Die Meisenkinder

by Bücherstadt Kurier

Im Nor­den gab es einen Wald, in wel­chem die Tiere so zahl­reich wie die Wol­ken eines Regen­tags waren. Nahe am Rand stand eine alte Eiche, in deren Geäst zwei Mei­sen­pär­chen brü­te­ten, von denen eines eine blaue und das andere eine schwarze Haube trug. In bei­den Nes­tern schlüpfte jeweils ein Junges.
Mitt­ler­weile waren diese schon so weit, dass sie ihr Heim ver­las­sen konn­ten, um von Ast zu Ast zu hüp­fen. Die klei­nen Mei­sen ver­such­ten, sich bei ihren Flug­ver­su­chen zu über­trump­fen. Flat­terte eine zu einem Ast, suchte sich die andere eine grö­ßere Distanz. Jede wollte der bes­sere Flie­ger sein, keine wollte der ande­ren den Sieg überlassen.
Erst als der Wind stär­ker wurde, zudem erste Trop­fen den Weg zwi­schen die Blät­tern fan­den, bemerk­ten die jun­gen Mei­sen den Wet­ter­um­schwung. Die Sonne hatte sich voll­stän­dig hin­ter eine Wol­ken­wand zurück­ge­zo­gen, aus wel­cher nun immer mehr Regen her­ab­fiel. Der auf­kom­mende Wind schob sich den klei­nen Vögeln unter die Federn, was die Flug­übun­gen für die unge­üb­ten Mei­sen­jun­gen immer schwie­ri­ger gestal­tete. Geschützt vom Blät­ter­dach der alten Eiche spran­gen und glit­ten sie aber wei­ter von Ast zu Ast.
Mitt­ler­weile sand­ten die Wol­ken kübel­weise Was­ser hin­un­ter, wor­aus der ein­zelne Trop­fen sich nicht mehr erken­nen ließ. Beide Vogel­kin­der waren nass bis auf die Haut, aber sie woll­ten nicht zurück in ihre Nes­ter. Statt­des­sen tru­gen sie ihren Wett­kampf wei­ter aus. Obwohl sie sich bemüh­ten, gelan­gen ihnen viele Flug­ma­nö­ver nicht. Ihre Mus­ku­la­tur war noch zu schwach, um all die Übun­gen aus­zu­füh­ren, zu wel­chen sich die jun­gen Mei­sen bereits beru­fen fühl­ten. In ihrem Eifer nah­men sie ihre Umge­bung kaum noch wahr. Der Regen pras­selte wei­ter auf sie hinab, wäh­rend der Wind die Äste zit­tern ließ.
Gerade öff­nete die junge Blau­meise ihre Flü­gel, visierte dabei das nächste Ziel an, als sich das Licht um sie noch etwas wei­ter ver­dun­kelte. Der kleine Vogel sprang instink­tiv los, hörte nur noch ein lei­ses Klop­fen. Nach­dem die Kral­len wie­der sicher in die Eichen­rinde geschla­gen hat­ten, erkannte die kleine Meise eine große Krähe, wel­che sich nun, nach dem miss­glück­ten Ver­such sie zu fan­gen, dem ande­ren Jung­vo­gel zuwandte. Auch die Kohl­meise brachte sich durch einen Sprung in Sicher­heit, doch nun saßen die bei­den Jung­vö­gel auf dem­sel­ben Ast. Ihnen gegen­über saß die Krähe, wel­che die klei­nen Mei­sen als leicht zu fan­gen­des Abend­essen betrachtete.
Der große Vogel legte den Kopf schief, bei­nah so, als würde er die bei­den Klei­nen auf­for­dern, doch ein­fach still sit­zen­zu­blei­ben. Nur von einem Kräch­zen beglei­tet erhob sich die Krähe und glitt auf den Ast mit den bei­den Mei­sen zu. Erneut ver­such­ten die jun­gen Vögel sich zu ret­ten, doch durch das Trai­ning waren ihre Flü­gel geschwächt. Mit schmer­zen­den Mus­keln spran­gen beide Mei­sen der Krähe aus dem Weg, woll­ten im tie­fe­ren Geäst lan­den. Aller­dings über­zog Moos die Rinde, hatte dabei den Regen in sich auf­ge­nom­men und bot so ihren Kral­len keine Mög­lich­keit einer siche­ren Landung.
Beide Mei­sen­kin­der ver­such­ten sich auf dem unsi­che­ren Unter­grund zu hal­ten, ihre Flü­gel schlu­gen bei­nah so schnell wie ihre Her­zen, doch das Moos löste sich von der Rinde. Erschöpft sowie unfä­hig, den star­ken Böen zu wider­ste­hen, fie­len die Jung­vö­gel hinab auf den Wald­bo­den. Die­ser war eben­falls durch­tränkt und auf­ge­quol­len. So bot er den Bruch­pi­lo­ten eine wei­che Lan­dung, wenn auch ihre Federn zer­zaust wurden.
Die Krähe segelte ebenso ein paar Äste hinab, besah sich die bei­den, denn sie wollte keine Flucht dul­den. Auf dem Boden beweg­ten sich die Mei­sen­kin­der zu Fuß nur lang­sam. Wäh­rend sie flüch­te­ten, fan­den sie den Ein­gang eines Mäu­se­baus, in wel­chen die bei­den hin­ein­husch­ten. In der klam­men Dun­kel­heit harr­ten sie anein­an­der­ge­ku­schelt aus. Nach einer Weile wag­ten sie sich wie­der her­aus, von der Krähe war zu die­sem Zeit­punkt nichts mehr zu sehen. Aber durch die gemein­same Flucht sowie die Zeit im Mäu­se­loch waren die bei­den Mei­sen Freunde geworden.

Sanna Ren­ner, Twit­ter: @chaoskraehe
Illus­tra­tio­nen: Buch­stap­le­rin Maike 

Ein Bei­trag zum Pro­jekt #lit­kin­der. Hier fin­det ihr alle Bei­träge. Diese Geschichte ent­stand außer­dem zum Bild Nr. 25 des Pro­jekts „100 Bil­der – 100 Geschich­ten”.

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Adventskalender 2017: Türchen 11 – Bücherstadt Kurier 11. Dezember 2017 - 8:01

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