Die Entdeckung der Fliehkraft

by Satzhüterin Pia

Der Autor Kai Weyand hat sein neu­es­tes Buch „Die Ent­de­ckung der Flieh­kraft“ für das Hör­buch selbst ein­ge­spro­chen – ein ruhi­ges, ein­fa­ches, aber tief­grün­di­ges Werk, des­sen Haupt­fi­gur Satz­hü­te­rin Pia ordent­lich Ner­ven gekos­tet hat. Warum das so war und warum das Hör­buch den­noch Stär­ken hat, ver­rät sie hier.

Karl Löf­fel­hans ist Mitte 30, hat ein gere­gel­tes und ins­ge­samt ziem­lich unauf­ge­reg­tes Leben, sieht man ein­mal von sei­nem Job als Deutsch­leh­rer im Knast ab. Er hat eine Frau, einen klei­nen Sohn, eine zufrie­den­stel­lende Arbeit und sogar noch ein wenig Zeit für sich, um Kaf­fee zu trin­ken und schöne Sätze vom Müns­ter­turm aus in die Welt segeln zu las­sen. An seine Schü­ler im Knast stellt Karl näm­lich gerne phi­lo­so­phi­sche Fra­gen, deren beste Ant­wor­ten er in die Welt ent­sen­det. In Papier­form, nicht im Inter­net. Karl fragt sie zum Bei­spiel: „Was macht ein Umwelt­amt?“ Einer der Schü­ler ant­wor­tet: „Ein Umwelt­amt macht nicht genug, denn es ist ein Amt.“

Irgend­wie ist Karl aber den­noch nicht glück­lich – zu viel hat sich zwi­schen ihm und sei­ner Frau Lydia ver­än­dert, seit ihr Sohn Linus auf der Welt ist. (Nein, in der Welt, das sei doch viel schö­ner, ein Mensch lebe doch lie­ber in der Welt, als auf ihr. In die­ser Art spin­nen sich Karls Gedan­ken­spiele durch das gesamte Hör­buch.) Irgendwo in Karl ist da der Wunsch nach Ver­än­de­rung. Und irgend­wann kommt diese Ver­än­de­rung – aber macht ihn das nun glücklicher?

„Ich bin jetzt hier und kann nicht woan­ders sein.“

Eines Tages auf dem Weg zur Arbeit macht Karl in sei­nem Stamm­café Halt, trinkt einen dop­pel­ten Espresso und beob­ach­tet eine Szene, in der ein Paar, etwa Mitte bis Ende 40, sich zum Abschied zärt­lich küsst. Er über­legt, sei­ner Frau eine Nach­richt zu schrei­ben. Doch statt­des­sen blät­tert er durch seine Kon­takte und bleibt an Karo­line Mer­lin­ger hän­gen. Sie hat­ten sich im Jahr zuvor bei einer lang­wei­li­gen Ver­lags­ver­an­stal­tung ken­nen gelernt, bei der von Kaf­fee bis Häpp­chen alles schlapp war, nur Karo­line hatte gestrahlt und auf Karls Nach­frage hin gemeint: „Ich bin jetzt hier und kann nicht woan­ders sein.“ Sich an die­sen Satz erin­nernd schreibt er ihr eine Mail. Dar­aus ent­wi­ckelt sich ein reger Aus­tausch vor allem phi­lo­so­phi­scher Art. Immer inten­si­ver wer­den die Gesprä­che – eine Affäre (rein geis­ti­ger Natur) entsteht.

Gleich­zei­tig wird ihm seine Fami­lie immer frem­der. In der Ehe ist aus gegen­sei­ti­gem Inter­esse Des­in­ter­esse und nicht sel­ten Genervt­heit gewor­den. Ihre Ansich­ten drif­ten immer wei­ter aus­ein­an­der, ein Bei­spiel: „Was Lydia als Unord­nung emp­fand, war für ihn ein Zei­chen für Leben.“ In ihrem All­tag gehen jedoch nicht nur ihre Ansich­ten aus­ein­an­der, son­dern sie begin­nen sich regel­recht aus­ein­an­der zu leben – durch den gesam­ten Text zieht sich dabei die Liebe zur deut­schen Spra­che und Gram­ma­tik des Protagonisten:

