Der Leser als Allesforscher

by Zeichensetzerin Alexa

Hein­rich Stein­fests „Der Alles­for­scher“ ist ein ganz und gar unge­wöhn­lich fan­tas­ti­scher Roman. Erschie­nen ist er im März die­ses Jah­res im Piper Ver­lag und lan­dete Anfang Sep­tem­ber auf der Short­list des Deut­schen Buch­prei­ses. Zu Recht, meint Zei­chen­set­ze­rin Alexa.

Nach einem schwe­ren Unfall lan­det Six­ten Braun in einem Kran­ken­haus, wo er von der Ärz­tin Lana behan­delt wird. Er fühlt sich sofort zu ihr hin­ge­zo­gen und auch sie scheint nicht abge­neigt, sich näher ken­nen­zu­ler­nen. Als sie begin­nen sich zu tref­fen, kom­men sie sich auch kör­per­lich näher. Doch das Glück ist nicht von lan­ger Dauer, schließ­lich ist Six­ten ver­lobt und muss nach Hause zurück­keh­ren. Er ver­spricht Lana, die Ver­lo­bung auf­zu­lö­sen, alles für sie auf­zu­ge­ben, zu ihr zurück­zu­kom­men. Zu Hause ange­kom­men, kann er die Worte, die er auf dem Weg ein­ge­übt hat, jedoch nicht über die Lip­pen brin­gen. So kommt das eine zum nächs­ten – er hei­ra­tet seine Ver­lobte, wird in der Firma ihres Vaters ein­ge­stellt und führt ein Leben, das ihn auf Dauer unglück­lich macht. Nach zwei Jah­ren kommt die Schei­dung. Er hätte seine Frau nie wirk­lich geliebt, behaup­tet diese und sie gehen ver­schie­dene Wege. Nun, da Six­ten ein freier Mann ist, beginnt er nach Lana zu suchen und fin­det her­aus, dass sie tot ist.

Als eines Tages ein Anruf von einer Unbe­kann­ten kommt, ver­än­dert sich sein Leben schlag­ar­tig. Lana, so heißt es, hätte ein Kind zurück­ge­las­sen und nur er würde in Frage kom­men, der Vater zu sein. Er als Vater? Six­ten kann es erst nicht fas­sen, doch seine Liebe zu Lana ver­lei­tet ihn dazu, sich mit dem Kind zu tref­fen. Als Six­ten Simon sieht, weiß er jedoch, dass die­ses Kind nicht hätte von ihm sein kön­nen. Das Gesicht des Jun­gen hat näm­lich chi­ne­si­sche Züge. Und doch muss Six­ten wie­der an Lana den­ken – wer sollte sich sonst um ihren Sohn küm­mern, wenn nicht er? Simon wird adop­tiert und die eigent­li­che Geschichte des Romans beginnt.

Der Leser als Allesforscher

Wer oder was ist ein Alles­for­scher? In die­sem Roman fin­den sich Anspie­lun­gen auf Per­so­nen, die „alles erfor­schen“. Doch selbst der Leser wird plötz­lich zum Alles­for­scher. Die The­men­viel­falt lädt ein, sich in ver­schie­de­nen Berei­chen zu infor­mie­ren und zu hin­ter­fra­gen. So wer­den Gedan­ken zur Umwelt geäu­ßert, zur Gesell­schaft und Wis­sen­schaft. Die Situa­tion und der Cha­rak­ter Simons erfor­dern eine Aus­ein­an­der­set­zung mit den The­men Adop­tion und Inklu­sion. Nicht nur seine Lebens­be­din­gun­gen sind beson­ders, son­dern auch seine Fähigkeiten.

Er beweist sich in einer Welt, in der kei­ner seine Spra­che ver­steht, und zeigt, dass er dafür ganz andere Dinge beherrscht: Zeich­nen und Klet­tern. Simon ist der Beweis, dass eine Adop­tion posi­tiv ver­lau­fen und Inklu­sion funk­tio­nie­ren kann – auch wenn man wenig über Simons Schul­all­tag erfährt, scheint es keine Schwie­rig­kei­ten zu geben, denn Pro­bleme dies­be­züg­lich wer­den nicht geäu­ßert. Bewun­derns­wert ist an die­ser Stelle die Erzie­hung Six­tens und sei­ner neuen Part­ne­rin. Gemein­sam zei­gen sie, dass es nicht wich­tig ist, ob es das leib­li­che Kind ist oder nicht, viel­mehr spielt der Umgang mit­ein­an­der die ent­schei­dende Rolle.

Neben den sozia­len The­men wird die „Traum­welt“ erforscht. In die­ser begeg­net Six­ten sei­ner toten Schwes­ter, die ihn vor einer Gefahr bewah­ren will. Schon lange kann Six­ten nicht mehr ruhig schla­fen, Alp­träume suchen ihn heim, ver­hin­dern, dass er sich aus­ru­hen kann. Fan­ta­sie und Rea­li­tät ver­mi­schen sich. Die Hand­lung erscheint einem absurd, ver­rückt, unglaub­lich: Ein explo­die­ren­der Wal, ein Ertrin­ken­der in einem Klei­der­schrank, seine Schwes­ter, die Mes­ser um sich wirft…

Die Hör­buch-Ver­sion

Die Hör­buch-Ver­sion ist lei­der gekürzt, auf den Genuss der Geschichte kommt man aber trotz­dem. Mar­kus Boy­sens Stimme ist anfangs noch gewöh­nungs­be­dürf­tig, scheint sie doch etwas unpas­send zum Roman gewählt. Doch sobald man sich mit sei­ner Art vor­zu­le­sen ange­freun­det hat, kann man sich gänz­lich auf die Geschichte ein­las­sen. In stets schnel­lem Tempo, als hätte der Spre­cher viel zu sagen und nur begrenzt Zeit, erlebt man den Roman in einem wei­ten, bis zum Ende auf­recht gehal­te­nen Span­nungs­bo­gen. Es wirkt wie ein lan­ger Mara­thon, den man, sobald man erst dabei ist, nur ungern abbre­chen möchte.

„Der Alles­for­scher“ ist ein unge­wöhn­li­cher, lesens- und hörens­wer­ter Roman. Ob er als Sie­ger des Deut­schen Buch­prei­ses her­vor­geht, bleibt abzuwarten.

Der Alles­for­scher. Hein­rich Stein­fest. Spre­cher: Mar­kus Boy­sen. OSTER­WOLD­au­dio. 2014.

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