Der Struwwelpeter – wirklich veraltet?

by Geschichtenerzähler Adrian

Die­ses Kin­der­buch ist als Anlei­tung einer ver­al­te­ten Päd­ago­gik ver­schrien. Jedoch war es nie als sol­ches gedacht; ganz im Gegen­teil. Geschich­ten­er­zäh­ler Adrian hat sich mit dem berühmt-berüch­tig­ten Struw­wel­pe­ter aus­ein­an­der­ge­setzt und geguckt, was wirk­lich hin­ter die­sem Werk von Hein­rich Hoff­mann steckt.

Der Struw­wel­pe­ter, wer kennt ihn nicht? Ent­stan­den im Jahr 1844 durch den Arzt und Psych­ia­ter Dr. Hein­rich Hoff­mann, zeigt es in zehn humo­ris­ti­schen Gedich­ten und Geschich­ten was pas­siert, wenn Kin­der nicht auf ihre Eltern hören oder unvor­sich­tig sind. Die Kon­se­quen­zen rei­chen von patsch­nass wer­den, bis hin zum Ver­bren­nen durch das Spie­len mit Feuer.

Was bis vor eini­gen Jah­ren noch als Bei­spiel oder gar Unter­stüt­zung ver­al­te­ter Päd­ago­gik galt, soll ursprüng­lich eine Kari­ka­tur des­sen gewe­sen sein, was damals beim Thema Erzie­hung Gang und Gebe war – dies geht aus dem Nach­wort des Autors selbst her­vor. Dar­aus ist auch zu ent­neh­men, dass Dr. Hoff­mann – wel­cher Arzt in der Kin­der- und Jugend­psych­ia­trie war – diese Angst­päd­ago­gik ebenso anpran­gerte. Es erschwerte seine Arbeit als Kin­der­arzt wei­test­ge­hend, wenn Ärzte und Dok­to­ren von den Eltern als etwas Schlech­tes dar­ge­stellt wurden.

„Kind, wenn du zu viel davon isst, so kommt der Dok­tor und gibt dir bit­tere Arz­nei, oder setzt dir gar Blut­egel an!“ Die ver­ängs­ti­gen Kin­der lie­ßen sich dann kaum noch unter­su­chen. Wer noch nicht mit die­sem Werk ver­traut ist, oder seine Erin­ne­run­gen noch ein­mal auf­fri­schen will, der fin­det das kom­plette Buch als PDF-Datei hier.

Wirk­lich ver­al­tet oder doch noch aktuell?

Liest man sich einige Geschich­ten durch, so könnte man den­ken, dass sie immer noch eine gewisse Aktua­li­tät besit­zen. Allein das Gedicht um den „Hans-guck-in-die-Luft“ sollte bei vie­len die Bil­der von Men­schen ins Gedächt­nis rufen, wel­che unun­ter­bro­chen auf ihr Smart­phone star­ren. Allein die Blick­rich­tung ist anders. Eine bei­nah ver­gleich­bare Geschichte ist wohl die von den bei­den Poké­mon-GO-Spie­lern, wel­che durch die Ablen­kung sowie ihre Unacht­sam­keit, wohin sie lau­fen, eine Klippe hin­ab­stürz­ten. Diese bei­den tru­gen jedoch einen grö­ße­ren kör­per­li­chen Scha­den davon, als nur kom­plett durch­nässt zu werden.

Wo Hans wohl Sym­ptome für ADS – Auf­merk­sam­keits­de­fi­zit Syn­drom – zeigt, kann auch ein Laie erken­nen, dass der Prot­ago­nist aus dem Gedicht vom Zap­pel-Phil­ipp wohl mit ADHS – Auf­merk­sam­keits­de­fi­zit-hyper­ak­ti­vi­täts-Syn­drom – gestraft ist. Am Ende lan­det der Junge, der stän­dig am Tisch her­um­zap­pelt, samt Spei­sen unter der Tisch­de­cke. Da wünschte sich der Vater wohl auch eine Packung Rita­lin – zumin­dest ist es heute die Ant­wort vie­ler Ärzte auf ein Ver­hal­ten gleich dem Zappel-Philipp.

Teil­weise spielt Hoff­mann auch ein­fach mit Karma, wie in der Geschichte um den „bösen Frie­de­rich“ zu sehen ist. Die­ser prü­gelt auf alles ein, sei es die Mut­ter oder einen Hund. Wo die Mut­ter nach­gibt, rächt sich der Hund und beißt sei­nem Pei­ni­ger ins Bein. Wenn diese Vor­lage sich nicht per­fekt für ein Meme à la „Karma is a B****!“ eig­nen würde. Ein gestör­tes Aggres­si­ons­ver­hal­ten, wie es bei Frie­de­rich offen­sicht­lich ist, ist auch heute keine Sel­ten­heit, wie man etwa an Bei­spie­len von U‑Bahn-Schlä­gern sieht, wel­che schein­bar aus rei­ner Will­kür han­deln. Das Karma schlägt ebenso in „Die Geschichte vom wil­den Jäger“ zurück. Ein Jägers­mann will Hasen jagen gehen, doch als er sich zum Schla­fen unter einen Baum legt, klaut ein Hase die Flinte des Jägers und so wird der Jäger zum Gejagten.