„Karl mochte es sehr, wenn sie ihr Zusam­men­le­ben gram­ma­ti­ka­lisch in Ein­zel­teile zer­leg­ten und wenn sie am Ende trotz allem einen Satz bauen konn­ten, der Sub­jekt, Prä­di­kat und Pro­no­men ent­hielt und unge­fähr so lau­tete: ‚Wir lie­ben uns.‘ Oder zumin­dest: ‚Wir mögen uns.‘ Aber Karl kam es mitt­ler­weile so vor, dass sie in letz­ter Zeit ver­mehrt Sätze bil­de­ten, die aus dem Wir ein Ich mach­ten, aus dem Lie­ben ein Habe und das Pro­no­men Uns in das Adverb Recht verwandelten.“

Sei­nen pfle­ge­be­dürf­ti­gen Vater besucht er nur aus Pflicht­be­wusst­sein, sie haben sich schon lange nichts mehr zu sagen. Und schließ­lich wird sein Ver­hal­ten in weni­gen Schrit­ten, ja, man kann sagen: (selbst)zerstörerisch.

„Wie kann ich erken­nen, dass ich mich über das Rich­tige aufrege?“

Neben vie­len Din­gen, an denen Karl etwas aus­zu­set­zen – oder zu denen er zumin­dest eine kon­krete Mei­nung – hat, sind ihm Tram­po­line mit Sicher­heits­netz ein beson­de­rer Dorn im Auge:

„Der Anschein der Wahr­heit lau­tete: Kin­der dür­fen sprin­gen und toben und sind trotz­dem sicher und behü­tet. Aber die eigent­li­che Wahr­heit hieß: Kin­der sind Gefan­gene auf vier Qua­drat­me­tern und die Ent­de­ckung der Welt darf nur in der Ver­ti­ka­len stattfinden.“

Ohne zu viel vor­weg­neh­men zu wol­len: Diese Abnei­gung gegen etwas letzt­end­lich so Bana­les wie ein Tram­po­lin mit Sicher­heits­netz, sollte sich am Ende noch rächen… Denn diese Sicher­heitsnetze, so wird sich her­aus­stel­len, haben ein­deu­tig ihre Daseinsberechtigung.

The­men, die die Welt bedeuten

Die schlichte Geschichte greift tief­grün­dige The­men in vie­len Facet­ten auf. Vor­nean der Wunsch nach Ver­än­de­rung, der Karl zum Bei­spiel dazu treibt, sich mit Karo­line in Ver­bin­dung zu set­zen. Freund­schaft und Liebe wer­den the­ma­ti­siert, auch der Tod bekommt sei­nen Part. Und beson­ders spie­len auch die Schuld und die Ver­ant­wor­tung eine Rolle in Karls Leben. Über­all schwingt dabei Phi­lo­so­phi­sches mit, zieht sich durch sei­nen Deutsch­un­ter­richt, der hin und wie­der beleuch­tet wird, aber vor allem zeigt es sich in sei­nen Nach­rich­ten mit Karoline.

Es gibt nicht viele Figu­ren in die­ser Geschichte. Dafür sind diese plas­tisch, ein­dring­lich und auch dras­tisch, dabei (mir) jedoch nicht alle immer sym­pa­thisch. Her­vor ste­chen der beson­dere Nach­bars­junge Homer und seine Mut­ter Frau Kirchei­sen. Immer, wenn Karl Homer und seine Mut­ter trifft, freut er sich und der Junge (allem Anschein nach) mit dem Down Syn­drom stellt ihm eine sei­ner schwarz­hu­mo­ri­gen Fra­gen à la „Wie stirbt ein Metz­ger? – Er springt über die Klinge.“ Nur Karl scheint nicht in der Lage zu sein, diese Fra­gen beant­wor­ten zu kön­nen, was Homer süf­fi­sant Karls Intel­li­genz in Frage stel­len lässt. Homers Schick­sal ist am Ende enger mit dem von Karl ver­knüpft, als anfangs ange­nom­men wer­den kann.

