Die Lippen so rot vom Blut

by Geschichtenerzähler Adrian

Mit den Illus­tra­tio­nen von Col­leen Doran wurde der Kurz­ge­schichte von Neil Gai­man „Snow, Glass, App­les“ von 1994 neues Leben ein­ge­haucht. Nun bringt Split­ter diese schau­rige Neu-Inter­pre­ta­tion eines Kult­mär­chens als Comic auch in deut­scher Spra­che an die Lese­rin­nen und Leser. Geschich­ten­er­zäh­ler Adrian ist darin eingetaucht.

Einige Zeit, nach­dem seine Frau im Kind­bett ver­starb, trifft der König auf eine junge und hüb­sche, blonde Frau, mit der er nicht nur eine Affäre beginnt, son­dern diese kurz dar­auf zu sei­ner Köni­gin macht. In ihrem Heim ange­kom­men, lernt die junge Köni­gin auch bald schon die Toch­ter des Königs ken­nen: ein jun­ges Mäd­chen mit schwar­zen Haa­ren und wei­ßer Haut.

Jedoch ist die­ses erste Zusam­men­tref­fen nicht von Erfolg gekrönt, denn kaum haben sich die bei­den jun­gen Frauen ein­an­der ange­nä­hert, ver­senkt die junge Prin­zes­sin auch schon ihre schar­fen, spit­zen Zähne im Hand­bal­len der Köni­gin und labt sich an ihrem Blut. Als kurz dar­auf der König, aus­ge­laugt und bei­nah blut­leer, stirbt, ver­schwin­det die Prin­zes­sin aus dem Schloss. Die Köni­gin, um das Wesen ihrer Stief­toch­ter wis­send, schickt ihr Häscher auf den Hals, um ihr Herz zu holen.

Alt­be­kannt und doch neu

So bekannt die Geschichte um die Prin­zes­sin mit den Lip­pen so rot wie Blut, der Haut so weiß wie Schnee und dem Haar so schwarz wie Eben­holz ist, ebenso ein­ge­staubt ist sie. Viele Neu­ver­fil­mun­gen und Umin­ter­pre­ta­tio­nen haben sich schon daran ver­sucht, die­sen Staub weg­zu­bla­sen. Jedoch läuft es stets auf das­selbe hin­aus: Prin­zes­sin gut, Köni­gin böse.

Umso erfri­schen­der ist der Ansatz, den Gai­man mit sei­ner Geschichte ver­folgt. Nicht nur, dass er die Prin­zes­sin zu einer blut­lüs­ter­nen Vam­pi­rin macht, son­dern es wer­den auch gleich noch die Rol­len ver­tauscht. Hier ist nicht die Köni­gin die Böse, son­dern das schein­bar unschul­dige, blei­che Mäd­chen. Dabei nimmt Gai­man keine Hand vor den Mund und spielt offen mit Tabus, wie etwa Nekro­phi­lie – als die sexu­elle Anzie­hung zu Toten – und all­ge­mein Sexua­li­tät und Nacktheit.

Mär­chen­hafte Bilder

Col­leen Doran macht kein Geheim­nis dar­aus, dass sie sich bei ihren Bil­dern stark an dem iri­schen Künst­ler Henry Clarke hat inspi­rie­ren las­sen. Ihre Dank­sa­gung gilt die­sem. Mit eben jener Zei­chen­art trifft Doran genau das Gefühl, das die Geschichte ver­mit­teln will: mär­chen­haft, erwach­sen und mit einer bei­nah tän­ze­ri­schen Dynamik.

Doran hat in die­sem Comic wei­test­ge­hend auf die für Comics eigent­lich typi­schen Panel­rah­men ver­zich­tet. Nur in kur­zen Sequen­zen kehrt das Design zu der bekann­ten Comic­op­tik zurück. Die meis­ten Sei­ten ähneln einer Col­lage aus Situa­tio­nen, die zum Text pas­sen. Dabei flie­ßen die Bil­der inein­an­der über und den­noch blei­ben die Illus­tra­tio­nen in ihrer Rei­hen­folge ver­ständ­lich und nach­voll­zieh­bar. Es erge­ben sich ganz­sei­tige Gesamt­bil­der in einem ele­gan­ten und detail­ver­lieb­ten Design, die in das Gesche­hen hin­ein­zie­hen. Dies erzeugt einen stark immer­si­ven Flow beim Lesen und Betrach­ten der Sei­ten. Dar­über hin­aus gelingt es Doran auch düs­tere Sze­na­rien mit ent­spre­chen­den Schat­ten und Farb­ge­bung zu inszenieren.

Aus alt mach neu

Blät­tert man den Comic „Snow, Glass, App­les“ durch und ach­tet ein­zig auf die Bil­der, ist jede col­la­gen­ähn­li­che Seite gleich einem Kunst­werk, das man sich ver­grö­ßert an die Wand hän­gen könnte. Jede die­ser Col­la­gen trägt so viel Dyna­mik und Far­ben­pracht in sich, dass sich das Rein­schauen immer wie­der lohnt.

Der Geschichte von Gai­man gelingt es, mit einer Neu-Inter­pre­ta­tion eines Kult­mär­chens einen über­zeu­gen­den Schauer zu erzeu­gen und Mit­ge­fühl für die Köni­gin zu ent­wi­ckeln. Ein in allen Aspek­ten gelun­ge­ner Comic, den ich allen nur wärms­tens ans Herz legen kann.

Snow, Glass, App­les. Autor: Neil Gai­man. Illus­tra­tion & Adap­tion: Col­leen Doran. Über­set­zung: Ger­linde Alt­hoff. Split­ter. 2021.

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