li­cher nicht sein könn­ten. Was sie ver­bin­det, ist die Trauer um den ver­stor­be­nen Vater. – Von Zei­chen­set­ze­rin Alexa

„Wie oft hatte Nana das Gefühl gehabt, ihr Leben bliebe ein­fach ste­hen. Wochen, Monate, gleich­för­mig wie Hoch­ebe­nen in den Anden – oder, pro­sai­scher: wie eine ewige War­te­schleife. Die­ses Gefühl, daß man sich jeden Zen­ti­me­ter Vor­wärts­kom­men erkämp­fen muß, jeder Schritt, jede Ver­än­de­rung einem schwer­fällt – und dann diese unglaub­li­che Geschwin­dig­keit, mit der alles auf den Kopf gestellt wird!“ (S. 14/15)

Als Nana am längs­ten Tag des Jah­res den Tele­fon­hö­rer abnimmt und erfährt, dass der Vater ihres Man­nes gestor­ben ist, weiß sie nicht, wie sie sich ver­hal­ten soll. Wie soll sie ihm gegen­über­tre­ten? Was sagen? Es ist, als sei die Zeit ste­hen geblie­ben, erfasst von einer so erdrü­cken­den Stille, dass diese Situa­tion unna­tür­lich erscheint. Die stille Lang­sam­keit wird durch Dückers klare Spra­che noch unter­stützt, mehr noch: Sie schafft eine Atmo­sphäre, in der man das Gefühl hat, über dem Raum schwe­bend zu beob­ach­ten und in das Innen­le­ben der Prot­ago­nis­ten zu sehen. Die Per­spek­tive Nanas ver­mit­telt dabei so viel ehr­li­ches Mit­ge­fühl, dass man nicht anders kann, als es mit ihr zu tei­len. Wie nur ver­hielte man sich selbst in einer sol­chen Situation?

Nana ent­schei­det sich für die knappe Ver­sion: „Für dich! Deine Schwes­ter Syl­via!“ Als Ben­nie im Neben­raum ver­schwin­det, beginnt sie zu wei­nen, doch noch bevor er wie­der zurück­kommt, wischt sie sich die Trä­nen aus dem Gesicht, um Stärke zu zei­gen und für ihn da zu sein.

Die tiefe Trauer, die in die­ser Situa­tion ver­mit­telt wird, ist auch in den nächs­ten Geschich­ten auf­zu­fin­den, doch auf eine andere Art. Jeder der Prot­ago­nis­ten trau­ert auf seine Weise: Syl­via ver­schweigt ihrer Toch­ter und ihrem Mann den Tod ihres Vaters, weil sie nicht den rich­ti­gen Augen­blick dafür fin­det. Als sei nichts gewe­sen geht sie ihrem All­tag nach: eine Fahr­stunde mit ihrer Toch­ter, abends schläft sie mit ihrem Mann. Nur am Tele­fon, bei einem Gespräch mit ihrer Mut­ter, kann sie Trä­nen zulassen.

„Jetzt ist ein extrem ungüns­ti­ger Moment, um das Thema anzu­schnei­den, dachte sie. Wenn ich damit jetzt raus­rü­cke, denkt er, ich tue es, weil ich nicht mit ihm schla­fen will.“ (S. 51)

Anna ist da ganz anders gestrickt. Ihr ist klar, dass sie ihren Kin­dern und ihrem Mann erzäh­len muss, dass ihr Vater gestor­ben ist. Nur: wie sollte sie das anstel­len? Es ver­geht eine Weile, bis sie sich ein Herz fas­sen und dar­über reden kann. Bis dahin geht sie ihren Ver­pflich­tun­gen nach so gut sie kann. Ihr Bru­der David hin­ge­gen ver­sucht sich mit Jog­gen abzu­len­ken. Wäh­rend­des­sen trifft er auf Corinna, die sogleich fas­zi­niert von ihm ist. Als sie nicht ablässt, schläft David mit ihr aus Mit­leid. Und dann ist da noch Tho­mas, der mit sei­nem Sohn in der Wüste lebt, weit ent­fernt von sei­ner Fami­lie. Aus die­sem Grund erfährt Tho­mas auch erst spä­ter vom Tod des Vaters, so spät, dass er keine Mög­lich­keit mehr hat, Abschied zu nehmen.

„Plötz­lich schien es ihm voll­kom­men sinn­los, hier zu sein. Das Häß­li­che war ihm hei­lig gewe­sen, das Leere war nicht wirk­lich leer, son­dern ein­fach ein Raum für ihn sel­ber. Aus­ge­füllt mit sei­nen Gedan­ken und Träu­men. Nie war die Wüste leer gewe­sen.“ (S. 197)

Tanja Dückers, die bereits zahl­rei­che Sti­pen­dien und Preise erhal­ten hat, legt mit „Der längste Tag des Jah­res“ einen sehr ein­drück­li­chen Roman vor. Bemer­kens­wert erschafft sie fünf Per­spek­ti­ven, die das Leben der ein­zel­nen Prot­ago­nis­ten beleuch­ten, alle­samt indi­vi­du­ell und authen­tisch. Stets trifft sie mit ihrer kla­ren Spra­che den rich­ti­gen Ton, um sich auf die unter­schied­li­chen Prot­ago­nis­ten ein­las­sen zu kön­nen: emo­tio­nal, tief­sin­nig, ratio­nal. Jede Geschichte trägt nicht nur dazu bei, die Fami­li­en­ver­hält­nisse dar­zu­stel­len, son­dern auch unter­schwel­lig Wis­sen und Gedan­ken zu vermitteln.

Beson­ders fas­zi­nie­rend ist die Geschichte um Tho­mas, die auch die längste von allen dar­stellt: das Leben in der Wüste, zwi­schen Pyra­mi­den und unter den Sun People, die der Mei­nung sind, Geschlech­ter­un­ter­schei­dung sei „obso­let und unwich­tig“. Tho­mas‘ Geschichte lie­fert Fak­ten, stößt Gedan­ken an und lässt Fra­gen offen. Vor allem aber zeigt sie, dass Wis­sen begrenzt ist, wenn es um den Tod geht.

Der längste Tag des Jah­res. Tanja Dückers. Auf­bau. 2006. www​.tan​ja​du​eckers​.de

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