Selbst Neben­fi­gu­ren wie Karls Schü­ler im Knast bekom­men eine gewisse Tiefe, beson­ders durch die Fra­gen und Ant­wor­ten, die eine Menge über die Men­schen aus­sa­gen kön­nen. Als Karl sein Fahr­rad repa­rie­ren muss, trifft er auf einen phi­lo­so­phisch anmu­ten­den Fahr­rad­mon­teur: „Ein Mensch, der immer was braucht, ist eben auch ein Mensch, dem immer was fehlt“, sagt er zu Karl, auf des­sen Aus­sage hin, dass er etwas brau­che – natür­lich, denn jeder brau­che etwas, wenn er zum Bei­spiel in einen Fahr­rad­la­den gehe.

Und wel­che Rolle spielt Karo­line? Sie wird in Karls Leben gezo­gen – unwill­kür­lich und plötz­lich. Ganz unver­mit­telt schreibt er ihr, löst mit jeder Mail, jedem wei­te­ren Gespräch und Gedan­ken­aus­tausch bei ihr etwas aus und berei­chert ihr Leben. Doch genauso plötz­lich ist er wie­der weg, Stille und Schwei­gen hin­ter­las­sen ein Loch, wo vor­her noch nichts war, wo ein Loch hätte Platz neh­men kön­nen. Und das führt mich zum nächs­ten Punkt:

Ach Karl, ey…

Karl Löf­fel­hans hat mich auf vie­len Ebe­nen rat­los zurück­ge­las­sen. Sein Wunsch nach Ver­än­de­rung ist offen­bar inner­lich der­art groß, dass er sehr viel in Bewe­gung setzt und am Ende alles Gute in sei­nem Leben mani­pu­liert, ohne dass er sich des­sen unbe­dingt so bewusst sein mag.

(Die­ser Abschnitt ist lei­der nicht gänz­lich spoi­ler­frei, weil ich genauer schil­dern möchte, was mich an Karl so gestört hat. Ich ver­su­che aber nicht zu kon­kret zu werden.)

Sel­ten zeigt Karl sich sei­ner Frau gegen­über fair. Sie und der gemein­same Sohn Linus schei­nen ihr Leben zu füh­ren, Karl seins. Er küm­mert sich kaum, aber wenn, dann wird akri­bisch geschil­dert, was er zum Bei­spiel alles groß­ar­tig in der Küche auf­ge­räumt hat. Die Unzu­frie­den­heit sei­ner Frau spie­gelt seine Unzu­frie­den­heit spie­gelt ihre Unzu­frie­den­heit… und dazu kommt noch eine voll­kom­men unmög­li­che Kom­mu­ni­ka­tion. Aber was am schlimms­ten ist: Es ist Karl voll­kom­men bewusst und er han­delt den­noch so und nicht anders.

„Es war nach fünf, als Karl den Schlüs­sel in die Haus­tür steckte. Er wusste, dass Lydia um die Uhr­zeit gestresst sein konnte. Die Vor­be­rei­tun­gen des Abend­essens, ein quen­geln­der Linus und die stille Ver­är­ge­rung dar­über, dass Karl deut­lich spä­ter nach Hause kam als gedacht, wenn nicht sogar als abgesprochen.“

Eine Situa­tion mit sei­nem pfle­ge­be­dürf­ti­gen Vater ist mir beson­ders in Erin­ne­rung geblie­ben (ein­mal abge­se­hen davon, dass es grund­sätz­lich schon frag­wür­dig ist, warum Karl sich bei so viel Unlust über­haupt so häu­fig zu sei­nem Vater schleppt – sein ein­zi­ger Antrieb ist abso­lut ego­is­tisch, denn er tut es nur, weil er sich schul­dig fühlt, wenn er es nicht tut): Sei­nem Vater, der eben­falls Karl heißt, ist nicht nach Besuch, er bit­tet sei­nen Sohn, wie­der zu gehen. Das, was wir bis­her über ihn erfah­ren haben, zeigt, dass diese offene Bitte unge­wöhn­lich für ihn ist. Aber Karl emp­fin­det es als Raus­schmiss und denkt, dass sein Vater doch dank­bar für sei­nen Besuch sein müsste. Diese Aus­sage fand ich aus­ge­spro­chen unpas­send, ich-bezo­gen und alles andere als fair dem Vater gegen­über, der natür­lich in sei­nem Zim­mer auch seine Ruhe haben darf. Aber gut…

