Der Schneesammler

by Bücherstadt Kurier

Nur von Wei­tem wehte der schwa­che Klang von Weih­nachts­mu­sik durch den Park. Lich­ter­ket­ten wan­den sich um die kah­len Bäume, doch sie waren aus­ge­schal­tet und ebenso leb­los wie die Land­schaft um sie herum. Das warme Ker­zen­licht, das in den Fens­tern der umlie­gen­den Häu­sern fla­ckerte, drang nicht bis hier­her. Eine ein­zelne Gestalt, ein dunk­ler Sche­ren­schnitt vor dem nacht­blauen Him­mel, harrte den­noch in der Kälte aus. Weiße Atem­wol­ken stie­gen vom Mund des Man­nes auf und ver­misch­ten sich mit den wir­beln­den Schnee­flo­cken um ihn herum. Er schau­felte Schnee; nicht um einen Weg frei­zu­hal­ten, son­dern mit­ten auf der Wiese. Er wollte die sau­bers­ten, gänz­lich unbe­rühr­ten Eis­kris­talle. Schau­fel um Schau­fel füllte er in große Plastiktüten.

Ein Pär­chen kam durch den Park geschlen­dert und warf ihm ver­wun­derte Bli­cke zu. Es war der erste Advent und schon ziem­lich spät – die Zeit, um auf dem Weih­nachts­markt Glüh­wein zu trin­ken oder zuhause bei Plätz­chen und hei­ßem Tee zusam­men­zu­sit­zen. Was suchte der Mann um diese Zeit allein im Park, und warum benahm er sich so selt­sam? Das Paar blieb nicht ste­hen, um es herauszufinden.

Inzwi­schen hatte der Mann seine Tüten gefüllt. In jeder Hand hielt er eine davon, wäh­rend er den klei­nen Park mit lan­gen Schrit­ten hin­ter sich ließ. Er hatte es nicht weit. Nur wenige Minu­ten spä­ter erreichte er das Kran­ken­haus, trat durch die Dreh­tü­ren und eilte durch die hell erleuch­tete Ein­gangs­halle. Es war warm, viel zu warm; er spürte bereits, wie sich das Gewicht in sei­nen Tüten zu ver­än­dern begann, als der Schnee schmolz. Er durfte keine Zeit ver­lie­ren. Jede Minute zählte. Er hatte es ihr versprochen.

Zum Glück waren die Kran­ken­haus­gänge um diese Uhr­zeit so gut wie leer. Gele­gent­lich begeg­nete er einer Schwes­ter, doch obwohl sie alle seine Schnee­tü­ten anstarr­ten, hielt ihn nie­mand auf. Sie kann­ten ihn hier. Vor einer Zim­mer­tür, die genauso aus­sah wie all die ande­ren ent­lang des lan­gen Gangs, kam der Mann zum Ste­hen. Für einen Moment schloss er die Augen und beschwor ein Lächeln her­auf. Dann klopfte er leise und trat ein.

Sie saß in ihrem Bett am Fens­ter und blickte durch das immer dich­ter wer­dende Schnee­trei­ben auf die Lich­ter der Stadt hin­aus. Es war dun­kel im Zim­mer, doch er konnte deut­lich die Kabel und Schläu­che erken­nen, die von ihrem klei­nen Kör­per zu den blin­ken­den, piep­sen­den Appa­ra­ten um sie herum ver­lie­fen. Sie schim­mer­ten schwach, wie von innen her­aus; unmög­lich zu über­se­hen oder zu igno­rie­ren. Das Lächeln auf sei­nem Gesicht schien ein­ge­fro­ren zu sein, doch er ließ nicht zu, dass es verschwand.

„Ich bin wie­der da“, sagte er leise. „Wie versprochen.“
Das Mäd­chen im Kran­ken­haus­bett wandte den Kopf. Die Kon­troll­lämp­chen der Appa­rate spie­gel­ten sich geis­ter­haft in ihren gro­ßen Kin­der­au­gen. Sie erwi­derte nichts, schaute ihn nur erwar­tungs­voll an. Er zog den Besu­cher­tisch an die Seite ihres Bet­tes, hob seine Tüten und stülpte sie um. Schnee rie­selte her­aus, teils schon halb geschmol­zen, aber teils auch noch in fei­nen, feder­leich­ten Flo­cken. Er bil­dete einen so hohen Hau­fen auf dem Tisch, dass das Mäd­chen bei­nahe dahin­ter ver­schwand. Den­noch sah der Mann ihr Lächeln, spürte es. Aus den Taschen sei­nes Man­tels zog er ein paar win­zi­ger, rot-orange gestreif­ter Woll­hand­schuhe und hielt sie sei­ner Toch­ter entgegen.
„Jetzt kannst du doch noch dei­nen Schnee­mann bauen.“

Marie-Helene Mittmann,
Die Gewin­ne­rin der Weihnachtsschreibaktion

Illus­tra­tion © Gesa

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