Wo man eben­falls einen Ver­gleich zu aktu­el­len Lage sehen kann, ist in „Die trau­rige Geschichte mit dem Feu­er­zeug“ und dem wort­wört­li­chen Spiel mit dem Feuer. Hier spielt ein Mäd­chen mit Streich­höl­zern und trotz mehr­fa­cher War­nung sei­tens der Kat­zen – „Und Minz und Maunz die Kat­zen, erhe­ben ihre Tat­zen. Sie dro­hen mit den Pfo­ten: „Der Vater hat‘s ver­bo­ten. Miau! Mio! Miau! Mio! Lass ste­hen sonst brennst du lich­ter­loh“ – lässt das Kind von die­sem Spiel nicht ab und steckt sich selbst in Brand.

Viel­leicht sieht man es schon als banal an, doch bei Rot über die Ampel zu gehen, lässt einen sprich­wört­lich auch mit dem Feuer spie­len. Als klei­nes Kind wird einem immer wie­der gesagt, man solle nur bei Grün über die Ampel gehen und immer gut nach rechts und nach links gucken – ver­ständ­lich. Bei Rot gehen, hat der „Vater“ ver­bo­ten und es gibt auch viele „Minz“ und „Maunz“, wel­che die­ses Ver­hal­ten immer wie­der ver­ur­tei­len. Hört man nicht dar­auf, lie­fert man sich dem Schick­sal aus; geht das Streich­holz vor­her aus, oder brennt man lichterloh.

Ent­war­nung! … und ein Fazit

Nach all den recht zyni­schen Ver­glei­chen, könnte man jetzt bei­nah sagen: „Oh, der Struw­wel­pe­ter ist aktu­ell wie nie.“ Jedoch glaube ich nicht, dass er heute ebenso pola­ri­sie­ren würde wie damals. Er würde wohl eher durch seine Poli­ti­cal Incor­rect­ness auf­fal­len, als durch die Bei­spiele ver­al­te­ter Erziehungsmethoden.

Wie man an den oben genann­ten Bei­spie­len erken­nen kann, hat Dr. Hoff­mann einige der ihm aus dem Arbeits­all­tag bekann­ten Dia­gno­sen in seine Geschich­ten mit­ein­flie­ßen las­sen. Viele die­ser damals noch neuen und uner­forsch­ten Krank­hei­ten sind heute ein Teil unse­rer Gesell­schaft und kön­nen wei­test­ge­hend behan­delt wer­den – wie etwa ADS und ADHS. So würde eine Geschichte wie die des Zap­pel-Phil­ipp nie­man­den mehr wirk­lich scho­ckie­ren und der Hans-guck-in-die-Luft ginge zwi­schen all den exzes­si­ven Smart­phone-Nut­zern unter.

Der Struw­wel­pe­ter ist eine Schöp­fung sei­ner Zeit und ebenso das Auf­se­hen, wel­ches um ihn gemacht wurde – und noch wird. Er sollte nie als Erzie­hungs­hilfe fun­gie­ren. So sollte man ihn als das neh­men, was er ist: ein altes Bil­der­buch, wel­ches eher zum Betrach­ten und Dis­ku­tie­ren – dem Aus­ein­an­der­set­zen mit alter Päd­ago­gik und der dama­li­gen Genera­tion – ein­lädt und das lange vor der Zeit von Poli­ti­cal Cor­rect­ness und der all­wis­sen­den Medi­zin erschie­nen ist. Die lie­be­vol­len Zeich­nun­gen und die humo­ris­ti­sche Dicht­kunst sind nett anzu­se­hen und zu lesen, soll­ten jedoch nicht zu ernst genom­men wer­den. Jede Genera­tion hat seine Erzie­hungs­me­tho­den und viel­leicht wird die unsere aktu­elle in 150 Jah­ren als ebenso kon­fus und son­der­bar wahr­ge­nom­men, wie wir die sehen, die uns im Struw­wel­pe­ter gezeigt wird.

Illus­tra­tion (Kak­tus): Buch­stap­le­rin Maike

Ein Bei­trag zum Pro­jekt #lit­kin­der. Hier fin­det ihr alle Beiträge.

Der Struw­wel­pe­ter (1844). Dr. Hein­rich Hoff­mann. Lite­ra­ri­sche Anstalt (spä­ter: Rüt­ten & Loening). 

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Finstere (Zeit-)Reisen (Verlosung) – Bücherstadt Kurier 19. Juni 2017 - 21:18

[…] Aber was ist ei­gent­lich der Grund da­für, dass wir Kin­der­bü­cher so sehr lie­ben? Dar­auf hat si­cher­lich jede und je­der von uns eine an­de­re Ant­wort – San­dra hat ihre Grün­de er­läu­tert und ihre per­sön­li­chen Lieb­lings­bü­cher vor­ge­stellt. Ne­ben all die­sen Buch­emp­feh­lun­gen ist auch die Kin­der­buch­ver­fil­mung „Burg Schre­cken­stein” ge­rutscht, von der Er­zähl­de­tek­ti­vin An­net­te nicht gänz­lich über­zeugt war. Aber auch das kann pas­sie­ren: dass wir auf un­se­rer For­schungs­rei­se nicht nur Schö­nes und Emp­feh­lens­wer­tes ken­nen­ler­nen, son­dern auch Me­di­en, die wir eher hin­ter­fra­gen. Wie auch den Klas­si­ker „Der Struwwelpeter”. […]

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