Karls Ver­hal­ten ist selbst­zer­stö­re­risch – in der zwi­schen­mensch­li­chen Bezie­hung, aber auch tat­säch­lich, wie bei einem bösen Fahr­rad­un­fall, des­sen Aus­gang er durch eine hals­bre­che­ri­sche Fahrt her­aus­for­dert. Und nicht nur zer­stö­re­risch, son­dern auch selbst­süch­tig, unüber­legt und dumm ist seine nächt­li­che Tat, die… aber das würde wirk­lich zu viel spoilern.

Und nicht zuletzt Karls Ver­hal­ten Karo­line gegen­über. Er erzählt ihr nie auch nur ein Wort von sei­ner Fami­lie, lässt sie immer im Glau­ben, er sei unge­bun­den. Und am Ende, als sie sich tref­fen wol­len und ein durch ihn ver­schul­de­ter Unfall gesche­hen ist, lässt er sie war­ten und war­ten, schreibt keine Zeile, dass er nicht kom­men wird, etwas Unvor­her­ge­se­he­nes gesche­hen ist. Er liest ihre Nach­richt, in der sie schreibt, wie sie gewar­tet hat. Aber er igno­riert dies, suhlt sich in sei­ner Schuld, sei­nem Selbst­mit­leid und denkt dabei offen­bar kein Stück an Karo­line und ihre Gefühle – und wenn, dann nur, um sich selbst noch schlech­ter zu fühlen.

Stil­fra­gen und Gedankenfinessen

Kai Weyand liest sei­nen Roman selbst vor. Dabei lau­schen Zuhö­re­rIn­nen offen­sicht­lich kei­nem pro­fes­sio­nel­len Spre­cher, die Stimme ist zu mono­ton, zu wenig poin­tiert. Doch dar­über kann man gut hin­weg­hö­ren und man gewöhnt sich daran. Irgend­wann fand ich es sogar pas­send, wie Weyand gemäch­lich seine ruhige Geschichte vorlas.

„Es war nicht so, dass [...]“-For­mu­lie­run­gen durch­zie­hen den Text, ein Stil, mit dem ich mich nicht anfreun­den konnte, der mich bei der drit­ten Wie­der­ho­lung in einem Absatz eher genervt hat, als dass ich es als sti­lis­tisch gelun­gen anse­hen konnte.

Dafür hat der Text auch viele Stär­ken. Gedan­ken­gänge, die begeis­tern, Über­le­gun­gen, die fas­zi­nie­ren, phi­lo­so­phi­sche Raf­fi­nes­sen und gram­ma­ti­ka­li­sche Künste. Ein Beispiel:

„Wenn man ver­liebt ist, star­tet man zusam­men in den Tag. Und wenn man liebt, bemüht man sich, den Tag wenigs­tens zusam­men zu been­den. Jeden­falls ist es doch so, dass eine Silbe ver­lo­ren geht, wenn das Ver­liebt­sein geht und die Liebe kommt. Und die Wahr­heit lau­tet: Ein­sam wird nur, wem etwas ver­lo­ren gegan­gen ist.“

Und so lässt mich „Die Ent­de­ckung der Flieh­kraft“ mit durch­misch­ten Gefüh­len zurück. Eine ruhige Geschichte mit sehr viel Tief­gang, sehr viel anstren­gen­dem Prot­ago­nis­ten, lie­be­vol­len und star­ken Figu­ren am Rand und groß­ar­ti­gen Gedan­ken­gän­gen. Vie­les davon hat den Roman getra­gen – der anstren­gende Prot­ago­nist Karl Löf­fel­hans hat sich aber red­lich Mühe gege­ben, so dass ich das Hör­buch ein paar Mal fast nicht mehr been­den wollte…

Die Ent­de­ckung der Flieh­kraft. Autor und Spre­cher: Kai Weyand. Griot Hör­buch Ver­lag. 2019.

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